Die letzte Anmerkung: Es hat mich schon gewundert, dass weder von der Handelskammer noch aus den Federn der bekannten Bremer Ökonomen eine Untersuchung über die Prognose für die Bremer Wirtschaft, die aus der Erweiterung folgt, vorliegt. Das ist eigentlich ein bisschen eigenartig und auch bedauerlich.
Meine Damen und Herren, ich beginne wieder damit, weil das Bewusstsein zwangsläufig immer weiter verblasst: Die Triebkraft der europäischen Integration war die Erfahrung der Weltkriege! Darin gründete die Entscheidung für den politischen Weg, den Nationalstaat durch die Verflechtung der Ökonomie und die teilweise Abgabe von Souveränität zu relativieren und zu entschärfen. Die Europäische Gemeinschaft war und ist eine Nachkriegsordnung der Stabilität und des Friedens. Gerade darin lag ihre riesengroße Erfolgsgeschichte, und ich bin überzeugt davon, dass die noch lange nicht zu Ende ist.
Die Dynamik der letzten zehn Jahre Europapolitik ging vom Ende dieser Nachkriegsordnung aus, und sie wird praktisch heute besiegelt, vom Fall des Eisernen Vorhangs durch die friedliche Revolution unserer östlichen Nachbarn, die übrigens auch Voraussetzung für die deutsche Einheit gewesen ist, der wir sie verdanken. Der Vertrag von Maastricht, der Euro, waren die Entscheidungen, das größer gewordene Deutschland erneut einzubinden, und im gleichen Jahr 1993 wurde auch in Kopenhagen der Fahrplan für die Überwindung der Spaltung Europas beschlossen, indem allen ost- und mitteleuropäischen Staaten der Beitritt angeboten wurde.
Die Beitrittsfähigkeit wurde damals an folgende Kriterien geknüpft, ich darf aus der damaligen Verlautbarung mit Genehmigung des Präsidenten zitieren: „Stabilität der Institutionen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten, die Existenz einer funktionierenden Marktwirtschaft, die dem Wettbe
werbsdruck und den Marktkräften in der Union standhält, und die Fähigkeit zur Übernahme der Pflichten der Mitgliedschaft einschließlich dem Einverständnis mit den Zielen der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion.“
Das, meine Damen und Herren, war 1993 eine außerordentlich mutige Entscheidung. Uns kommt das so selbstverständlich vor. Damals war es außerordentlich mutig, denn in Osteuropa war weder die Marktwirtschaft schon durchgesetzt noch war die Demokratie schon stabil, und in einer Reihe dieser Staaten war überhaupt nicht klar, wohin der Weg damals gehen würde. Also, die Entscheidung war mutig, und ihre Umsetzung auf beiden Seiten kann man heute nur mit großem Respekt würdigen.
Zunächst einmal zu der einen Seite! Die Heranführungsstrategie der Union war sehr erfolgreich, sowohl materiell als auch im Bereich der Vertrauensbildung. Die Kommission hat eine sehr kluge und dennoch prinzipienfeste Verhandlungsführung gehabt. Sie hat nie Zweifel daran gelassen, und das ist auch für die heutige aktuelle Diskussion wieder wichtig, dass die politischen Kriterien nicht zur Disposition stehen.
Sie hat es dennoch in den Verhandlungen geschafft, alle zehn Länder am Ende zusammenzuführen, sie hat es verstanden, das Problem des Transits für das Gebiet Kaliningrad zu lösen, eine äußerst schwierige Frage, und es ist durchaus möglich, dass jetzt sogar unter dem Druck der Verhandlungen das uralte Zypernproblem einer Lösung zugeführt wird.
Die Einführung dessen, was wir immer Akquis Communitaire nennen, also den gemeinsamen Besitzstand der Regelungen und der Gesetze, ein Riesenwerk inzwischen, ist eine große Leistung, die noch lange nicht zu Ende ist; und außerdem ist es auch gelungen, durch Übergangsregelungen in besonders sensiblen Fragen eine Übereinkunft zu erzielen.
