Protokoll der Sitzung vom 07.03.2012

Aber wenn es so sein sollte, dann wäre eine Ungleichbehandlung aufgrund einer Behinderung auch aus meiner Sicht natürlich ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz. Das ist relativ offensichtlich und mit Händen zu greifen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn es keine anderen Anknüpfungspunkte für diese Regelung als die Frage der Behinderung gibt, dann ist das, glaube ich, eindeutig; denn zu konstruieren, dass behinderte Menschen grundsätzlich anders leben, von ihren Eltern anders unterhalten werden als nicht behinderte, ist eine Fiktion und wäre eine Ungleichbehandlung, die in der Tat mit dem Grundgesetz nichts zu tun hätte.

Wir werden uns im Ausschuss intensiv damit befassen müssen, was konkret gemeint ist. Es geht ja noch ein bisschen weiter. Es gibt im Kontext des SGB II die Regelbedarfsstufe 3. Bei Menschen mit Behinderung geht es vielfach auch um Erwerbsunfähige, die wiederum die Grundsicherung für Erwerbsunfähige und im Alter erhalten können. Auch hier gibt es eine Regelbedarfsstufe 3, die ein bisschen anders formuliert ist als die im SGB II. Wir müssen also genau herausfinden, um was es da eigentlich geht, welche Zielrichtung dabei eingeschlagen wird. Wenn es darum geht, Benachteiligungen für Menschen mit Behinderung zu beseitigen, bin ich auf jeden Fall dabei, keine Frage.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens. – Das Wort hat jetzt Herr Mick für die FDP-Fraktion.

Verehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal ging es mir ähnlich wie dem Kollegen Dr. Jürgens. Ich hatte bis jetzt immer den Eindruck, dass sich die Regelbedarfsstufe 3 nicht nur an Menschen mit Behinderung richtet. Die Regelbedarfsstufe 3 ist nach meiner Kenntnis vielmehr eine Angelegenheit des SGB II. Sie betrifft Menschen über 25 Jahre, die noch bei ihren Eltern leben; sie betrifft nicht nur Menschen mit Behinderung. Insofern sind Dr. Jürgens und ich entweder demselben Irrtum aufgesessen,

(Minister Stefan Grüttner: Nein!)

oder es ist in der Tat falsch, was hier dargestellt wurde.

(Minister Stefan Grüttner: Es war falsch!)

Worum geht es eigentlich bei der ganzen Diskussion? Bei der Neuberechnung der Regelsätze wurde zwischen Menschen über 25 Jahre, die noch zu Hause, bei ihren Eltern wohnen, und Menschen über 25 Jahre differenziert, die in einem eigenen Haushalt, entweder alleine oder mit Familie wohnen. Unter die Regelbedarfsstufe 3 fallen quasi Alleinstehende, die noch bei ihren Eltern wohnen. Es wurde davon ausgegangen, dass die Menschen dieser Zielgruppe einen geringeren Bedarf haben als Menschen, die in einem eigenen Haushalt leben. Deswegen wurde verfügt, dass Menschen über 25 Jahre, die keinen eigenen Haushalt führen oder keine Verwandten zu versorgen haben, 80 % des Satzes der Regelbedarfsstufe 1 erhalten.

Das ist eine transparente Berechnung, die durchaus legitim ist, weil sich die Überlegung aufdrängt: Wenn jemand noch bei seinen Eltern wohnt, hat er zumindest geringere Kosten, als wenn er einen eigenen Haushalt führt oder eine Familie zu versorgen hat. – Diese Überlegung wurde auch auf Menschen mit Behinderung ausgedehnt, weil

man eben sagt: Ein Mensch mit Behinderung, der in einem eigenen Haushalt wohnt, hat höhere Kosten als ein Mensch mit Behinderung, der noch bei seinen Eltern wohnt. – Das ist die Überlegung, die dieser ganzen Diskussion zugrunde liegt.

Es ist noch zu erwähnen, dass Menschen mit Behinderung darüber hinaus Leistungen nach dem SGB XII erhalten. Herr Dr. Jürgens hat außerdem darauf hingewiesen, dass es auch den Fall der Erwerbsunfähigkeit gibt. Die Situation ist also komplizierter. Man kann sie nicht darauf verengen, dass diese Menschen nur auf die Regelbedarfsstufe 3 angewiesen wären. Das ist der Hintergrund der ganzen Geschichte.

