Protokoll der Sitzung vom 09.11.2011

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Für die CDU-Fraktion spricht Herr Abg. Stefan Teufel.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich – auch im Namen der CDU-Fraktion – der Liga der freien Wohl fahrtspflege ein herzliches Dankeschön für den sehr interes santen und auch informativen Bericht über das Jahr 2010 aus sprechen. Dieser Bericht und die daraus resultierenden Er kenntnisse dienen auch uns als wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der Sozialpsychiatrischen Dienste.

Die Zahl psychischer Erkrankungen nimmt in unserer Zeit zu. Die Krankenkassen in Deutschland konstatieren aktuell ein deutliches Ansteigen der Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychi scher Erkrankungen.

Die ständig steigenden Behandlungskosten betragen in der EU mittlerweile 3 bis 4 % des Bruttosozialprodukts – mit steigen

der Tendenz. Psychische Störungen zählen schon heute zu den Hauptursachen der Frühverrentung. Dass nur 8 % aller Be troffenen in Baden-Württemberg ihren Lebensunterhalt im Rahmen einer eigenen Berufs- und Erwerbstätigkeit bestrei ten konnten, zählt zu den eklatantesten Abweichungen im Land: Bei den Menschen ohne psychische Beeinträchtigun gen sind dies in Baden-Württemberg ca. 78 %. Diese Zahl macht eindrucksvoll deutlich, dass psychisch kranke Men schen auch in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs vom Ar beitsmarkt leider nicht nachgefragt werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, während ein Herz infarkt noch als gesellschaftsfähig eingestuft wird, redet man über eine Depression besser gar nicht. Psychische Erkrankun gen unterliegen noch immer einem Tabu. Das Wissen der Be völkerung über psychische Krankheiten und über den Lebens alltag psychisch kranker Menschen muss weiter gefördert wer den, damit aus Erkenntnis Verständnis wird.

Der Begriff „Burn-out“ hat sich mittlerweile in den deutschen Wortschatz eingebürgert und gehört leider immer häufiger in unser Alltagsleben. Das Gefährliche am Burn-out ist, dass sich diese Erkrankung schleichend entwickelt. Wir brauchen mehr Informationen und Aufklärung zu psychischen Erkrankungen. Wir müssen das noch immer bestehende gesellschaftliche Ta bu aufbrechen und Vorurteile abbauen. Diese Notwendigkeit unterstreichen im Teil 2 des Berichts der Liga die Blitzlichter, aber auch die sehr interessanten Erfahrungsberichte.

Es ist daher von unschätzbarem Vorteil, dass es in Deutsch land und auch hier in Baden-Württemberg mittlerweile ein hoch differenziertes und wirkungsvolles medizinisches, aber auch sozialpsychiatrisches Hilfesystem gibt. So sind wir mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst auf dem richtigen Weg. Er begleitet Menschen mit psychischen Erkrankungen, die mit ihrem alltäglichen Leben nur schwer zurechtkommen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes begleiten diese Menschen mit hilfreichen Gesprä chen, aber auch mit hilfreichen Kontakten. Bei einigen Be troffenen führen sie auch eine Soziotherapie als Leistung der Krankenkassen durch.

Ich bin der Meinung, dass sich auch die Krankenkassen die ser Herausforderung noch stärker annehmen müssen, z. B. über Satzungsleistungen, ebenso wie jede Krankenkasse auch das Thema Soziopsychiatrie noch weiter betonen kann.

Außerdem müssen weiter gehende Hilfen – wie z. B psychi atrische Pflege, hauswirtschaftliche Hilfen, Angebote im be treuten Einzelwohnen, Plätze in Wohngemeinschaften, Wohn heimen und Angebote in der psychiatrischen Familienpflege – intensiviert werden. Diese Angebote ermöglichen den Be troffenen, so weit wie möglich selbstständig zu arbeiten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ambulante, gemein denahe und lebensfeldzentrierte Angebote können diesen An forderungen, aber auch diesen Herausforderungen wirkungs voll begegnen. Deshalb steht für die CDU-Fraktion fest, den sozialrechtlich verankerten und vielerorts propagierten Grund satz „ambulant vor stationär“ noch stärker zu betonen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der Grünen und der SPD)

Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Wahl.

Herr Präsident, verehrte Kollegin nen und Kollegen! Es bedurfte erst des Freitods des Torwarts Robert Enke vor ein paar Jahren,

(Zuruf von der CDU: Vor zwei Jahren!)

damit eine breite öffentliche Debatte zum Thema „Überleben mit psychischen Erkrankungen“ stattfinden konnte. Erst durch diesen Vorfall, diesen prominenten Freitod, gelangte über die Fachdiskussion hinaus das Bewusstsein in die breite öffentli che Diskussion, dass psychische Erkrankungen jeden treffen können. Sie beeinträchtigen nicht nur die Gesundheit, sondern auch die soziale Integration; sie verursachen häufig Probleme auf dem Arbeitsmarkt, und natürlich finden sie sich auch in der Kriminalitätsstatistik wieder.