Heute wird mit Sicherheit noch keine Seite zufrieden sein, und auch im Ergebnis wird es auf allen Seiten Unzufriedenheiten geben, auch wenn bis zuletzt verhandelt wird, aber ich bin sicher, am Ende werden die Finanzen bis 2006 geordnet sein und die Lasten einigermaßen fair verteilt. Sogar im Agrarbereich wird ein Kompromiss gefunden werden, der als Einstieg in den Ausstieg in das von keinem mehr nachzuvollziehende System der Direktbeihilfen angesehen werden kann, und überhaupt, es muss klar sein, es ist jetzt zwar nicht gelungen, aber die Notwendigkeit, die europäische Agrarpolitik verbraucherorientiert zu reformieren und die nachhaltige
Entwicklung des ländlichen Raums in den Mittelpunkt zu stellen, bleibt unverändert bestehen. Soweit also zur Politik der Kommission!
Noch mehr Respekt, meine Damen und Herren, zolle ich aber der Bevölkerung und den Regierungen der mittel- und osteuropäischen Länder. Sie haben in sehr kurzer Zeit äußerst unpopuläre, äußerst schwierige Reformen durchsetzen und auch durchleiden müssen. Sie haben dort eine riesige Arbeit geleistet, aber eines ist völlig klar: Ohne die Perspektive eines Beitritts zur EU wäre diese Reformdynamik überhaupt nicht möglich gewesen, wären die Minderheitenfragen nicht entschärft worden und hätten sich mehr Menschen angesichts der Zumutungen, die damit verbunden waren, abgewandt. Diese Gefahr ist auch heute noch nicht gebannt.
Die Frage ist: Was war daran so attraktiv, warum haben die das gemacht? Die Bürger dieser Länder wollen in ihrer Mehrheit in die Europäische Union, weil sie sich ohnehin immer als Europäer fühlten, natürlich, als Warschauer, als Danziger, als Krakauer, selbstverständlich waren sie Europäer, und weil sie aus bitterer Erfahrung um fast jeden Preis in den von der EU geschaffenen Raum des Friedens und des Rechts wollen. Die Politik der EU hat ja ohnehin Auswirkungen auf ihre eigene Politik, und wenn sie das sowieso hat, dann wollen sie lieber mitentscheiden, wo die Entscheidungen fallen. Sie wollen überhaupt wieder Handlungsspielräume dadurch schaffen, dass sie einen Teil der Souveränität abgeben. Das ist ja sowieso das Geheimnis des Erfolgsrezeptes der Europäischen Union, das hier in den alten Ländern manchmal vergessen wird.
Sie hoffen auch auf materielle Unterstützung, auf Hilfe, auf Solidarität auf dem Weg aus der unverschuldeten Sackgasse, und ich finde, zu Recht. Wir sind dazu aus vielen, auch historischen Gründen verpflichtet, und es wird sich für uns auszahlen. In welcher Weise, welche Interessen haben wir? Es gibt ja durchaus auch unangenehme Nachrichten. Wir werden statistisch gesehen relativ reicher, aber eben nur statistisch gesehen, nur relativ, und es wird mit Sicherheit ab 2007 für Bremen schwieriger werden, Mittel aus den Strukturfonds zu erhalten. Umso wichtiger, haben wir immer gesagt, ist es, in dieser Frage nicht irrealen Ideen hinterherzulaufen, sondern sich früh an der Ausgestaltung einer neuen Strukturpolitik konstruktiv zu beteiligen.
Wie ist es mit der Freizügigkeit, der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt? Das ist auch eine Diskussion, die geführt wird. Ich verstehe die Befürchtungen, aber ich gestehe, ich teile sie nicht, zum einen wegen der langen Übergangsregelungen, zum anderen aber wegen der Erfahrung mit der Süderweiterung vor 20 Jahren. Die Spanier und Portugiesen sind nach dem Beitritt eher zu Hause geblieben. Wenn sie heute in Polen diskutieren, die jungen Leute wollen jetzt, je näher der Beitritt rückt, eher zu Hause
bleiben, weil sie jetzt zu Hause eine Perspektive sehen, dann ist das nahe liegend und auch das Gute daran.
Die Vorteile sind groß, ich nenne einige: Die Erweiterung wird vor allem in Deutschland zu wirtschaftlichen Impulsen und damit zu qualifizierten Arbeitsplätzen führen, allerdings auch zu einer neuen Form der internationalen Arbeitsteilung. Wir werden, wenn wir in diese Länder reisen, in Zukunft sicher sein können, dort im Grundsatz die gleiche Qualität des Wassers, den gleichen Schutz in der Produkthaftung, die gleiche Lebensmittelqualität vorzufinden.
