Protokoll der Sitzung vom 11.04.2013

indem Sie hier immer wieder verfassungsrechtliche Beden ken vortragen. Ihre verfassungsrechtlichen Bedenken sind oh ne Substanz.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Haben wir schon einmal ein Gesetz mit „soll“ gehabt?)

Denn das, was wir machen, ist ein Appell des Gesetzgebers. Er steht im Einklang mit unserer Verfassung. Er steht gerade nicht im Konflikt mit den Rechten der Parteien, ihre Wahllis ten selbstständig aufzustellen. Denn es ist ein klares Signal des Gesetzgebers. Wir richten uns an die Parteien und die Wählervereinigungen, mindestens die Hälfte der Plätze für Frauen vorzusehen.

Dieser Appell steht nicht im Konflikt mit dem Recht der Bür ger auf Wahlfreiheit. Denn unser Kommunalwahlrecht kennt aus gutem Grund Kumulieren und Panaschieren. Da haben die Bürgerinnen und Bürger schon heute gute Möglichkeiten.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Da hatten sie schon immer die Möglichkeit, Akzente zu setzen! – Gegenruf des Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Das wollen wir ja! – Gegenruf der Abg. Friedlinde Gurr- Hirsch CDU: Das haben sie nicht genutzt!)

Kurzum: Wir meinen, mit dem Gesetz kommen wir heute der Stärkung der Demokratie und einer Verbesserung der Beteili gungsrechte insbesondere junger Menschen nach. Das ist ein guter Tag für unser Land.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Fried linde Gurr-Hirsch CDU: So ein komisches Gesetz!)

Für die SPD-Fraktion spricht Kolle ge Sakellariou.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle gen! Wir sprechen über das Gesetz zur Änderung kommunal wahlrechtlicher und gemeindehaushaltsrechtlicher Vorschrif ten. Ich will mit dem zentralen Thema anfangen, mit dem Kol lege Schwarz aufgehört hat, nämlich mit dem Änderungsan trag zur paritätischen Besetzung von Listen mittels einer Soll vorschrift mit appellativem Charakter.

Ich will etwas vorwegschicken, was schon gesagt wurde, näm lich dass über das Ziel, den Frauenanteil zu erhöhen, hier Ein vernehmen herrscht.

Ich möchte heute auch einmal in die Geschichte gehen. Im Jahr 1891 hat die SPD das Frauenwahlrecht in ihr Programm aufgenommen. Im Jahr 1895 gab es die erste Parlamentsde batte im Reichstag, bei der August Bebel für die SPD das Frauenwahlrecht gefordert hat. Im Protokoll von vor 118 Jah ren ist ob dieser Forderung der SPD vermerkt – Zitat –: „Gro ße Heiterkeit“.

Es hat sich etwas getan, und es hat sich seitdem sehr viel ver ändert. Wie gesagt, heute beklagen wir den Frauenanteil von 22 % in Gemeinderäten in Baden-Württemberg, wobei man ehrlicherweise dazusagen muss, dass das auch etwas mit dem Organisationsgrad von Frauen in politischen Parteien zu tun hat. Da gibt es bestimmte Beziehungen, die man ebenfalls be rücksichtigen muss.

Der zweite Teil: Der erschreckend niedrige Anteil von Frau en in Kreistagen von 16 % ist bedenkenswert, vor allem weil dort Fragen betreffend Familien, Schülerbeförderung, Kran kenhaus, Abfallverwertung, die einen so geringen Frauenan teil nicht verdienen, behandelt werden. Aber auch da muss man natürlich rechnen. Wenn nahezu 40 % der Vertreter in Kreistagen Bürgermeister sind und davon über 90 % Männer, dann verschiebt das die Statistik bezogen auf den Frauenan teil erheblich.

(Beifall der Abg. Rosa Grünstein SPD)

Das muss man ebenfalls berücksichtigen, wenn man solche Zahlen diskutiert.