Auch ich war etwas irritiert über den Text des Antrags der LINKEN, der uns jetzt vorliegt. Auf der einen Seite soll die Regelbedarfsstufe 3 abgeschafft werden. Das betrifft dann alle. Der Antragstext geht dann doch in eine differenziertere Richtung und sagt, es soll überprüft werden. Das ist richtig und wurde von der Bundesregierung auch zugesagt.

Der Rede von Herrn Dr. Wilken habe ich jetzt aber entnommen, dass seitens der Linkspartei doch eher die Abschaffung, also die populistischere Variante bevorzugt wird. Insofern bin ich gespannt. Der Antrag wird ja dem Sozialpolitischen Ausschuss überwiesen. Dort können sich die Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei noch einmal dazu äußern.

Ich denke, man muss über die Höhe der Regelbedarfe insgesamt reden. Wenn es zu unvertretbaren Härten bei der Neuberechnung der Regelsätze gekommen sein sollte, verschließen wir uns einer Neuberechnung natürlich nicht. Das aber pauschal abzutun und zu sagen, das müssten wir abschaffen, es liege eine Ungleichbehandlung vor, dazu muss ich sagen: Ich persönlich kann eine solche Ungleichbehandlung nicht erkennen.

Warum soll eine Ungleichbehandlung darin liegen, dass Menschen ohne Behinderung, die bei Ihren Eltern leben, etwas weniger bekommen, als die, die in einem eigenen Haushalt leben, und auch Menschen mit Behinderungen, die bei ihren Eltern leben, etwas weniger bekommen? Das kann man zwar in der Sache kritisieren, aber eine Ungleichbehandlung und eine Unvereinbarkeit mit Art. 3 Grundgesetz sehe ich darin nicht.

Die Bundesregierung hat bereits angekündigt, dass die Regelbedarfsstufe einer Überprüfung zugeführt wird. Ich denke, das ist der richtige Ansatz. Der Kollege Utter hat schon erwähnt, dass ein Forschungsauftrag an die Uni Bochum vergeben wurde, um den Bedarf zu ermitteln, ob unberechtigte Härten enthalten sind. Wenn ein Mensch mit Behinderung vor der Neuberechnung der Regelsätze in der Bedarfsstufe 1 374 € bekommen hat und jetzt 299 € bekommt, ist das natürlich eine Härte, die ihn trifft. Das ist klar. Wenn hier Reformbedarf besteht, verschließen wir uns natürlich nicht, aber ich denke, wir sollten den Prozess, der auf Bundesebene angestoßen wurde, abwarten. Wir sollten abwarten, was die Neuberechnung ergibt. Insofern bedurfte es dieses Antrags nicht. Die LINKEN haben aber im Sozialausschuss noch einmal Gelegenheit, uns die tiefere Intention dieses Antrags zu erklären. Darauf bin ich sehr gespannt.

(Beifall bei der FDP – Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Das machen wir doch gerne!)

Vielen Dank, Herr Kollege Mick. – Das Wort hat Herr Grüttner für die Landesregierung.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Problem ist in der Tat dadurch entstanden, dass ein Antrag abgeschrieben und mit einer falschen Überschrift versehen worden ist. Insofern hat die Diskussion eine Richtung bekommen, bei der man nicht genau wusste, was eigentlich gemeint ist.

Die Fragestellungen, die hinter dem Antrag der Fraktion DIE LINKE letztendlich stehen, sind schon längst beantwortet worden. Man hätte ja, statt das abzuschreiben, was Fraktionen der LINKEN in anderen Landtagen an Anträgen stellen – das ist der zentralistischen Struktur der Partei geschuldet –, auch einmal in Bundestagsdrucksachen schauen können. Dort wäre man beispielsweise auf die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Abg. Kipping der Bundestagsfraktion der LINKEN gestoßen. Ich zitiere aus der Antwort:

Zusammengefasst bedeutet dies aus Sicht der Bundesregierung, dass es kurzfristig keine Handlungsmöglichkeiten gibt. Sozialhilferechtlich gibt es keine Begründung für eine Anhebung des Regelsatzes für behinderte Menschen, die unter die Regelbedarfsstufe 3 fallen. Eine ergebnisoffene valide und statistisch unterlegte Überprüfung der Regelbedarfsstufe 3 kann erst erfolgen, wenn für die hierfür erforderliche Regelbedarfsermittlung eine entsprechend dem in § 10 RBEG enthaltenen Auftrag weiterentwickelte Konzeption zur Verfügung steht.

