Protokoll der Sitzung vom 13.12.2011

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Vielen Dank, Herr Kollege Streibl. Nächster Redner ist Herr Kollege Dr. Rieger. Ihm folgt Herr Arnold. Bitte schön, Herr Kollege Dr. Rieger.

Sehr verehrter Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Gesetzentwurf der FREIEN WÄHLER geht es darum, wie Herr Kollege Streibl schon geschildert hat, ob jugendlichen Tätern, die schwere Gewalt- oder Sexualverbrechen begangen oder die sich bandenmäßig zusammengerottet haben und zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden, zur Reduzierung der Rückfallgefahr ein Vollzug in freien Formen - das heißt außerhalb von Justizvollzugsanstalten - ermöglicht werden soll.

Dieser Gesetzentwurf wirft folgende wichtige rechtspolitische Fragen auf: Wie sanktionieren wir schwere Gesetzesverstöße? Wie gehen wir mit solchen Straftätern um? Wie kommen wir dem Sicherheitsbedürfnis unserer Bevölkerung entgegen, und wie handhaben wir all das bei Jugendlichen?

(Zuruf des Abgeordneten Florian Streibl (FREIE WÄHLER))

Meine Damen und Herren, wir haben diese Fragen zum Teil schon bei dem Thema der Ersatzfreiheitsstrafe per elektronische Fußfessel diskutiert. Das haben wir seinerzeit abgelehnt, weil wir der Meinung waren, dass nur eine spürbare Strafe Abschreckungswirkung erzeugt, und wir keinen Kuschelvollzug wollen.

Im Jugendstrafrecht, das für jugendliche Straftäter gilt, ist gewiss eine besondere Sensibilität an den Tag zu legen; insbesondere sind alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um auf die jugendlichen Straftäter in der sogenannten Nacherziehung erzieherisch einzuwirken und sie auf einen Weg der Rechtschaffenheit zu bringen. Meine Damen und Herren, selbst wenn man diese Maßstäbe zugrunde legt, ist in der Gesamtab

wägung der vorliegende Entwurf abzulehnen, und zwar deshalb - lassen Sie mich das vorher zusammenfassend feststellen, ehe ich detailliert begründe -, weil sich der bisher praktizierte Jugendstrafvollzug vollkommen bewährt hat und durch den Vorschlag der FREIEN WÄHLER keine Verbesserung erreicht würde.

Ich begründe das im Einzelnen. Herr Streibl, wir haben im Jugendgerichtsgesetz ein flexibles Instrument von Sanktionen. Das Gericht kann von erzieherischen Maßnahmen, angefangen von Weisungen, Jugendarrest, Anweisung zu sozialen Arbeitsleistungen bis hin zur Jugendstrafe ohne oder mit Bewährung alles erlassen und somit auf die Täterstruktur und die jeweilige Tat eingehen.

Die Jugendstrafe ohne Bewährung ist die Ultima Ratio. Sie wird nur bei schwersten Straftaten verhängt und nur dann, wenn der Richter wirklich schädliche Neigungen des Jugendlichen feststellt, das heißt eine negative Sozialprognose abgibt. Das heißt, dass diese Täter, die im Jahr 2010 nur einen Anteil von 5,5 % der Verurteilten ausmachten, nicht für einen Vollzug in offenen Formen geeignet sind, also für einen Vollzug, bei dem sie das Gefängnis nicht von innen, sondern nur von außen sehen und sich auf irgendeinem Bauernhof in Oberbayern befinden. Das muss man so deutlich sagen.

Durch den Gesetzentwurf ist keine Reduzierung der Rückfallgefahr zu erwarten. In der kriminologischen Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass die Rückfallgefahr danach zu beurteilen ist, ob der junge Straftäter wieder eine Straftat begeht, die eine Freiheitsentziehung zur Folge hat. Nach diesem Maßstab beträgt die Rückfallquote nicht zwei Drittel, sondern 36 %. Nach den Untersuchungen des Bundesministeriums der Justiz zwischen 2003 und 2010 ist die Rückfallquote bei Jugendstrafen ohne Bewährung um 9 % gesunken, während sie bei Jugendstrafen mit Bewährung um 9 % gestiegen ist. Diese Zahlen belegen, dass der Gesetzentwurf nicht zu einer Verbesserung führen würde.