Richtig ist: Es gibt Probleme, Frauen als Bewerberinnen für kommunale Mandate zu gewinnen. Insofern war es uns ganz wichtig, in diesem Dilemma eine Lösung zu finden, die dem Ziel gerecht wird, mehr Frauen in die Kommunalparlamente zu bekommen – durch eine öffentliche Debatte, durch eine Debatte in den Parlamenten, in den Aufstellungsorganen –, die aber die verfassungsrechtlichen Grenzen berücksichtigt.

Es wäre niemandem geholfen, wenn das System, welches das Frauenwahlrecht letztlich erst ermöglicht hat – nämlich die Parteienfreiheit –, bei der Umsetzung eines Teilschritts durch Begrenzung von Parteirechten und der in Artikel 21 des Grundgesetzes verankerten Rechte wieder infrage gestellt würde.

Ich sage auch, warum ich da besonders empfindlich bin. Die SPD, die diese Idee vor 122 Jahren hatte, war in ihrer Ge schichte dreimal verboten: von 1878 bis 1890, von 1933 bis

1945 und von 1946 – durch die Zwangsvereinigung mit der KPD – bis 1989 in der DDR.

(Zuruf des Abg. Konrad Epple CDU)

Deswegen besteht der Grundsatz der Parteienfreiheit mit Ver fassungsrang, dass der Staat sich von Regelungen fernzuhal ten hat, die die Parteien sowohl inhaltlicher als auch personel ler Art treffen, letztlich zu Recht.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Thomas Blenke und Dieter Hillebrand CDU)

Ich meine, dass es uns mit dieser Vorschrift gelungen ist, bei den Aufstellungskonferenzen unter Einhaltung dieses Verfas sungsgrundsatzes die Debatte zu führen, die uns nicht minder wichtig ist und die wir brauchen, um dieses System in unse rem Sinn weiterzuentwickeln. Insofern finde ich die Lösung klug, vernünftig und hilfreich und nicht verfassungswidrig; sie ist also genau das, was wir wollen.

Der nächste Punkt ist die Frage der Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre. Auch das halten wir für eine vernünf tige und kluge Lösung. Alle Einwände, die es bislang gege ben hat, haben außer Acht gelassen, dass wir bereits in acht Bundesländern diese Möglichkeit haben, ab 16 Jahren zu wäh len. Es gibt überhaupt keine Probleme mit den dortigen Re gelungen, im Gegenteil.

Wenn man sieht, wie früh Jugendliche sich an Prozessen wie bildungspolitischen Fragen, Nahverkehr und Umweltschutz beteiligen wollen und mit welcher Begeisterung sie dabei sind, fällt es wirklich schwer, einem 16-Jährigen, der sehr engagiert ist, nicht das aktive Wahlrecht zu geben, auch wenn ihm das passive Wahlrecht noch nicht gewährt wird, was aus meiner Sicht schlüssig ist.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Deswegen und auch aus der Erfahrung heraus, die ich mit Ju gendlichen im Vergleich zu manchen Erwachsenen auch hier in diesem Raum gemacht habe, wenn Diskussionen mit Schul klassen anstehen und man Reizthemen, die unter Erwachse nen oft mit Schaum vor dem Mund diskutiert werden, mit 16- und 17-Jährigen diskutiert, sage ich: Man wundert sich, mit welcher Sachlichkeit und Entspanntheit solche Reizthemen, die hier nur wutentbrannt diskutiert werden, von Jugendlichen verhandelt werden.

Ich muss sagen, diese Altersgruppe ist diejenige, bei der es uns wichtig sein müsste, sie für politische Prozesse zu moti vieren und zu begeistern. Diese zwei Jahre von 16 bis 18 Jah ren sind der beste Zeitraum, gut motivierte junge Menschen mitzunehmen und sie so zu führen, dass sie aktive Staatsbür ger werden. Das ist uns mit diesem Gesetz gelungen.

Herzlichen Dank allen, die daran beteiligt waren.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Für die Fraktion der FDP/DVP spricht Kollege Professor Dr. Goll.

