Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

Herr Kollege Rentsch, ich glaube, dass wir der Ernsthaftigkeit der Debatte und den Sorgen vieler Menschen nicht gerecht werden, wenn wir in die Debatte hineingehen und von vornherein Dogmen aussprechen.Wir haben vom Ministerpräsidenten gehört, die Lösung von Problemen würde man leichter finden, wenn man ideologiefrei herangeht. Herr Kollege Rentsch, ich würde mir wünschen, dass wir in dieser Debatte weder die Ideologie der FDP hätten, dass Steuersenkungen allein alle Probleme lösen,

noch dass wir die Ideologie der Linkspartei hätten, dass Schulden allein alle Probleme lösen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Das haben wir nicht gesagt! – Weitere Zurufe von der LINKEN)

Beides wird der Debatte nicht gerecht. Herr Kollege Rentsch, wir haben im laufenden Haushalt eine Deckungslücke zwischen Einnahmen und Ausgaben von 3,4 Milliarden c. Nächstes Jahr werden es 2,8 Milliarden c sein. Die Menschen haben Sorge, wie diese Lücke wieder geschlossen wird. Wenn die Menschen hören, es gibt eine Partei, die einen Weg zur Schließung dieser Lücke kategorisch ausschließt und damit impliziert, dass sie glaubt, diese Lücke allein durch Streichungen von Leistungen schließen zu können, dann macht das vielen Menschen Angst. Denn die Menschen wissen, dass der Staat kein Selbstzweck ist, sondern dass der Staat ganz viele, elementar wichtige Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger erfüllt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Rentsch, deshalb müssen wir bei aller Gemeinsamkeit, die es in dieser Debatte gibt, ergebnisoffen in die Debatte gehen: Wie realisieren wir die Schuldenbremse? Wir müssen offen an die Frage herangehen:Welche Mischung brauchen wir zwischen den drei finanzpolitischen E, nämlich Effizienzsteigerungen, Einsparungen und Einnahmeverbesserungen? Wer von vornherein einen Weg ausschließt, der will die Schuldenbremse zur Durchsetzung einer Ideologie nutzen. Der schadet damit der Sache. Herr Kollege Rentsch, ich hoffe, so haben Sie es nicht gemeint. Aber Sie können gleich noch einmal sagen, wie Sie es gemeint haben. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Rentsch hat Gelegenheit zur Antwort.

Lieber Kollege Wagner, vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, das Missverständnis, das bei den GRÜNEN entstanden ist, aufzuklären. Zunächst einmal ging es mir darum, dass wir, wenn wir über die Frage der Staatsfinanzen reden, die Pflicht haben, zunächst unsere Hausaufgaben zu machen. Unsere Hausaufgaben bedeuten, dass wir nicht den Menschen mehr Geld wegnehmen, sondern dass wir schauen, wo wir sparen können, wie das jeder Private machen würde. Da kann es doch zwischen uns keinen Dissens geben.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Zweitens. Gibt es möglicherweise einen Zusammenhang? Da, gebe ich zu, habe ich die Überzeugung, dass so, wie der Staat sein Steuersystem organisiert, sich auch die Einnahmeseite entwickelt. Wir waren gestern Abend bei den sogenannten Familienunternehmern. Diese Unternehmer sind diejenigen, die die Steuern bezahlen, aus denen wir das Ganze finanzieren sollen.

(Günter Rudolph (SPD):Andere zahlen auch Steuern! So ein Quatsch! – Weitere Zurufe)

Das sind z. B. diejenigen, die die Steuern zahlen. Seien Sie nicht immer so respektlos gegenüber Unternehmern, sondern haben Sie auch ein bisschen Anstand.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU – Günter Rudolph (SPD): Oberlehrer! – Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Deshalb müssen wir uns überlegen, wie wir ein System organisieren, damit es in diesem Land so viele Arbeitsplätze wie möglich gibt, Menschen, die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zahlen. Denn nur dann werden wir überhaupt über die Lösung der Probleme bei den Staatsfinanzen sprechen können. Das ist der Anfang, und das ist der richtige Weg.