Ich habe extra zitiert, damit die Kollegen, die mit diesem Sachverhalt nicht jeden Tag zu tun haben, einmal sehen, mit welchen Sachverhalten es die Sozialpolitik in den Bereichen der unterschiedlichen Sozialgesetzbücher zu tun hat.

Die Antwort der Bundesregierung ist klar. Ich will an dieser Stelle verdeutlichen, was es heißt, dass momentan keine Möglichkeit einer zeitnahen Überprüfung oder eines vorgezogenen Abschlusses einer entsprechenden Überprüfung besteht. Dafür gibt es eine Reihe fachlicher Gründe. Einige davon hat insbesondere Herr Kollege Mick eben schon angesprochen.

Ich will in aller Kürze zu verdeutlichen versuchen, dass es keine fachlichen Anhaltspunkte gibt, den Personenkreis, der in dem Antrag genannt ist, in der Regelbedarfsstufe 1 zu erfassen. Eine Änderung oder Neuzuordnung in eine andere Regelbedarfsgruppe erfordert nämlich immer die Beachtung des Gleichgewichts unter den einzelnen Regelbedarfssystemen. Es muss also unter Beachtung der erhobenen Daten und auf der Basis der Auswertungen beziehungsweise Sonderauswertungen der Einkommensund Verbraucherstichprobe eine entsprechende Bewertung der Gleichbehandlung der Leistungsberechtigten hinsichtlich der Bedarfe vorgenommen werden.

Einzelfallbezogene Konstellationen werden hierbei nicht berücksichtigt. Somit, das muss man deutlich sagen, werden auch keine speziellen behinderungsspezifischen Bedarfe berücksichtigt. Dafür gibt es nämlich das SGB XII, das die Mehrbedarfe regelt, die beispielsweise im Rahmen von Eingliederungshilfeleistungen gewährt werden können. Im Rahmen des SGB XII kann im Einzelfall auch ein abweichender individueller Bedarf festgelegt werden.

Es darf aber auch nicht außer Acht gelassen werden, die Frage zu beantworten, welcher Personenkreis eigentlich unter die Regelbedarfstufe 3 fällt. Herr Kollege Mick hat das eben ausgeführt. Im Gespräch ist der Personenkreis der Menschen mit Behinderungen ab Vollendung des 25. Lebensjahrs. Unter die Regelbedarfsstufe 3 fallen aber auch schon Menschen mit Behinderungen ab vollendetem 18. Lebensjahr. Weiter fallen darunter ältere Menschen, die im Haushalt eines ihrer Kinder leben. Das bedeutet für eine Änderung, die an dieser Stelle schon unter dem Gesichtspunkt angesprochen worden ist, Konsequenzen.

Man muss sich das folgendermaßen vergegenwärtigen. Die Regelbedarfsstufensysteme knüpfen bei den erwachsenen Leistungsberechtigten immer an das objektive Kriterium der Haushaltsführung an. Eine Aufhebung dieser Systematik für die Regelbedarfsstufen 1 und 3 hätte beispielsweise für Menschen mit Behinderungen bedeutsame Auswirkungen. Menschen mit Behinderungen ohne eigenen Haushalt würden in diesem Moment Menschen mit Behinderungen mit eigenem Haushalt gleichgestellt. Das ist eindeutig eine Ungleichbehandlung der zweiten Gruppe gegenüber der ersten Gruppe. Das können Sie doch nicht intendieren mit dem, was Sie hier beantragen und wofür Sie sich mit ihren Argumenten einsetzen.

Herr Mick hat auch von der Personengruppe der Nichtbehinderten gesprochen. Es gäbe hier eine Ungleichbehandlung gegenüber den Leistungsberechtigten, die nicht behindert sind. Wir müssen uns, wenn wir schon in die Regelbedarfssysteme hineinschauen, beispielsweise auch das System der Regelbedarfsstufe 2 vornehmen. Hier darf es nicht zu einer unzulässigen Benachteiligung von Paarhaushalten, insbesondere von Ehepaaren, kommen.

Eine Regelsatzanhebung für Menschen mit Behinderungen ohne valides Datenmaterial würde letztlich auch die Unterstellung bedeuten, dass in der Durchschnittsbe trachtung ein spezieller und gegenüber anderen Leistungsberechtigten vor allem höherer Lebensunterhaltsbedarf besteht. Doch dafür gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte. Letztendlich würde das wieder zu einer Ungleichbehandlung führen.

