Protokoll der Sitzung vom 18.03.2015

Die hitzige Diskussion zu einer Anfrage in der Fragestunde vor einigen Monaten hat den Ausschlag für diese Große Anfrage gegeben. Die CDU-Fraktion fragte damals nach der Bedeutung von Demenzdör

fern für Bremen. Zur Veranschaulichung berichteten wir von einem Besuch in Hogeweg in der Nähe von Amsterdam. Damals hatte Herr Staatsrat Frehe unmissverständlich klargemacht, dass er solche sogenannten Spezialeinrichtungen in Bremen ganz sicher nicht haben möchte.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Applaus an der falschen Stelle, würde ich sagen. – Aber an verschiedenen Orten in Deutschland gibt es bereits ähnliche Projekte.

(Abg. Frau H o c h [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Wir sind selbstbestimmt!)

Von Demenz betroffene Menschen bemerken bei beginnender Demenz anfangs nur eine zunehmende Vergesslichkeit über das übliche Maß hinaus. Sie fühlen sich den Anforderungen des Alltages immer weniger gewachsen, wissen bald nicht mehr, wie man zum Beispiel den Bus benutzt, und viele ziehen sich langsam aus dem Alltagsleben zurück. Die zunehmende Isolation befördert wiederum den geistigen Verfall, und nach einiger Zeit greift das Vergessen auch auf das Langzeitgedächtnis über.

Irgendwann erkennen die Betroffenen ihre Nachbarn und Familienangehörigen nicht mehr, wobei Phasen des Könnens, des Erkennens und des Vergessens sich lange abwechseln und den Betroffenen durchaus bewusst wird, wie sich ihr Leben langsam verändert. Auch ich glaube, dass ein möglichst würdevolles Leben für Betroffene zunächst davon abhängt, dass Demenz von allen als dazugehörend akzeptiert wird. Es heißt immer, Betroffene sollten ermutigt werden, sich frei zu bewegen, und sie sollten einfach zum Stadtbild dazugehören. Es wird angenommen, dass die Bevölkerung nur dafür sensibilisiert werden müsste, dann unterstütze sie betroffene Menschen beim Einkaufen, im Nahverkehr oder bei Orientierungslosigkeit.

Das Sozialressort sagt allerdings, ohne dass es weiter erklärt wird, dass sich die Pflegeeinrichtungen nur in den Stadtteilen öffnen müssten, dann würden die Bewohner mit Demenz die Anbindung an das reale Leben behalten. Da mag etwas dran sein und wir sollten auch an solchen Entwicklungen arbeiten. Doch trotz einzelner Erfolge ist das gern beschriebene Szenario noch lange nicht die Realität in Bremen, meine Damen und Herren.

Der Wunsch prägt eben nicht die Wirklichkeit, die nach wie vor eher rau ist. Wer im Supermarkt einmal erlebt hat, wie sehr ein Mensch mit Demenz beim Bezahlen an der Kasse unter Druck gerät, der versteht, dass sich ein solcher Mensch derartigen Situationen zukünftig möglichst selten aussetzt. Auch die Öffnung von Pflegeeinrichtungen in den Stadtteilen bleibt trotz einiger Ansätze ein nicht näher definiertes, in die Zukunft gerichtetes Szenario.

Ja, es gibt begleitete Ausgänge und Gruppen, besonders von Kindergärten, die in die Einrichtung kommen oder sogar bei ihnen angesiedelt sind. Aber am selbstbestimmten Verlassen einer Einrichtung wird der allergrößte Teil der dementen Bewohner noch immer mit allen möglichen Tricks gehindert; denn die Gefahr der Eigen- und Fremdgefährdung ist sehr groß. Die Straße mit Autos ist direkt vor der Tür und die Orientierungslosigkeit könnte die Rückkehr verhindern. So werden Betroffene, deren Bewegungsdrang mit zunehmender Erkrankung steigt, in einer Einrichtung festgehalten und das Verlassen wird auf begleitete Situationen beschränkt.