Sie sagen ständig, Sie wollen auch über die Einnahmeseite, über Steuer- oder Abgabenerhöhungen sprechen. Ich bitte Sie – das ist in der Debatte auch wichtig –, dass Sie dann die nächsten Monate nutzen, diese doch sehr theoretisch formulierten Ansprüche einmal konkret zu unterlegen. Es ist doch auch wichtig, dass die Menschen wissen, welche Abgaben und Steuern Sie im Zweifel in Hessen erhöhen wollen, was Sie den Menschen wieder wegnehmen wollen.In diesem Diskurs werden wir uns bewegen. Dann werden wir auch unterschiedliche Punkte austauschen.

Ein letzter Punkt zum Thema Einnahmeseite, wo wir vielleicht zusammenkommen. Ich hatte das auch gestern und vorgestern sehr ausführlich gesagt. Natürlich gibt es eine Möglichkeit, die Einnahmeseite für das Land Hessen zu verbessern: indem wir es schaffen, dass wir einen neuen Länderfinanzausgleich bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Judith Lannert (CDU))

Herr Kollege Rentsch, Sie müssten zum Schluss kommen.

Letzter Satz, Frau Präsidentin. – Wenn wir sehen, dass wir nächstes Jahr ca. 2,3 Milliarden c in den Länderfinanzausgleich zahlen, dann erkennen wir, was mit den Einnahmen von hessischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern passiert. Sie bleiben nicht in Hessen, sondern sie wandern in andere Bundesländer.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, da haben wir Handlungsbedarf.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Rentsch. – Nun hat Herr Finanzminister Dr. Schäfer für die Landesregierung das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sind in dieser Debatte zur Verfassungsänderung gut beraten,die üblichen parteipolitischen Auseinandersetzungen zur Finanz- und Haushaltspolitik, die wir zu Haushaltsdiskussionen ritualisiert in diesem Hause führen, ein Stück beiseitezulassen.

Wir diskutieren heute nicht über die Frage, ob wir nun die eine oder andere finanzpolitische Schwerpunktsetzung links- oder rechtsherum konkret vorzunehmen haben, sondern wir diskutieren wahrhaft ein Stück in historischen Dimensionen. Die Frage, die Sie als Landesparlament vorzubereiten und die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes dann möglicherweise zu entscheiden haben, ist: Macht man mit dem Paradigmenwechsel in einer langfristigen Entscheidung über das Jahr 2020 hinaus Ernst? Ich bin froh, dass heute so viele junge Menschen den Landtag besuchen und diese Debatte verfolgen, denn um deren Zukunft und Perspektiven in ihrem Leben geht es bei dieser Diskussion in Wahrheit.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich glaube, dabei sind wir klug beraten – ich wiederhole es –, so manchen Zungenschlag der parteipolitischen Alltagsauseinandersetzung außen vorzulassen.

Lassen Sie mich zu einigen Punkten, die in der Diskussion angesprochen worden sind, kurz Stellung nehmen. Natürlich sind die Befürchtungen der Kommunen in dieser Diskussion berechtigt, die fragen: Wo bleiben wir am Ende? Wir haben die Diskussion schon in der Föderalismuskommission II auf Bundesebene gesehen, wo man gemeinsam mit den Kommunen entschieden hat – das darf man auch nicht vergessen –, die Kommunen von der grundgesetzlichen Regel der Schuldenbremse auszunehmen.

Natürlich beobachten die Kommunen, dass die Schuldenbremse jetzt in allen Ländern auf unterschiedlichem rechtlichem Wege verankert wird. Die Befürchtung, dass das letzte verbleibende Fenster für Verschuldung bei den Kommunen am Ende von Bund und Ländern genutzt wird, egal welcher parteipolitischen Farbe man jeweils angehört, ist jedenfalls berechtigt. Deshalb sage ich für die Landesregierung ausdrücklich: Wir sind für eine Erörterung der Frage offen, ob es eine Möglichkeit gibt, dieser Befürchtung durch gesetzliche, möglicherweise auch verfassungsrechtliche Klarstellungen ein Stück entgegenzuwirken.