Weiter spricht gegen den vorliegenden Gesetzentwurf, dass wir in Bayern ein spezifisches Behandlungskonzept für junge Intensivtäter haben. Dabei werden viele, viele Maßnahmen angeboten, zum Beispiel Unterricht, Fortbildung, Ausbildung, Arbeit sowie sinnvolle Freizeitbeschäftigung. So haben etwa 1.485 Jugendliche im Jahr 2010 an diesen beruflichen und außerberuflichen Bildungsmaßnahmen teilgenommen. Solche Maßnahmen - das ist hier sehr wichtig - können durch Gewährung von Vollzugslockerungen, Urlaub aus der Haft und Verlegung in den

offenen Vollzug, der dem Vollzug in freien Formen nahekommt, unterstützt werden.

Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege, Sie können nichts dafür, weil Ihre Anzeige nicht stimmt, aber Ihre Redezeit ist um. Sie müssten zum Ende kommen.

Nur noch einige Worte: Für eine sozialtherapeutische Behandlung von Jugendlichen werden immer mehr Therapieplätze zur Verfügung gestellt.

Natürlich sind auch die Kosten zu berücksichtigen. Ein Platz im freien Vollzug, wie Sie ihn vorschlagen, kostet ungefähr zwei Drittel mehr als ein Platz im herkömmlichen Vollzug.

Der Gesetzentwurf ist abzulehnen, weil der herkömmliche Vollzug im Jugendstrafrecht ein flexibles Instrument zur Verfügung stellt, mit dem einerseits die jeweilige Tat genügend sanktioniert wird und andererseits dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung getragen wird.

(Beifall bei der CSU)

Vielen Dank, Herr Dr. Rieger. Nächster Redner ist Herr Kollege Arnold. Bitte schauen Sie auch auf die Uhr. Ihre fünf Minuten beginnen jetzt. Nächste Rednerin ist Frau Stahl, die hier oben dann entlastet werden müsste.

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Natürlich hat die SPD-Fraktion Anträge bei der Haushaltsberatung zu diesem Thema gestellt, und zwar nicht deswegen, weil keine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, sondern weil bereits jetzt Haushaltsmittel eingestellt werden können, um die gewünschten Vollzugsmöglichkeiten einzurichten. Deswegen sind wir nicht der Ansicht, dass es einer materiellen Gesetzesänderung bedarf, um den Vollzug sinnvoll durchzuziehen, im Gegenteil. Ich denke, dass die FREIEN WÄHLER hier an der falschen Stelle ansetzen. Sie fangen dann an, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Ich war neun Jahre lang selber Richter und weiß, was erforderlich ist, um eine Jugendstrafe ohne Bewährung zu verhängen. Vorher gab es Weisungen, Mahnungen, Bewährungsauflagen usw. usf. All das hat aber nicht gefruchtet. Wer in diesem Kontext glaubt, dass ein sogenannter freier Vollzug des Rätsels Lösung ist, um entsprechende Rückfallquoten zu vermeiden, geht in die Irre.

Es ist umgekehrt. Dadurch, dass wir es in das Gesetz hineinschreiben, haben wir eine Alibifunktion geschaf

fen, die uns möglicherweise der Notwendigkeit enthebt, konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Ich bin mit der Arbeitsgemeinschaft der bayerischen Bewährungshelfer völlig im Einklang. Sie ist der Ansicht: Für ein adäquates Reagieren auf Straftaten von Jugendlichen bieten das geltende Strafgesetzbuch und das Jugendgerichtsgesetz ausreichende und wirkungsvolle Möglichkeiten.

Wir werden mit dem Gesetzentwurf nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Bayern bezüglich des Strafvollzugs auf Platz 16 unter den Bundesländern steht. Es ist nach wie vor so, dass zu wenig Fachkräfte, zu wenig Therapeuten, zu wenig Menschen, die auf die tatsächliche Situation eingestellt sind, zur Verfügung stehen und bei uns eine Beschäftigung finden.

Den Gedanken, auf der Grundlage eines Gesetzes eine Auslagerung vorzunehmen, können wir derzeit nicht nachvollziehen. Deswegen werden wir den Entwurf ablehnen.

Uns geht es darum, Mittel für die Prävention einzusetzen. Nach unseren Feststellungen haben 50 % aller ohne Bewährung inhaftierten Jugendlichen keinen Hauptschulabschluss. 10 % haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Daraus ergibt sich, welche Maßnahmen notwendig sind.

(Beifall bei der SPD)

Man braucht Streetworker und Unterstützung seitens der öffentlichen Hand, um in dem Bereich wirkungsvoll tätig zu werden.

