Das Wichtigste kommt immer am Schluss der Rede. Man sollte deshalb das Wichtigste gleich am Anfang sagen, dann braucht man es nicht in das Ende hineinzupacken.
Herr Präsident, bei mir ist das leichter. Bei meinen zehn Minuten ist das Ende schon fast am Anfang.
Ich sagte, bei einer Redezeit von zehn Minuten geht das leichter, weil der Schluss fast schon am Anfang ist. Kolleginnen und Kollegen! Die Hilflosigkeit und die Ratlosigkeit, mit denen wir vor Gewalttaten wie der in Erfurt stehen, darf uns nicht zu vorschnellen Schlüssen und Alibihandlungen verleiten. Ich denke, darin sind wir uns einig. Uns allen ist relativ schnell klar geworden, dass es keine einfachen und sofort wirksamen Rezepte gibt, mit denen wir uns und unsere Kinder vor solchen Gewalttaten schützen könnten.
In Bayern gab es in den letzten Jahren eine Serie von fürchterlichen Vorläufern der Erfurter Ereignisse, so in Bad Reichenhall, Brannenburg und Freising. Alle diese Fälle haben keine monokausalen Ursachen, sondern eine Vielzahl von Voraussetzungen.
Wenn wir das Waffenrecht endlich verschärfen, entschiedener gegen gewaltverherrlichende Videos und Computerspiele vorgehen, Gewalt auch in der Erziehung, in der Familie, gegen Frauen und Kinder stärker ächten würden, dann wären das alles wichtige und richtige Schutzmaßnahmen. Wir sind froh, dass auch die Kolleginnen und Kollegen von der CSU inzwischen zu diesen Schutzmaßnahmen entschlossen sind. Wichtiger aber ist es, dass wir Jugendlichen Handlungsoptionen eröffnen. Kinder und Jugendliche wollen auf ihr Leben und ihr Lebensumfeld Einfluss nehmen. Dazu fehlt ihnen oft die Gelegenheit, aber auch das Wissen und die notwendige Erfahrung. Viele, vor allem männliche Jugendliche, leiden an Überforderung, Verunsicherung und Orientierungsproblemen. Sie sind mit der Vielfalt abstrakter
Wahlmöglichkeiten überfordert. Gleichzeitig fehlen konkrete Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten. Sie müssen etwas ausprobieren dürfen, sie brauchen Orientierungsangebote und Handlungsmöglichkeiten.
Offensichtlich fehlen auch Vorbilder, beispielsweise die Väter. Die Väter werden Sie, Herr Glück, mit ihrem Familiengeld aber nicht in die Küche oder zu den Kindern zurückbringen.
Gerade männliche Jugendliche leiden heute auf dramatische Weise unter ihrem Rollenzwang und an den Anforderungen eines Männlichkeitswahns, eines Wahns, den ein reales Individuum nicht erfüllen kann. Zwischen unreifen Allmachtsfantasien und einer alltäglich erfahrenen Ohnmacht und beständigen Demütigungen können viele kleine tägliche Schritte fehlen. Deshalb sind männliche Jugendliche leicht, manchmal allzu leicht versucht, diese riesige Kluft mit jugendlicher Gewalt zu überbrücken. Erfurt, Bad Reichenhall oder Freising sind auf schreckliche Weise herausragende Einzelfälle. Sie sind eine Bedrohung, und sie sind Symptome dafür, dass in unserer Gesellschaft vieles falsch läuft. Ich glaube aber nicht, Herr Glück, dass wir deshalb schon pauschal von einer wachsenden Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen sprechen können.
Wenn wir aber von jugendlicher Gewalt sprechen, dann müssen wir die unzähligen Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen thematisieren, die die Jugendlichen und Kinder gegen sich selbst vollbringen. Wir sollten die täglich zu Dutzenden stattfindenden Selbstmordversuche ebenso ernst nehmen wie die blutigen Amokläufe.