Ob das am Ende zu der von den Kommunalen Spitzenverbänden vorgeschlagenen Ergänzung des Art. 141 führt oder ob man sich vielleicht den Art. 137 noch einmal genauer anschaut,ist eine Frage,die wir in den Diskussionen der nächsten Wochen sicherlich intensiv miteinander erörtern müssen. Ich will für die Landesregierung aber auf jeden Fall erklären: Wir sind ausdrücklich offen, zu der Frage in Gespräche einzutreten, ob es dort eine Möglichkeit gibt, gerade vor dem Hintergrund, dass natürlich die Volksabstimmung gemeinsam mit einer Kommunalwahl stattfindet.

Gestatten Sie mir vielleicht auch diese Bemerkung: Wem das am Ende parteipolitisch nutzt oder schadet, wird nach der Kommunalwahl feststehen. Ich weiß, dass es in allen politischen Gruppierungen kontrovers diskutiert wird. Am Ende wird es ein Thema politikwissenschaftlicher Dissertationen werden, und am Ende werden wir auch nicht schlauer sein.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein bisschen mehr Respekt vor dieser Wissenschaft!)

Aufgrund der Tatsache, dass diese Volksabstimmung gemeinsam mit der Kommunalwahl stattfindet, ist es umso wichtiger, den Kommunen eine größtmögliche Sicherheit dafür zu geben, dass die Schuldenbremse am Ende nicht

auf Kosten der kommunalen Seite ausgetragen wird. Das ist an dieser Stelle, glaube ich, die zentrale Botschaft.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Gestatten Sie mir auch eine sachliche Richtigstellung. Bei der Frage von Steuerrechtsänderungen der vergangenen Monate und Jahre wird immer wieder gern die Hotelierbesteuerung zitiert.Wenn man genauer hinschaut, wie die Steuerentlastungen der letzten Jahre zustande gekommen sind, muss man ziemlich genau feststellen, dass die allermeisten, auch die voluminösesten Steuersenkungen in breitem Konsens aller Parteien getroffen worden sind.

Die Wiedereinführung der Pendlerpauschale, das Bürgerentlastungsgesetz, die Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrags sind alles Projekte, von denen ich glaube, dass sie in den letzten Jahren weitestgehend in breitem Konsens aller demokratischen Parteien gemeinsam getragen worden sind. Deshalb ist es alles andere als besonders redlich, zu glauben, man müsse das jetzt in Klein-Klein auseinanderdividieren. Diese strukturellen Belastungen haben wir gemeinsam gewollt, und wir müssen sie gemeinsam verantworten. Die Dinge an dieser Stelle parteipolitisch zu betrachten, halte ich für falsch.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,lassen Sie mich deshalb auch eine Bemerkung zur Diskussion meine Schulden/deine Schulden machen.Wenn man sich einmal die staatliche Gesamtverschuldung der Jahre 1970 bis Ende 2009 anschaut, da sind wir statistisch ganz gut aufgestellt, muss ich Sie mit der Zahl 2.539 vertraut machen. Das ist der Prozentsatz, um dem die staatliche Gesamtverschuldung seit 1970 in allen Gebietskörperschaften, Bund, Ländern und Gemeinden, gestiegen ist. Die politische Zusammensetzung all der Parlamente, die dafür Verantwortung getragen haben, ist so bunt wie auch dieses Parlament. Deshalb gehört diese Klein-Klein-Diskussion, welcher Euro und welche D-Mark von wem waren, auch nicht in diese Debatte; an deren Stelle müssen die gemeinsame Verantwortung, die gemeinsame Überzeugung stehen, dass es richtig ist, mit dieser Sache Schluss zu machen. Darum geht es in dieser Diskussion.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Gernot Grum- bach (SPD):Warum machen Sie das nicht?)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb werden wir das in der Diskussion mit externen gesellschaftlichen Kräften, aber auch mit Menschen, die sich seit vielen Jahren wissenschaftlich professionell damit beschäftigen, erörtern – ich bin sehr dankbar, dass das Fenster für Anhörungen und Erörterungen ein Stückchen breiter gestaltet wird,als das in den üblichen parlamentarischen Regeln der Fall ist, um die Gelegenheit zu haben, all die offenen Fragestellungen, von der Konjunkturkomponente bis zu der Frage, wie wir die Planungssicherheit für die Kommunen dauerhaft herstellen können, zu klären –, um ein Höchstmaß an Klarheit zu haben, bevor wir hier in die Schlussabstimmung über die Frage eintreten: Machen wir die Verfassungsänderung, oder nicht?