In der Gesundheitsstatistik ist eine massive Zunahme der Zahl psychisch Erkrankter festzustellen. Nach Angaben der BKK entfallen auf 100 beschäftigte Pflichtmitglieder pro Jahr mitt lerweile 178 Tage, für die eine Erwerbsunfähigkeit festgestellt wurde. Das ist die viertgrößte Gruppe. Die Zahl der Krank heitstage im Zusammenhang mit dem Burn-out-Syndrom – Kollege Teufel hat es gerade angesprochen – hat sich seit dem Jahr 2004 verzehnfacht.

An dieser Stelle ist vor allem festzustellen, dass überwiegend Männer und Frauen in der Mitte ihres Lebens davon betrof fen sind. Es sind Menschen, die von Konflikten um die Ver einbarkeit von Familie und Beruf betroffen sind, Menschen, die im täglichen Arbeitsleben unter Druck stehen oder die von auseinanderfallenden Karriereplanungen betroffen sind. Es sind auch Menschen, die von Überlastungen betroffen sind. Das letzte Beispiel – auch wieder aus dem Fußball – zeigt, dass dieses Problem auch an Prominenten nicht vorbeigeht: Das konnte man an Ralf Rangnick sehen.

Psychische Erkrankungen sind nicht einfach zu heilen. Zum einen ist schon die Dauer der Akutbehandlung relativ lang, und zum anderen kann man bei Patienten, bei denen eine Akutbehandlung stattgefunden hat, oft nicht von einer Be schwerdefreiheit sprechen. Oft geht die festgestellte Krank heit dann in eine Behinderung über.

Es ist, glaube ich, klar: Wir brauchen ein bedarfsgerechtes Netz mit ambulanter Versorgung vor allem durch Psychiater und Psychotherapeuten sowie teilstationäre und stationäre Be handlungsplätze, und zwar wohnortnah. Wir brauchen aber auch eine Unterstützungsstruktur, die sich neben der Akutbe handlung auch um die Alltagsprobleme der erkrankten bzw. behinderten Menschen kümmert. Das sind die Sozialpsychi atrischen Dienste.

Es ist besonders wichtig, dass wir all die genannten Hilfen zu sammen brauchen. Was in Baden-Württemberg noch nicht vorliegt, ist ein erkennbares und geregeltes Gesamtkonzept. Das werden wir mit dem Landespsychiatriegesetz schaffen.

Wir wollen dabei nicht – das ist ganz wichtig – eine Hilfeart gegen die andere ausspielen. In bestimmten Krankheitspha sen geht es eben nur mit einer stationären Behandlung; da kön nen ambulante Hilfen so gut sein, wie sie wollen. Aber klar ist auch: Wenn wir nicht genügend ambulante Hilfen zur Ver fügung haben, dann wird in vielen Fällen eine stationäre Be

handlung eingeleitet. Sie dauert länger, als es eigentlich not wendig ist, und wenn sie nicht stattfindet – gerade wurde auch das Thema Kriminalität angesprochen –, gibt es auch Fälle von Straffälligkeiten, sodass sich ein Strafvollzug anschließt.

Ein solches Vorgehen ist erstens viel teurer, zweitens auch nicht im Sinne der Patienten und drittens auch nicht gut für die öffentlichen Kassen. Denn man muss auch sagen: Die sta tionäre Versorgung ist im Regelfall immer die am stärksten belastende und die teuerste.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, freue ich mich, dass wir uns hier in der Zielsetzung einig sind.

Aber man muss schon darauf hinweisen, dass die im Jahr 2003 bei den Sozialpsychiatrischen Diensten vorgenommenen Mit telkürzungen von 4 Millionen € auf 2 Millionen € schon hart gewesen sind, zumal es trotz steigender Personalkosten und trotz einer erheblichen Fallzahlsteigerung – ich hatte vorhin die Verzehnfachung der Zahl von Burn-out-Fällen seit 2004 erwähnt – keine Anpassung gegeben hat. Wenn Sie, Herr Teu fel, dann sagen, wir seien auf dem richtigen Weg, muss ich, auch wenn ich Ihnen in vielem zustimmen kann, sagen: Nein, wir waren in den letzten Jahren eben nicht auf dem richtigen Weg, sondern auf dem falschen Weg. Das versuchen wir jetzt zu beheben.

Auch die Argumentation, die von Ihnen gerade vorgebracht worden ist, die Leistungsansprüche gemäß dem Krankenhaus versicherungsgesetz – damals, als gekürzt wurde – würden die Sozialpsychiatrischen Dienste teilweise entlasten, war falsch, weil die Grundversorgung oftmals nicht durch das SGB V ab gedeckt war. Ich nenne als Stichworte die Beratung Hilfesu chender, vorsorgende Hilfe, nachsorgende Hilfe, Durchfüh rung von Hausbesuchen. Ich könnte diese Liste weiterführen.

Ich will zusammenfassen – ich muss auch allmählich zum Schluss kommen –: Der Jahresbericht der Sozialpsychiatri schen Dienste in Baden-Württemberg 2010 macht deutlich, dass wir seitens des Landes eine höhere Verantwortung für den Umgang mit psychisch Erkrankten wahrnehmen müssen: zum einen in der verbindlichen Koordination, zum anderen aber auch in der Finanzierung. Da sind wir – das hat Manne Lucha gesagt – auf dem richtigen Weg. Auch das Landespsy chiatriegesetz wird kommen; auch da sind wir dran.