Die Tore für den Austausch in Ausbildung und Wissenschaft werden weit geöffnet werden. Ich nenne nur ein paar Namen: Prag, Krakau, Riga, Danzig, Budapest, alle diese wunderbaren alten und jungen europäischen Städte können dann wieder für die Jugend ihre alte Anziehungskraft entfalten.
Das Stichwort innere Sicherheit: Es gibt heute Kriminalität, ja! Sie resultiert zum Teil aus dem Wohlstandsgefälle, aus unsicheren staatlichen Strukturen. Der richtige Weg zur Bekämpfung dieser Kriminalität werden die wirtschaftliche Zusammenarbeit sein und die Kooperation mit diesen Staaten bei der Kriminalitätsbekämpfung.
Zum Schluss der Umweltschutz: Die Zerstörung der Umwelt war zum Teil in diesen Ländern verheerend, aber das Gift kennt nun einmal keine Grenzen. Die Verpflichtung, gemeinsame Umweltstandards einzuführen und auch einzuhalten, würde es ohne den Beitritt dieser Länder zur EU eben nicht geben. Unsere Luft, unsere Flüsse, unsere Gesundheit werden davon unmittelbar profitieren, meine Damen und Herren!
Wir werden uns mit Sicherheit keinen Gefallen tun, wenn wir verschweigen würden, dass jede Veränderung in dieser Größenordnung auch Risiken hat, auch einzelne Gruppen, Einzelne in schwierige Situationen führen wird. Die Gesamtbilanz der Erweiterung aber, meine Damen und Herren, ist für uns eindeutig mehr als positiv.
Ich möchte am Ende auf eine Frage eingehen, die gegenwärtig, gerade in den letzten Wochen, heiß diskutiert wird, wie das so oft ist in der Politik, jetzt wird es ernst, jetzt kommen die Diskussionen, die Be
denken, die Argumente, nämlich auf den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union! Die CDU/CSU lehnt diesen Beitritt, sage ich einmal, mehrheitlich ab. Auch andere sprechen dagegen, das kann man in den Zeitungen heute lesen, unter anderem in der „Zeit“.
Die katholische Kirche hat zu meiner Verwunderung einen solchen Beschluss gefasst, Historiker entdecken jetzt das „Türkenproblem“, schon zum dritten Mal „die Türken vor Wien“! Ich sage Ihnen ganz klar: Die Grünen stehen der Perspektive eines Beitritts der Türkei aufgeschlossen gegenüber.
Wir meinen, dass heute in Kopenhagen die Tür zwischen der Europäischen Union und der Türkei auf gar keinen Fall zugeschlagen oder gar zugemauert werden darf. Im Gegenteil, das Mindeste muss ein Datum für ein Datum sein, an dem die Beitrittsverhandlungen beginnen können, sofern die politischen Kriterien erfüllt sind. Über konkrete Einwände, einen Zeitplan, Umstände muss man viel streiten und diskutieren, dafür ist auch Platz. Ich halte aber nichts von Argumenten, die grundsätzlich und auf ewig gegen einen Beitritt sprechen.
Ob die Türkei geographisch zu Europa gehört, ist ein uralter Streit, so alt wie unfruchtbar. Einige meinen, die Europäische Union sei christlich geprägt, und für ein islamisch geprägtes Land sei kein Platz. In den Kopenhagener Kriterien, in den Verträgen steht davon nichts. Sind die Muslime, die Juden, die Atheisten nicht Bürger Europas? Wollen wir ernsthaft behaupten, unsere Art zu leben und unsere Gesellschaft freiheitlich zu organisieren sei grundsätzlich mit dem Islam unvereinbar? Ich würde sehr vor solch einer gefährlichen Hybris warnen, meine Damen und Herren! Die Trennlinie läuft nicht zwischen Religionen, sie läuft zwischen Demokratie und Autokratie, sie läuft zwischen Recht und Willkür. Es ist die Aufgabe der Türkei, diese Trennlinie in der Praxis zu ziehen, und daran muss sie sich messen lassen, und daran wird sie gemessen werden.