Ich gehe zwar davon aus, dass man sich innerhalb einer Einrichtung engagiert um diese Menschen kümmert, aber Vertröstungen, Ausreden, Märchen und auch beruhigende Medikamente gehören bis heute zum Alltag dementer Menschen dazu. Die Teilhabe am realen Leben sollte doch aber ganz anders aussehen. Oder muss diese Teilhabe ab einem gewissen Erkrankungsstadium vielleicht gar nicht mehr so aussehen, wie es sich viele Menschen, einschließlich der hier im Saal und im Bremer Senat, ohne Demenz oder ohne fortgeschrittene Demenz zu haben – zum Glück – vorstellen?

Gehen wir vielleicht zu sehr von den eigenen Bedürfnissen aus und ist der Wunsch eines Nichterkrankten nach Normalität für Betroffene vielleicht zumindest teilweise nur der eigenen Angst vor der Erkrankung geschuldet? Sollten wir nicht vielmehr den Blick auf die erkrankten Menschen richten und fragen, was sie brauchen? Ihre Bedürfnisse verändern sich zwar meistens sehr langsam, aber doch beständig. Während anfangs noch viel Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist und verständnisvolle Mitmenschen viel auffangen können, wird es zunehmend schwieriger. Ab einem gewissen Punkt wird das Leben in den eigenen vier Wänden auch mit viel Hilfe von außen nicht mehr möglich sein. Dann steht fast immer der Umzug in eine Pflegeeinrichtung an.

Hier macht der Senat nun einen Unterschied zwischen sogenannten Spezialeinrichtungen, wie zum Beispiel Demenzdörfern, und in seinen Augen normalen Pflegeangeboten.

Spezialangebote scheinen dem Bremer Senat nicht nur hier, sondern grundsätzlich ein Dorn im Auge zu sein. In Demenzdörfern wird zum Beispiel aus seiner Sicht die reale Welt nur nachgebildet. Geschäfte, Cafés, Restaurants, Arztpraxen, Theater und andere Angebote sind aber real in dieser Anlage vorhanden,

(Glocke)

und die Menschen aus der Umgebung können diese eben ebenso nutzen wie die Bewohner. Ich werde gleich noch auf andere Punkte eingehen. – Danke!

(Beifall bei der CDU)

Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Kappert-Gonther.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich übernehme diese Debatte für unseren Kollegen Herrn Schmidtmann, der leider erkrankt ist. Herr Schmidtmann, falls Sie zuhören: Gute Besserung von uns allen! interjection: (Beifall)

Können Sie sich an die Reaktionen in den Medien und in Ihrem Umfeld erinnern, als sich Gunter Sachs im Mai 2011 das Leben nahm? Ich erinnere mich recht gut, dass es sehr viel Verständnis für diesen Suizid gab, nach dem Motto: Er hatte ja auch Alzheimer, da will man doch nicht mehr leben, es ist doch schrecklich, wenn man sein Gedächtnis verliert. In seinem Abschiedsbrief hatte er als Begründung auch eine „ausweglose Krankheit A“ angegeben.

Mir ging es so, und es geht mir immer noch so: Ich finde es erschreckend, wenn viele Menschen es so nachvollziehbar finden, dass sich jemand wegen einer Demenz suizidiert. Ich meine, wir müssen einen neuen Blick auf Menschen mit Demenz entwickeln: Menschen, die bestimmte Fähigkeiten verlieren, können immer noch sehr viel. Sie gehören zu uns, und sie gehören unter uns.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Es stimmt ja, wenn Frau Grönert sagt, dass der Wunsch nicht die Wirklichkeit präge. Wer prägt denn die Wirklichkeit? Wir alle gemeinsam prägen unsere gemeinsame Wirklichkeit und unseren Alltag, es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, Menschen mit Demenz in unseren Alltag zu holen und sie nicht auszugrenzen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Nach meinen Erfahrungen als Ärztin sind es auch oft die Angehörigen, die sehr unter dem Umgang und der Pflege der dementen Patientinnen und Patienten leiden, darauf hatte auch schon Frau Grönert hingewiesen. Wir müssen das also auch ernst nehmen, denn jeder, der schon einmal rund um die Uhr die Fürsorge für einen dementen Menschen hatte, weiß, wie schnell dies einen auch an den Rand dessen bringt, was man schaffen kann. Darum müssen wir, auch das ist unsere Verantwortung, auch die Unterstützung für Angehörige in diesen schwierigen familiären Situationen verbessern. Meistens ist es ein Mix der Betreuung aus Profis, Angehörigen und Nachbarn, die eine gute Hilfe darstellen.