Wir halten es für völlig falsch, wenn die Gefahrenabwehr in den Mittelpunkt gestellt wird anstatt die Bedürfnisse der Kinder und der Jugendlichen. Die Pisa-Studie hat nur deshalb so viel Staub aufgewirbelt, weil Deutschland als Bildungsnation im internationalen Wettbewerb nur auf den hinteren Plätzen lag und unsere Kinder unseren gehobenen Ansprüchen nicht genügen. Uns muss aber mindestens genauso interessieren, ob unser Gesellschafts- und Bildungssystem den Ansprüchen der Kinder und Jugendlichen genügt. Uns muss interessieren, ob sie sich geborgen und wohl fühlen und nicht nur, ob sie Probleme machen.
Unsere Gesellschaft ändert sich zur Zeit rasch und grundlegend, und das bekommen vor allem Kinder und Jugendliche ganz unmittelbar zu spüren. Wir müssen aber auf diese Veränderungen endlich Antworten finden. Das Hohe Lied auf Kinder, Küche und Kirche und eine noch so schöne Predigt, Herr Glück, über Familie, Werte und Moral helfen uns keinen Schritt weiter.
Es bringt nichts, nur ein schlechtes Gewissen zu machen. Gerade Ihre Schuldzuweisungen an die Mütter machen es uns schwer, Ihren Antrag mitzutragen und ihm zuzustimmen.
Schuldzuweisungen an Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, an die Medien oder an wen auch immer sind billige Entlastungsmanöver, ändern am Problem aber kein Jota. Wir können die Medien an ihre Verantwortung erinnern, ebenso die Schützenvereine, die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer. An erster Stelle aber kommt die politische Verantwortung. Der Staat, so heißt es immer zu Recht, kann und soll nicht alles regeln. Auch wir Grünen wehren uns ganz entschieden gegen staatliche Bevormundung. Politik muss die Rahmenbedingungen aber so setzen, dass jeder seiner Verantwortung nachgehen kann. Es ist richtig, Eltern an ihre Verantwortung zu erinnern. Das ist aber nicht immer eine Lösung für die Probleme der Kinder. Es gibt allzu viele Eltern, die nicht willens oder in der Lage sind, dieser Verantwortung nachzukommen.
Den Eltern hier die Verantwortung und damit die Schuld zuzuweisen, ist blanker Zynismus gegenüber den Kindern.
Politik und Staat dürfen die Kinder, die von ihren Eltern allein gelassen werden, nicht auch noch alleine lassen. Es war die schärfste Kritik im Armutsbericht und in der Pisa-Studie, dass Bildungsarmut bei uns vererbt wird. Kinder haften für ihre Eltern. Das ist ein Skandal.
Dagegen müssen auch Sie, Kolleginnen und Kollegen der CSU, endlich eine bildungspolitische Antwort suchen. Die Erklärung des Ministerpräsidenten kürzlich hier in diesem Hause, Bildung sei eine Holschuld, empfinden wir als blanken Hohn, als Versuch, sich aus seiner politischen Verantwortung zu stehlen.
Erfurt zeigt, dass es auch sogenannte ganz normale Eltern sein können, Mittelstandseltern und stille, unauffällige Jugendliche, die dringend Hilfe brauchen.
Auch diese Eltern dürfen wir mit ihrer Verantwortung nicht alleine lassen. Der Staat muss endlich ein dichtes Netzwerk von ergänzenden beratenden Angeboten stellen, und zwar nicht nur in so genannten Brennpunktschulen. Immer mehr Mütter und Väter versuchen, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Egal, ob die Menschen schlicht und einfach auf das doppelte Einkommen angewiesen sind, ob die Frauen ihre gute Aus
bildung nicht einfach aufgeben möchten, ob die Wirtschaft in ihrem erhöhten Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften endlich auch die Frauen ernst nimmt: In jedem Falle entsteht eine massive Doppelbelastung für die Eltern, und dabei insbesondere für die Mütter. In den vergangenen Jahren waren rund 60% der Mütter mit minderjährigen Kindern berufstätig. Diese Tendenz ist steigend. Auch hier muss der Staat endlich mehr strukturelle Hilfe leisten. Wir brauchen also Kinderbetreuungseinrichtungen, die ihren Bildungsauftrag auch wahrnehmen können, und wir brauchen Ganztagsschulen.