Wie gesagt: Bei der Art, wie Sie es anfangen, ist das Kind in den Brunnen gefallen. Dabei gibt es Möglichkeiten zur Lockerung des Strafvollzugs ohne Ende. Allerdings haben wir zu wenig Bewährungshelfer, die hier etwas bewerkstelligen könnten. Sie sind mit einer Fallzahl überlastet, was einer denkbaren Hilfe entgegensteht.

Hier etwas auszusourcen, erscheint uns in diesem Bereich zu einfach. Wir haben unsere Anträge im Haushaltsausschuss deswegen gestellt, weil wir wissen, dass derzeit etwas möglich ist. Eine Gesetzesänderung täuscht uns über die tatsächlichen Verhältnisse hinweg. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.

(Beifall bei der SPD)

Als nächste Rednerin rufe ich Frau Stahl auf. Ihr folgt Kollege Dr. Fischer.

Herr Präsident, meine Herren und Damen! Mit seiner Entscheidung vom 31. Mai 2006 hat das Bundesverfassungsgericht der sozialen Integration straffällig gewordener Jugendlicher Vorrang eingeräumt. Erziehung muss daher ein vordringliches Anliegen sein. Bei meinen Vorrednern aus allen Fraktionen hatte ich nicht den Eindruck, dass sie dies grundsätzlich infrage stellen.

Mit pädagogischen Maßnahmen sind die Persönlichkeit des jungen Straftäters zu formen, sozialisationsbedingte Defizite aufzufangen und Qualifizierungen nachzuholen, damit ein Leben ohne Straffälligkeit möglich wird. Jugendliche Straftäter wirken teilweise verrohter und unzugänglicher, als sie es tatsächlich sind. Gerade Fachleute, die im Jugendstrafvollzug tätig sind, warnen davor, die Förderfähigkeit Jugendlicher zu unterschätzen und ihnen das Erwachsenenstrafrecht im Verhältnis 1 : 1 überzustülpen. Ich verweise hier auf Professor Dünkel und Professor Sonnen, die von der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege mit dem Satz zitiert werden: Der Jugendstrafvollzug soll keine Kleinausgabe des Erwachsenenstrafrechts sein.

Im Jugendstrafvollzug muss deshalb mehr möglich sein als im Erwachsenenstrafvollzug; ich denke, das ist unbestritten. Ich bin etwas darüber irritiert, dass man dem Gesetzentwurf der FREIEN WÄHLER hier mehr unterstellt, als es seinem Anliegen tatsächlich entspricht. Wenn ich es richtig gelesen habe, geht es hier um eine Kann-Bestimmung. Es ist zu überlegen, ob man den bereits bestehenden Möglichkeiten des offenen Strafvollzugs wie auch des geschlossenen Vollzugs eine dritte Variante hinzufügen sollte. Wie es Herr Streibl gesagt hat, weise ich darauf hin, dass einige Bundesländer dies schon getan haben. Allerdings wünsche ich mir, dass wir in dieser Debatte eine Evaluierung vornehmen, wie es letztlich in diesen Ländern gelaufen ist. Die Möglichkeiten gibt es in den betreffenden Bundesländern schon relativ lange, teilweise seit 2005. Ich nenne diese Bundesländer: In Baden-Württemberg, Hessen und Berlin - bei beiden Letzteren - hat man die Möglichkeit als Vollzugslockerung ausgestaltet. Die Regelungen sind aber nicht einfach vom Himmel gefallen.

Ich verweise darauf, dass es diese Möglichkeit in § 91 des Jugendgerichtsgesetzes bisher schon einmal gegeben hat. Das war sogar fast eine ähnliche Formulierung. Niemand hatte damit ein Problem, sodass diese dritte Variante nicht infrage gestellt wurde.

Ähnliches hatten wir in Artikel 14 Absatz 2 Nummer 4 im Gesetzentwurf der GRÜNEN vorgesehen. Damit haben wir versucht, den Forderungen der Verbände ein Stück entgegenzukommen. Die Verbände gehen

ja davon aus, dass der Jugendstrafvollzug komplett und ausschließlich als offener Vollzug zu gestalten ist, wovon wir hier in Bayern aber wenig merken.