Herr Präsident, liebe Kolle ginnen und Kollegen! In der ersten Lesung haben wir uns schon über die Knackpunkte des Gesetzes unterhalten. Es bleibt im Wesentlichen dabei. Ich schicke voran: Bei durch

aus vorhandenen Sympathien zu einzelnen Teilen des Geset zes werden wir, die FDP/DVP-Fraktion, dieses Gesetz heute ablehnen, und zwar aus zwei Gründen. Ich gehe jetzt nur noch auf die zwei Gründe ein, weshalb wir letzten Endes ablehnen werden.

Der erste Grund ist das Thema „Doppelkandidatur in zwei Wahlkreisen bei Kreistagswahlen“. Da kann ich nur noch ein mal bekräftigen, dass ich es als eine wirklich sinnlose Aktion empfinde, diese Möglichkeit wieder aus dem Gesetz zu strei chen.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Es besteht kein Zweifel, dass die Möglichkeit, in zwei Wahl kreisen anzutreten, auch Möglichkeiten schafft, Listen attrak tiv zu gestalten, und übrigens auch Möglichkeiten, Frauen ver stärkt zu berücksichtigen. Das muss man wissen.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Genau! – Lachen der Abg. Andreas Schwarz und Charlotte Schneidewind-Hartnagel GRÜNE)

Ja, das ist ganz klar. Ich erlebe das hier öfter: Wenn Ihnen hier die Argumente ausgehen, dann sagen Sie entweder: „Wir wissen nicht Bescheid“, oder Sie fangen an zu lachen. Es fin det jedoch niemand ein Argument dagegen, dass man sich, wenn wenige Frauen zur Verfügung stehen, leichter tut, wenn man sie auf die Listen von zwei Wahlkreisen setzen kann.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr richtig!)

Das begreift eigentlich jeder. Das sollte man als Vorteil der bestehenden Regelung nicht einfach leugnen.

(Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: Das hat doch nicht zu einem höheren Frauenanteil geführt!)

Außerdem verfälscht diese Regelung auch nirgendwo einen Wählerwillen. Seien wir einmal ehrlich: Die Einteilung in Wahlkreise kennt fast keiner der Wähler bei einer Kreistags wahl. Der Wähler schaut auf die Liste und sieht Namen von Leuten, die er kennt, und von Leuten, die er nicht kennt. Wenn ein Mann oder eine Frau aus der Nachbargemeinde auf der Liste steht, den oder die er kennt, dann weiß er doch nicht, dass die Nachbargemeinde nicht mehr zum selben Wahlkreis gehört. Aber er kann sich unter der Liste natürlich mehr vor stellen. Es wird für ihn plastischer. Das war bisher eine gute Regelung.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr rich tig! Genau!)

Ich kann nur noch einmal sagen: Mir erschließt es sich nicht, dass man es auf diese Regelung abgesehen hat und sie jetzt wieder streichen will.

(Glocke des Präsidenten)

Kollege Professor Dr. Goll, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lehmann?

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich bin langjähriger Kommunal politiker. Als die Regelung damals eingeführt wurde, empfand ich das als schizophren. Es ist ja ein Vortäuschen, dass jemand an verschiedenen Orten gleichzeitig da ist. Entweder kandi diere ich auf einer Liste, oder ich kandidiere nicht. Aber ich kann doch nicht auf mehreren Listen gleichzeitig kandidieren. Das ist absurd. Es ist vielleicht schön für kleine Parteien, dass man dann mehr Möglichkeiten hat. Aber eigentlich täuscht das den Wählerinnen und Wählern etwas vor, was gar nicht da ist.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Ich kann nur noch einmal sagen, lieber Herr Lehmann: Natürlich können Sie diese An sicht hier äußern, aber ich finde sie in keiner Weise logisch. Denn wenn jemand in einem anderen Wahlkreis gewählt wird, sitzt er hinterher im selben Kreistag. Warum soll man nicht eine Persönlichkeit aus einer Nachbargemeinde, die zufällig gerade nicht im eigenen Wahlkreis liegt, auch wählen dürfen?