Wir können auch die Lehrerinnen und Lehrer an ihre Verantwortung erinnern, aber auch sie dürfen wir damit nicht alleine lassen. Dabei geht es nicht nur um verstärkte Aus- und Fortbildung, um Unterstützung der Schulpsychologen, um Sozialarbeit oder um Supervision. Die Schule ist derzeit überfordert. So wie die Schule heute organisiert ist, kann sie die erhöhten Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllen. Die Schule braucht mehr Zeit. Die Lehrerinnen und Lehrer brauchen mehr Zeit, um sich auch um einzelne Schüler sorgen und sie individuell fördern zu können. Die Schule muss stärker als bisher zum Lebensraum der Kinder und Jugendlichen werden. Die Schulgemeinschaft ist heute oft die einzige Gemeinschaft, welche die Kinder und Jugendlichen erfahren. Die Schulgemeinschaft in ihrer heutigen Gestalt kann diese Funktion aber kaum wahrnehmen. Jugendliche verbringen heute im Durchschnitt mehr Zeit vor dem Fernseher als in der Schule. Deshalb brauchen wir Ganztagsschulen, in denen Zeit für die Kinder ist, in denen sie aktiv werden können und Handlungsoptionen kennenlernen.
Die Heranwachsenden brauchen das Gefühl, zur Gesellschaft zu gehören und von ihr gebraucht und anerkannt zu werden. Dieses Gefühl muss ihnen auch die Politik vermitteln. Sie brauchen stabile Bezüge, emotionalen Rückhalt, Anleitung und Hilfe bei der Auswahl und Lösung von Orientierungsproblemen, angemessene Entwicklungschancen und realistische Zukunftsperspektiven. Diese Bedürfnisse müssen wir endlich in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen – im Elternhaus, in der Kommune, in der Schule und mit neuen politischen Rahmenbedingungen.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder, der die Vorfälle in Erfurt unmittelbar miterlebt hat, wird manche Begründung, die heute dazu gegeben worden ist, sehr vorsichtig betrachten. Wir haben von Bayern aus in den Tagen danach versucht, unsere Kolleginnen und Kollegen in Thüringen zu unterstützen, und dabei vielleicht ein wenig mehr erfahren als mancher anderer, der das Ganze ausschließlich in den Medien mitverfolgen konnte. Eine Begründung darf ich hier gleich von vorneherein beiseite schieben, denn sie war ganz offensichtlich keine Begründung für den Amoklauf in Erfurt. Es war das Argument von Herrn Maget, auch wenn er
darauf hinweist, dass er diesen Grund nicht als alleinigen Grund sieht: Das Land Thüringen hätte dem jungen Mann keine Möglichkeit mehr gegeben, das Abitur abzulegen. Der junge Mann hatte diese Möglichkeit noch gehabt, allerdings ging er zu dem Gymnasium nicht mehr hin, und das hat keiner gewusst. Die Möglichkeit hätte für ihn bestanden, das Abitur abzulegen. Gründe, aus denen heraus dieser Amoklauf geschehen sein könnte, sind von so großer Bandbreite, dass sie für eine öffentliche plakative Diskussion nicht geeignet sind, sondern etwas differenzierter behandelt werden müssen.
Als erstes möchte ich feststellen, dass in unserer Gesellschaft die Gewöhnung an Gewalt und die Präsenz von Gewalt so selbstverständlich geworden sind, dass wir unsere Kinder und Jugendlichen davor viel zu wenig schützen. Für uns ist es völlig normal, dass am 1. Mai Gewalttäter durch die Straßen Berlins ziehen.
Es ist für uns völlig normal, dass Gewaltvideos in den Verleihanstalten und auf dem Markt zu finden sind. Es ist völlig normal geworden, dass Musikgruppen Texte singen, in welchen dezidiert zur Ermordung von Lehrkräften aufgefordert wird, und dass diese Musik bei uns am offenen Markt erhältlich ist. Manchmal tragen sogar Nachrichtensendungen mehr Gewalttätigkeiten in unsere Wohnzimmer, als es nach meinem Dafürhalten und bei rationalem Nachdenken in der Nachrichtenübermittlung sinnvoll und notwendig ist. Ich habe wirklich den Eindruck, dass wir uns so sehr an Gewalt gewöhnt haben, dass manch einer schon gar nicht mehr bemerkt, dass diese alltägliche Präsenz von Gewalt auch dazu führt, dass sich unsere Kinder und Jugendlichen verändern.
Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass wir sehr dazu neigen – auch im Antrag der SPD wird das zum Teil formuliert –, gesellschaftliche Veränderungen pauschal für solche Entwicklungen verantwortlich zu machen. Sie sollten die gesellschaftlichen Veränderungen einmal genau bezeichnen und nicht immer das System oder die allgemeine Struktur dafür verantwortlich machen. Nur wenn in unserer Gesellschaft eine Werteorientierung und ein Wertekonsens stattfinden, wenn dies von den Erwachsenen demonstriert und von ihnen – unabhängig davon, ob sie Eltern, Lehrkräfte oder erwachsene Menschen ohne Kinder sind – vorgelebt wird, dann lässt sich innerhalb unserer Gesellschaft auch wieder etwas verändern. Wenn wir Gewalt und das Entstehen von Gewalt nicht zurückdrängen und wenn wir in der Gesellschaft nicht alle miteinander bereit sind, Verantwortung dafür zu übernehmen, werden auch Schulen, Lehrkräfte und Eltern nur einen begrenzten Handlungsspielraum haben.
Zu den gemeinsamen Werten: Mir ist in Schule und Bildung in den vergangenen Jahren sehr stark aufgefallen, dass das Interesse an Erziehung und Bildung von jungen Menschen schwach war. Auch das Mitgeben von Werten im Rahmen der Erziehung und Bildung wurde vor 15 Jahren noch heftig kritisiert. Ich sehe innerhalb unserer Schulen und innerhalb unserer Gesellschaft
immer wieder, mit welch unglaublicher Toleranz wir jeder abstrusen Erziehungsvorstellung Raum geben und ihr Lauf lassen und wie wir unter Toleranz die Beliebigkeit verstehen, dass jeder seine abstrusesten Forderungen – welcher Art sie auch immer sein mögen – ausleben und in die Gesellschaft einbringen darf. Ich halte es nicht für richtig, solchen Strömungen nachzugeben. Ich halte es vielmehr für richtig und notwendig – und das praktizieren wir mittlerweile an Hunderten von Schulen in Bayern –, dass ein Lehrerkollegium gemeinsame Erziehungsmaßstäbe und Wertmaßstäbe haben muss, nach denen sich schließlich alle Lehrkräfte des Lehrerkollegiums richten. Auch Lehrkräfte sind Vorbilder, die ihrer Aufgabe nachkommen müssen.
Zum zweiten muss ich feststellen, dass wir viele Eltern mit unterschiedlichsten Erziehungsvorstellungen haben. Das bedeutet, dass Eltern und Lehrkräfte gemeinsam und konsequent Erziehungsmaßstäbe für die Schule prägen müssen, so dass die Kinder gemeinsames Erziehen durch Eltern und Lehrkräfte empfinden und nacherleben können. Wenn ein Lehrer in die eine Richtung, der andere Lehrer in eine andere Richtung, die Mutter in die dritte Richtung und der Vater schließlich in die vierte Richtung erziehen, muss das Kind am Schluss selbst entscheiden, was der richtige Wertmaßstab ist. Deshalb brauchen die Lehrer einen klaren Wertekonsens, der jegliche Form von Gewalt und Gewaltvorbereitung präventiv aufhält. In dem Zusammenhang halte ich es nicht für richtig, Herr Maget, dass Sie Vandalismus für vernachlässigbar halten.
Vandalismus ist der erste Schritt dazu, den Respekt vor dem Eigentum anderer, den Respekt vor einer anderen Sache und den Respekt vor anderen Menschen zu verlieren.
Wir müssen Gewalt von Anfang an dort, wo sie auftritt, präventiv aufhalten. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir innerhalb unserer Schulen mittlerweile eine Fülle von Konfliktlotsen und Streitschlichtern ausgebildet haben. Wir müssen jungen Menschen im Rahmen der Erziehung altersgerecht vermitteln, dass ältere Schüler Verantwortung für jüngere Schülerinnen und Schüler tragen. Ich halte es für wesentlich, dass ältere Schülerinnen und Schüler Vorbilder für jüngere sind.