Ein islamistischer Staat wird nicht Mitglied der Union werden, aber es käme doch jetzt darauf an, der neuen Regierung die Chance zu geben zu zeigen, ob sie eine freiheitliche Demokratie mit muslimisch-demokratischen Parteien aufbauen will. Sie muss beweisen, ob sie es kann. Wir haben ein elementares Interesse daran, den Weg einer islamisch eingefärbten Demokratie zu fördern, so wie wir ja nicht nur schlechte Erfahrungen mit katholisch ein
gefärbten Demokratien gemacht haben, würde ich sagen. Wird es ein großes islamisches Land geben, das den Weg einer erfolgreichen Modernisierung unter rechtsstaatlichen Bedingungen gehen kann? Von der praktischen Frage und von der praktischen Antwort auf diese Frage wird unendlich viel abhängen, was das Verhältnis Europas zum Nahen Osten und insgesamt zur islamischen Welt angeht.
Das weitere Argument, die Europäische Union gründe auf Humanismus und Aufklärung, davon habe die Türkei nie etwas erlebt: Ich bin da sehr skeptisch. Die Europäische Union kam nicht geraden Weges aus der Aufklärung, im Gegenteil, sie kam aus dem Krieg und dem Völkermord, den Humanismus und die Aufklärung ja gerade nicht verhindert hatten. Hätten die Holländer nach 1954, als es um die Europäische Union ging, immer nur auf die Mängel der deutschen Demokratie hingewiesen, ich glaube, aus der Einigung wäre nie etwas geworden. Ich will damit sagen, meine Damen und Herren, die europäische Integration war und ist ein historisches und dynamisches Projekt. Wenn die Türkei Beitrittsverhandlungen führen will, dann muss sie ihre Reformdynamik, die im Augenblick sehr erstaunlich ist, verstärken, sie muss noch fundamentale Dinge ändern, den Einfluss des Militärs zurückdrängen, die Menschen- und Minderheitsrechte achten. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Beitrittsperspektive Dinge möglich gemacht hat, die undenkbar schienen. Der Schlüssel liegt in der Türkei! Eine letzte Bemerkung, meine Damen und Herren! Die Perspektive der Mitgliedschaft hat in den letzten zehn Jahren in Osteuropa eine Dynamik entfaltet, die riesengroß war. Wir meinen, die Chance einer solchen Dynamik wird auch die Türkei unterstützen. Die Früchte des mutigen Schrittes von 1993, was Osteuropa angeht, können wir heute ernten. Meine Damen und Herren, wir Grünen freuen uns über den heutigen Tag. Wir plädieren dafür, dass das Land Bremen, seine Bürgerinnen und Bürger sich noch aktiver an der europäischen Integration beteiligen in Verfolgung unserer eigenen und unserer gemeinsamen Interessen. Ich glaube nicht, dass wir heute schon das Ende dieses gemeinsamen, erfolgreichen Weges vor Augen haben.
Meine Damen und Herren, ich finde es nicht sehr gut, dass wir die Debatte ohne Beteiligung des Senats führen.
(Abg. D r. K u h n [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Er ist doch vertreten! – Zuruf von der SPD: Sie ist doch da!)
Frau Dr. Kießler ist Vertreterin des Senats, das ist richtig, aber wir haben schon bei der Haushaltsdebatte feststellen können, dass bei dem wichtigen Thema Nachtragshaushalt auch die Senatsbank mehr als dünn besetzt war.
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Auf dem heute beginnenden Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen soll über die Erweiterung der Europäischen Union entschieden werden. Wir begrüßen daher die Anfrage der Grünen und die dazugehörige Antwort des Senats, die uns den Anlass geben, zu diesem wichtigen Thema in einer so hoffentlich symbolhaften Woche, in der der endgültige Beschluss zur Erweiterung gefasst werden soll, zu debattieren.
Die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen legt deutlich dar, dass die Erweiterung der Europäischen Union ein historisches, politisches, ökonomisches und soziales Projekt ist. In den kommenden Jahren wird es im Wesentlichen darauf ankommen, die Unterstützung der Bevölkerung für dieses Projekt in den alten und neuen Mitgliedstaaten zu gewinnen und zu erhalten. Dieser Feststellung können wir alle uneingeschränkt zustimmen.
Schließlich geht es meines Erachtens vorrangig um eine bessere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen die Menschen in unserer Region bei dem historischen Projekt der Erweiterung mitnehmen und ihnen diesen Prozess näher bringen. Zugleich wird es aber darum gehen, die Gestalt der Europäischen Union, die durch die Erweiterung viel an Farbe und Vielfalt gewinnen wird, in ihrer zukünftigen Form zu formen oder weiterzuentwickeln und ihre Zukunft gerade vor dem Hintergrund des Konvents zu diskutieren. Es ist deshalb wichtig, auch in diesem Parlament darüber zu diskutieren.