Es war klar, dass die Lösung vom Kollegen Rieger als "Kuschelvollzug" diffamiert wird. Aber ich glaube, die Kritiker neigen ein bisschen dazu, zu übersehen, dass es selbst bei Hartgesottenen durchaus Möglichkeiten zum Eingreifen gibt. Denn die Bayerische Staatsregierung hätte in ihrem Gesetzentwurf sonst ja nicht auch selber auf die Sozialtherapiemöglichkeiten etc. verwiesen. Bei Nichttherapierbaren wäre das Angebot dann ja sinnlos.

Wie ich schon sagte, geht es hier um eine Kann-Bestimmung. Der Gesetzentwurf gibt auch vor, dass nur solche Jugendlichen in eine offene Form des Strafvollzugs genommen werden sollen, die sich dafür eignen. Ob entsprechend viele Jugendliche dafür ausfindig gemacht werden können, lasse ich einmal dahingestellt. Ich weiß nur, dass in Einrichtungen wie in Glonn bisher hervorragende Arbeit gerade bei Intensivstraftätern geleistet worden ist, also bei einem Personenkreis, bei dem man nicht gedacht hat, dass man noch irgendetwas bewirken könnte.

Ich gehe im Einklang mit Herrn Kollegen Streibl über die im Vergleich zu den Vorstellungen der CSU und der FDP konservativen Vorstellungen von Schuld und Sühne hinweg und gebe zu überlegen, ob nicht doch eine weitere Variante infrage käme.

Ich wünsche mir, dass wir im Ausschuss noch einmal intensiv darüber diskutieren, ob wir den Weg, der eine Art Privatisierung darstellt, tatsächlich gehen sollten. Wir sind für eine solche Debatte sehr offen.

Der nächste Redner ist Herr Kollege Dr. Fischer. Danach bekommt Frau Staatsministerin Dr. Merk das Wort.

Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es hier? Das Modellprojekt "Chance" in Baden-Württemberg, das - da darf ich Frau Kollegin Stahl etwas korrigieren - nicht seit 2005, sondern schon seit 2002 existiert, ist ein Projekt, das auf den ersten Blick gut aussieht: keine Mauern, keine Gitter. Die Jugendlichen haben einen klar strukturierten Tagesablauf und sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen.

Warum können wir dem trotzdem nicht mit großer Begeisterung zustimmen? - Der Gesetzentwurf zielt auf die Einführung eines Instruments, das schon mehr als 50 Jahre im Gesetz stand. § 91 Absatz 3 des Jugendgerichtsgesetzes war von 1953 bis zum 31. Dezember 2007 gültige Rechtslage und hat eine Rechtsgrundlage für eine dritte Säule neben dem

geschlossenen und dem offenen Vollzug geschaffen: den sogenannten freien Vollzug. Da stellt man sich natürlich die Frage, warum in mehr als 50 Jahren bundesweit von dieser Regelung praktisch kein Gebrauch gemacht wurde. Ich möchte Ihnen einige Gründe nennen und mich dabei im Wesentlichen auf fünf Aspekte konzentrieren.

Lassen Sie mich ganz profan mit den Kosten beginnen. Im Gesetzentwurf steht, dass ein Tag in einer solchen Jugendeinrichtung - wenn man sie denn einführen würde; und nur dann macht das Ganze Sinn 200 bis 250 Euro kostet; ein Tag in Haft kostet zwischen 80 und 90 Euro. Der Vollzug würde also deutlich teurer.

Nun gestehe ich gerne zu, dass das Ganze volkswirtschaftlich Sinn machen würde, wenn die Erfolgsquote besser wäre. Das ist aber nicht der Fall.

Rückfalluntersuchungen sind ein schwieriges Thema. In der Problembeschreibung heißt es, dass bei einer bundesweiten Rückfalluntersuchung von 4.840 Untersuchten 68,6 % erneut Straftaten begangen hätten. Kollege Rieger hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dann, wenn man den Anteil derer zugrunde legt, die wieder in Haft kamen, diese Quote mit 36 % deutlich besser ist.

Vor allem aber ist zu bemerken, dass eine Evaluierung des Projekts "Chance" ergeben hat, dass 53 % der Teilnehmer des Projektes, die innerhalb der ersten zehn Monate in Freiheit waren, nicht rückfällig geworden sind. 47 % sind im Gegenschluss also rückfällig geworden, und zwar schon innerhalb von zehn Monaten.

Von 24 Abbrechern, die in die Justizvollzugsanstalt Adelsheim zurückverlegt wurden, bewährten sich lediglich 38 %. Das Argument, dass sich die Mehrkosten rechnen würden, ist damit zumindest nicht belegt.