Vor einigen Monaten haben wir Grünen hier in der Bürgerschaft eine große Fachveranstaltung zum The

ma „Demenzfreundliche Kommune“ ausgerichtet. Die Veranstaltung war sehr gut besucht. Einige von Ihnen waren ja auch dabei, und Sie werden sich vielleicht daran erinnern, dass dort ein ganz neuer und anderer Blick auf demente Menschen möglich wurde. Ich erinnere mich an eine Pastorin, die sehr berührend erzählte, dass sie mit ihrer inzwischen demenzerkrankten Mutter noch nie so einen liebevollen Kontakt hatte wie jetzt. Ich erinnere mich an die Frauen von der Initiative für Menschen mit Demenz in Obervieland, an Karin Buß vom Demenzprojekt Blumenthal und an Tanja Meier von der DIKS, der Demenz Informations- und Koordinierungsstelle.

Alle betonten, dass wir den Blick eben nicht auf die Schwierigkeiten verengen dürfen, obwohl es natürlich Schwierigkeiten gibt, die möchte auch niemand im Umgang mit Dementen und für die Dementen selbst leugnen. Wir sollten aber unseren Blick nicht auf die Schwierigkeiten verengen, sondern auch darauf, was alles überhaupt noch möglich ist, und wir sollten uns daran erinnern, welche tollen Initiativen wir hier in Bremen schon haben, Initiativen, die es ermöglichen, dass demente Menschen in ihren Stadtteilen und zum Teil auch in ihren Wohnungen bleiben können.

Alle waren sich einig: Demenz ist auch eine Aufforderung, nach Lösungen für ein Miteinander zu suchen. Die Unterstützung sollte am besten in der Wohnung oder im Quartier stattfinden. Frau Grönert, ich bin auch der Auffassung, dass wir tatsächlich keine sehr speziellen Extraangebote brauchen. Das, was dementen Menschen guttut, kommt letztlich allen Menschen im Stadtteil zugute.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Eine demenzfreundliche Umgebung ist nicht die mit den meisten Apotheken, sondern die mit der menschenfreundlichsten Infrastruktur. Kurze Wege, ein guter Kontakt in der Nachbarschaft, unkomplizierte nachbarschaftliche Hilfe und zum Beispiel so etwas wie Klarheit im Supermarkt und auch Klarheit in der Verkehrsführung, ausreichend lange Ampelphasen für Fußgänger und so weiter, das sind sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen, die für Demente gut sind, für Kinder, alte Menschen allgemein, für Rollstuhlfahrer und so weiter.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Fachleute betonen – jetzt kommt sozusagen der noch positivere Ausblick in dieser Rede –, dass Demenz nicht wie ein Damoklesschwert über uns allen zu hängen braucht. Prävention ist möglich. Im Wesentlichen sind es drei Faktoren, die vorbeugend wirken: Bewegung, Ernährung und Kontakt. Natürlich spielen individuelle Faktoren immer eine Rolle, und