Dabei wollen wir aber – das ist ganz wichtig – alle beteilig ten Leistungsträger – das sind vor allem die Krankenkassen, die Rentenversicherungsträger und die Kommunen – mit auf den Weg nehmen; denn ohne sie ist kein Gesamtkonzept mög lich.

Last, but not least – auch das ist ein Punkt, der kurz erwähnt werden muss – brauchen wir eine stärkere Förderung der ge sundheitlichen Prävention. Da ist es – das muss man schon sagen – aus unserer Sicht schon wichtig, dass im Jahr 2013 auch auf Bundesebene Schwarz-Gelb sein Ende findet. Denn das Präventionsgesetz wird von Schwarz-Gelb verhindert.

Ich denke, in dieser Richtung werden wir weiterarbeiten. Wir fangen aber hier schon einmal an.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Für die Fraktion der FDP/DVP spricht Herr Abg. Haußmann.

Sehr geehrter Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch die FDP/DVP-Landtagsfraktion möchte sich ganz herzlich bei der Liga der freien Wohlfahrts pflege für diesen Bericht bedanken. Wir möchten uns dem Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialpsy chiatrischen Dienste und deren Träger gern anschließen. Der Bericht schließt in seinen Dank ausdrücklich die Krankenkas sen, das Land Baden-Württemberg und die Kommunen mit ein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Thema – ich glaube, da sind wir uns in allen Fraktionen einig – ist von besonderer Tragweite für die betroffenen Menschen und für ihre Ange hörigen, aber natürlich auch für das Umfeld. Das gilt ganz be sonders für den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Wenn man sieht, dass psychische Erkrankungen inzwischen mit einem Anteil von 12 % an vierter Stelle aller Erkrankun gen liegen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit führen, dann wird klar, dass das kein Randthema ist, sondern dass das Thema in der Gesellschaft angekommen ist.

Erfreulich ist es, dass die Dauer der stationären Behandlun gen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den letzten 20 Jahren mehr als halbiert wurde. Die Aufenthaltsdauer im sta tionären Bereich betrug früher über 78 Tage pro Fall. Inzwi schen liegt sie bei 38,5 Tagen.

Herr Lucha, Sie haben auf die Steigerung um 44 % bei der In anspruchnahme der Grundversorgung hingewiesen. Im letz ten Jahr betrug die Zahl der Klienten 23 700. Davon sind 58 % Frauen; 37 % der Betroffenen haben einen Migrationshinter grund. Ich glaube, auch das ist ein ganz wichtiger Aspekt.

Man hat inzwischen bei etwa der Hälfte aller Betroffenen auch die soziodemografischen Daten erhoben. Das wurde schon an gesprochen. Nur 8 % dieser Personen bestreiten ihren Lebens unterhalt selbst. 23 % der Betroffenen erhalten als Langzeit arbeitslose ALG II. Aus diesen Zahlen wird klar, dass wir auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, im Bereich der Arbeits marktförderung noch einiges tun sollten.

Diese Debatte hat wieder ein wenig den Charakter einer An kündigungsdebatte. Dies stellt sich so dar, dass Sie immer Dinge ankündigen und wir dann darauf warten. Ich erinnere Sie an Ihren Koalitionsvertrag, der bereits die Impulse ankün digt, die nun im Bericht gefordert werden. Darin steht:

Wir wollen mit einem Gesetz für psychisch Kranke (Lan despsychiatriegesetz) erstmals Hilfen und Schutzmaßnah men für psychisch kranke Personen in zusammengeführ ter Form gesetzlich regeln und die Voraussetzungen für deren chancengleiche Beteiligung an der Gesundheitssi cherung schaffen.

Insofern würden wir jetzt gern die Details erfahren. Sie kün digen das an. Wir warten darauf.

Wir hatten Ende Oktober selbst einen Antrag zum Thema Kin der- und Jugendpsychiatrie gestellt, in dem wir Fragen gestellt haben, damit wir das Thema diskutieren können. Aber Sie ha

ben die Debatte jetzt schnell ins Plenum gebracht, weil Sie frohlocken und ankündigen, dass Sie Gelder bereitstellen.

Ich darf daran erinnern, dass wir um einen Bericht gebeten haben, wie sich die Zahlen der Behandlungsfälle in der Kin der- und Jugendpsychiatrie und in der Psychotherapie in den letzten fünf Jahren im niedergelassenen Bereich, in teilstatio nären Angeboten sowie im vollstationären Bereich entwickelt haben. Dann haben wir gefragt, wie sich die Zahl der nieder gelassenen Ärzte und Psychotherapeuten sowie die teil- und vollstationären Angebote bei kreisweiter Betrachtung entwi ckelt haben.

Das heißt, wir haben die Fragen gestellt, die wir zum Anlass der Diskussion nehmen wollten.

(Abg. Muhterem Aras GRÜNE: Und wir ziehen Schlüsse daraus!)