Lassen Sie mich zum Schluss sagen:Am Ende werden wir gemeinsam zu Recht die Verschuldung dieses Landes beklagen, mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in der Frage: Kann man das schneller abbauen, oder nicht? Das will ich gar nicht infrage stellen. Aber wenn wir mit innerer moralischer Legitimation weiterhin die Verschuldung des Landes beklagen wollen, dann müssen wir uns gemeinsam auf den Weg dieser Schuldenbremse machen. Tun wir das nicht, wird die eigene Argumentation im Beklagen von Schulden unglaubwürdig. Diese Frage müssen

alle in diesem Hause gemeinsam beantworten und dann eine Entscheidung treffen, wie sie sich bei der jetzt anstehenden Frage zu entscheiden haben.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die bisherige Debatte hat gezeigt,dass es eine gute Chance für einen relativ großen demokratischen Konsens geben kann, um diese Dinge zu erreichen. Ich glaube, alle Beteiligten sind klug beraten, sich nicht aufgrund kurzsichtiger parteipolitischer Motivation einem solch großen Konsens,wie es ihn auf der Bundesebene gegeben hatte, zu entziehen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Dr. Schäfer. – Nun hat Herr SchäferGümbel für die SPD-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich noch einmal zu Wort gemeldet,weil ich die Chance, die Florian Rentsch beschrieben hat, nach den Einlassungen von Herrn Wagner hier noch einmal aufnehmen möchte. Im Kern führen wir diese Debatte im Hessischen Landtag zwei Jahre zu spät. Eigentlich hätte diese Debatte vor der Entscheidung im Deutschen Bundestag und im Bundesrat über die Ausgestaltung des Grundgesetzes beginnen müssen. Das ist ein Versäumnis von uns allen.

(Zuruf von der CDU: Das hätten Sie machen kön- nen!)

Nun ist das für die Regierungsfraktionen einfacher, weil sie über den Bundesrat, was das Landesinteresse angeht, ein Stück weit näher an bestimmten Entscheidungen sind. Ich rede jetzt nicht über Parteipolitik, sondern über das Landesinteresse, weil der Bund natürlich der Zusammenschluss der Bundesländer ist und nicht umgekehrt. Das ist auch der juristische Grund, warum die Klage von Schleswig-Holstein bei manchen inzwischen für ein bisschen Nervosität sorgt, da sie nicht nur gut begründet ist, sondern vor dem Bundesverfassungsgericht auch Erfolg haben könnte, weil der Bund nicht einfach in die elementaren Rechte der Landtage eingreifen kann, erst recht nicht, wenn es um das Haushaltsrecht geht.

Deswegen wäre es gut gewesen, diese Debatte vor zwei Jahren zu führen, weil wir dann vielleicht den einen oder anderen Hinweis auf die Ausgestaltung hätten geben können und weil es ein paar Schwierigkeiten gibt, die uns unabhängig davon, wo wir parteipolitisch stehen, einholen werden. Deswegen gehört es zur Redlichkeit dazu, dass wir über den Aufgabenkanon reden müssen; zu den Staatszielen hat Norbert Schmitt etwas gesagt, und er hat auch etwas zu dem schwierigen Spannungsverhältnis gesagt, das wir alle haben, auf der einen Seite den Schuldenstaat nicht zu wollen, aber gleichzeitig keine Bildungspolitik nach Kassenlage.

Dieses Spannungsverhältnis wird uns weiterhin begleiten. Ich will es an einem Thema darstellen, das politisch nicht umstritten ist. Wir alle wissen, dass wir durch die Inklusion, die Integration von Menschen mit Behinderungen in den Regelschulen, einen erheblichen Bedarf an Investitionen in die Bildung haben. Die spannende Frage ist natürlich, wie diese Themen unter den Bedingungen von

Haushaltskonsolidierung und Schuldenbremse überhaupt noch angegangen werden können. Was heißt das für die Ausgestaltung des Haushalts? Das ist das Verantwortungs- und Spannungsverhältnis, in dem wir alle stehen. Deshalb nehmen wir die Debatte sehr ernst und wollen sie mit Ihnen führen.