Das sind nur einige Fehler, die mit der Argumentation, die hier vorgetragen worden ist, verbunden sein können, es sei denn, wir haben im Rahmen der Einkommens- und Verbraucherstichprobe – aufbauend auf einer validen Betrachtung – eine gute Datengrundlage geschaffen, um eventuelle Benachteiligungen ausgleichen oder beseitigen zu können. Aber dafür haben wir zurzeit keine validen Anhaltspunkte. Die Überprüfungen sind in den Weg geleitet. Die können wir nicht beschleunigen, sondern müssen uns mit den Daten begnügen, die an dieser Stelle vorliegen.

Das führt sicherlich dazu, dass in den gesamten Diskussionen noch kein einziger Antrag auf ein Bundesratsverfahren diesen Sachverhalt betreffend eingebracht worden ist. Das liegt auch daran, dass mir noch der Antrag des sachsen-anhaltinischen Kollegen vorliegt, der bei der ASMK eingegangen wäre.

Sicherlich ist das im Rahmen unserer gesamten Bemühungen um Inklusion und um eine Weiterentwicklung und Reform der Eingliederungshilfe sowie des SGB III ein Thema. Nur, man muss es mit Sorgfalt und mit Argumenten angehen; denn wir dürfen Menschen mit Behinderungen, die allein leben oder selbst den Haushalt führen, nicht das Gefühl geben, dass wir sie in Zukunft ungleich behandeln. In diese Richtung würde das gehen. Das kann

aber nicht im Interesse des Hessischen Landtags sein. – Danke schön.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Grüttner. – Wir haben den Antrag unter Tagesordnungspunkt 12 besprochen und überweisen ihn zur weiteren Beratung an den Sozialpolitischen Ausschuss.

Jetzt habe ich folgendes Problem: Wir haben vereinbart, dass wir bis 18 Uhr tagen. Ich muss dringend nach Hause. Es gibt hier aber noch den Wunsch, Tagesordnungspunkt 13 das Hessische Ried betreffend zu behandeln. Deshalb möchte ich bei den Geschäftsführern nachfragen, ob wir diesen Tagesordnungspunkt jetzt noch behandeln oder nicht. Ich sage aber gleich, dass ich nicht mehr da sein werde. – Der Präsident kommt schon, sehr gut. Ich bitte um Hinweise dazu, ob wir den Tagesordnungspunkt noch behandeln oder nicht.

(Günter Rudolph (SPD): Wir sind damit einverstanden!)

Gut. Der Herr Präsident löst mich ab. Wir behandeln den Tagesordnungspunkt. Dann rufe ich ihn auf.

(Günter Rudolph (SPD): Nein, es ist noch nicht geklärt! – Gegenruf des Abg. Mathias Wagner (Tau- nus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist das denn jetzt?)

Es ist nicht geklärt. Gut. Dann klären wir es erst einmal.

(Präsident Norbert Kartmann übernimmt den Vor- sitz.)

Ich habe die Frau Kollegin abgelöst, weil sie uns mitgeteilt hat, dass sie etwas anderes machen muss. Ich bitte um Entschuldigung. Das ist eine Frage der Kollegialität. – Herr Rudolph, zur Geschäftsordnung.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Die Einladung war: bis 18 Uhr!)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eine Einladung bekommen, auf der steht, dass die heutige Plenarsitzung bis 18 Uhr dauert. Wir haben noch einen Punkt aufgerufen. Dass dies bis nach 18 Uhr dauern würde, war völlig unstrittig. Es gibt augenscheinlich den Wunsch der CDU-Fraktion, einen weiteren Punkt zu behandeln.

Nach meinem Kenntnisstand haben wir zwei Empfänge. Die Veranstalter haben sich darauf eingerichtet. Es ist auch die Frage, wie wir mit solchen Organisationen umgehen. Wir tagen auch länger; das ist nicht der Punkt. Aber wir sollten uns über ein Verfahren verständigen, zumal das Ende der Sitzung so angekündigt war. Der eine oder andere hat Termine; das wollte ich nur zur Kenntnis geben. Wenn wir jemanden im Landtag haben, der Veranstaltungen durchführt, hat er auch ein Recht darauf, vernünftig behandelt zu werden. Aber, wie gesagt, es scheint der Wunsch einer Fraktion zu sein. Dann muss man das auch so entscheiden.

(Minister Stefan Grüttner: Das gilt aber durchgän- gig!)

Wir würden ansonsten Ihre Auffassung teilen, die Plenarsitzung für heute zu beenden.

Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? – Herr Kollege Bellino.