man wird nicht jede demenzielle Entwicklung verhindern können, aber jeder kann vorbeugend etwas tun: Dreimal wöchentlich 30 Minuten Ausdauertraining und Bewegung in den Alltag integrieren, das ist demenzvorbeugend, und es ist eben keine grüne Ideologie, wenn wir sagen, gute Infrastruktur im Quartier, Fahrrad- und Fußwege in den Stadtteilen auszubauen ist Demenzprävention, sondern das ist wissenschaftlich bewiesen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ernährung, viel Obst und Gemüse, Olivenöl, das, was wir im Süden alle so gern am Essen mögen, wenig oder besser kein Fleisch, auch das beugt Demenz vor. Sich geistig fit zu halten und Kontakte zu pflegen ist wunderbar präventiv, Einsamkeit macht schneller dement, das sollte man alles bedenken, also, eine vernünftige, menschenfreundliche Stadtentwicklung ist Prävention. Im Umgang mit dementen Menschen ist nach meiner Erfahrung Respekt das Allerwichtigste.

(Glocke)

Ich komme zum Schluss! Wer gestern in der Unteren Rathaushalle bei der Eröffnung dieser wunderbaren Ausstellung die überlebensgroßen Portraits von dementen Menschen gesehen hat, kann vielleicht erahnen, dass es hier nicht um Menschen geht, die nur etwas verlieren. Sie verlieren natürlich auch etwas, aber in einem begleitenden Film, der gezeigt wurde, sagte eine Tochter über ihre demente Mutter, sie hätte nie das Gefühl gehabt, sie habe den Kontakt verloren. Das ist ganz schön und ermutigend. Wir brauchen also keine nachgebauten Dörfer, in denen man so tun kann, als fände dort das echte Leben statt, sondern tatsächlich echtes Leben. Wenn sich Menschen mit Demenz nicht mehr ausgeschlossen, sondern zugehörig fühlen, dann haben wir einen guten Umgang mit dementen Menschen in unserer Stadt erreicht! – Vielen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Erlanson.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Kappert-Gonther, was Sie erzählt haben, hat mir dieses Mal gar nicht gefallen, um es einmal so zu sagen!

(Abg. D r. K u h n [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Ach was!)

Ich weiß jetzt nicht, wie Ihre Erfahrungen mit Demenzkranken sind, aber Sie haben gesagt, wir bräuch

ten keine nachgebauten Dörfer. Ja, das stelle ich mir auf der einen Seite auch schwierig vor, denn ob man nun nachgebaute Dörfer oder einzelne Einrichtungen hat, für den Demenzkranken kommt die Grenze irgendwann, die Frage ist nur, wo die Grenze ist. Dabei sind Dörfer sicherlich besser als einzelne Einrichtungen, aber die Grenze wird immer kommen.

Auf der anderen Seite ist es aber so, zumindest aus meiner klinischen Erfahrung, wenn man wirklich Demenzkranke hat, dann finde ich es völlig illusorisch zu glauben, man könnte ihnen irgendwie in einem Stadtteil Freiheit und Auslauf bieten. Das funktioniert nicht!

(Zuruf der Abg. Frau D r. K a p p e r t - G o n t h e r [Bündnis 90/Die Grünen])

Also diejenigen, die ich erlebt habe, können Sie irgendwo hinstellen und dann laufen sie los. Das ist es total schwierig. Worauf ich hinaus will, ist: Natürlich wollen wir alle – ich glaube, darüber herrscht große Einigkeit –, dass die Menschen in Würde so alt wie möglich werden, wir wollen aber auch, dass, wenn sie an Demenz erkrankt sind, trotzdem in Würde leben können.

Wenn man sich dieses Dorf in der Nähe von Amsterdam anschaut, dann gibt es dort – soviel ich weiß – circa 120 Insassen. Frau Grönert, Sie wissen das.

(Abg. D r. S c h l e n k e r [Bündnis 90/ Die Grünen]: Einsitzende, nicht Insassen! – Zurufe von der CDU)

Wie viele waren es, Frau Grönert?

(Abg. Frau G r ö n e r t [CDU]: 150! – Abg. Frau N e u m e y e r [CDU]: Aber keine In- sassen!)