Protokoll der Sitzung vom 06.10.2011

Aber derzeit ist die Situation, wie sie ist. In vielen Bereichen der Wirtschaft gibt es solche Modelle eben nicht, und sie werden auch nicht so gefördert, wie es eigentlich sein müsste. Solange man sich in der Industrie davon freikaufen kann, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, werden wir auf diesem Gebiet keinen Schritt weiterkommen.

(Judith Lannert (CDU): „Freikaufen!“)

Ich will nicht, dass das eine gegen das andere ausgespielt wird. Darum geht es mir bei meiner Positionierung.

(Beifall bei der LINKEN)

Zur Erwiderung hat Herr Dr. Jürgens das Wort. Bitte.

Frau Schott, das Problem ist doch, dass Sie das eine gegen das andere ausspielen. Sie tun so, als ob jede Alternative zu den Werkstätten eine Verschlechterung wäre. Natürlich wissen auch wir, dass es nicht einfach ist, Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen in der Wirtschaft unterzubringen. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten. Es gibt Integrationsbetriebe, die unterstützte Beschäftigung und viele andere Maßnahmen, die aktiv verfolgt werden müssen.

Wenn versucht wird, auf diesem Wege Alternativen zur Beschäftigung in einer Werkstatt zu entwickeln, finde ich das nicht falsch. Ich finde das richtig. Nicht jede Änderung an der gegenwärtigen Situation der Werkstätten bedeutet eine Verschlechterung für Menschen mit Behinderungen. Sie kann auch – das hoffe ich – eine deutliche Verbesserung sein. Daran arbeiten wir.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Fraktion der FDP hat Herr Mick das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon viel gesagt worden. Ich kann nahtlos an die Ausführungen der Kollegen Utter und Dr. Jürgens anknüpfen.

Es ist immer schwierig, wenn eine Große Anfrage gestellt wird. Ich kann Ihnen nicht ersparen, dass ich auf das hinweise, was ich bei der Behandlung jeder Großen Anfrage sage: Es ist einfach unbefriedigend, weil man vorher nicht weiß, in welche Richtung die Anfrage zielt. Ich fände es besser, wenn die betreffende Fraktion – falls sie sowieso bestimmte Ziele verfolgt und politische Botschaften herüberbringen will – einen Antrag stellen würde. Dann wäre das präziser.

Bei einer Großen Anfrage besteht immer die Gefahr, dass jeder das erzählt, was er sowieso sagen wollte, und dass man sich relativ wenig mit den Forderungen befasst. Auch die Pressemitteilung, die die Fraktion DIE LINKE zu dem Thema herausgegeben hat, hatte mit dem Text der Anfrage und der Antwort relativ wenig zu tun.

Worum geht es? Es ist schon gesagt worden, dass sich die Anfrage und die Antworten darauf mit der 86. Arbeitsund Sozialministerkonferenz und den dort beschlossenen Eckpunkten zur „Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen“ befassen. Im Mittelpunkt steht ein personenzentrierter Ansatz. Es geht darum, die Eingliederungshilfe, die bisher institutionenbezogen war, auf einen personenzentrierten Ansatz umzustellen.

Das ist – auch in der 84. Arbeits- und Sozialministerkonferenz ist das schon angesprochen worden – eine an dem Leitmotiv „Bürgerrechte statt Fürsorge“ anknüpfende Politik. Insbesondere vor dem Hintergrund der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen ist das interessant. Es ist ein weiterer Baustein zur Umsetzung dieser UN-Konvention in Deutschland.

Folgende Eckpunkte sollen dabei Berücksichtigung finden: die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einem personenzentrierten Teilhabesystem durch die stärkere Berücksichtigung der individuellen Bedarfe, die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einem durchlässigen und vor allem flexiblen Hilfesystem und die Schaffung von Beschäftigungsalternativen für Menschen mit Behinderungen, insbesondere Alternativen zu den Werkstätten.

Ich bin dem Kollegen Dr. Jürgens dankbar dafür, dass er die Frage nach der Politik der Kostendämpfung, die von den Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei aufgeworfen worden war, zurückgewiesen und dargestellt hat, dass es dort erhebliche Kostensenkungspotenziale gibt, wenn man die Hilfesysteme am Menschen ausrichtet; denn dann braucht man weniger Institutionen. Es ist klar, dass dies zu einer Entbürokratisierung des Systems führt und dass uns ein am Menschen orientiertes Hilfesystem die Möglichkeit gibt, Kosten einzusparen. Trotzdem geht damit eine Verbesserung der Leistung für die Menschen einher.

Wir müssen uns anschauen, was am Ende bei den Menschen ankommt. Durch den Bürokratieabbau lassen sich erhebliche Kostensenkungspotenziale realisieren, was nicht notwendigerweise zu einer Verschlechterung der Leistungen führt, sondern, im Gegenteil, aufgrund eines am Menschen orientierten Hilfesystems eine Verbesserung zur Folge hat.

Ich kann Ihnen einen Hinweis nicht ersparen: Wenn man sich die Anfrage durchliest und sich mit den Fragen zu den Werkstätten näher befasst, bekommt man den Eindruck, alle Alternativen zu den Werkstätten seien kritisch zu sehen. Es ist so, dass ein Mitglied des Landeswohlfahrtsverbands sehr aktiv im Sinne der LINKEN ist, was die Werkstätten betrifft. Das will ich nicht verurteilen. Das ist trotz

dem ein guter Mann; wir haben im Rahmen der LAG Werkstätten immer gut mit ihm zusammengearbeitet – nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht.

Aber es ist anzumerken, dass diese Fragen aus der Perspektive der Werkstätten gestellt wurden und dass diese Person offensichtlich federführend war. Ich verurteile das nicht. Aber man erkennt die Absicht. Es ist klar, dass jemand, der für die Werkstätten arbeitet, auch ein bisschen eifersüchtig darüber wacht, dass – um es einmal so zu sagen – die Rechte und Privilegien der Werkstätten nicht beschnitten werden. Das ist menschlich nachvollziehbar. Es kann aber nicht davon ablenken, dass wir außerhalb der Werkstätten Beschäftigungsalternativen für Menschen mit Behinderungen brauchen.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Das machen wir doch gerade!)

Zu diesem Ziel bekennen wir uns auch als FDP-Fraktion. Die Landesregierung hat dargestellt, dass es dort viele Ansätze gibt, beispielsweise von der Diakonie. Darauf wurde dankenswerterweise hingewiesen. Ich möchte es kurz machen, denn der Rest ist letzten Endes nur eine Wiederholung dessen, was Herr Dr. Jürgens und Herr Utter gesagt haben. Deswegen noch einmal: Wir bekennen uns zu den Beschlüssen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz.

Übrigens ein letzter Punkt, das hätte ich fast vergessen. Herr Decker, Sie haben gesagt: Die Menschen mit Behinderungen sind mit dem unzufrieden, was seitens der Landesregierung bei der Arbeits- und Sozialministerkonferenz erreicht wurde. – Da waren auch SPD-Sozialminister dabei. Die Beschlüsse der Arbeits- und Sozialministerkonferenz sind einstimmig gefallen.

(Wolfgang Decker (SPD): Nein, das ist ein ganz anderes Thema!)

Wenn Sie damit unzufrieden sind, dann müssen Sie sich nicht nur an die Landesregierung wenden, sondern auch an Ihre Kolleginnen und Kollegen Sozialminister in den anderen Ländern. Das sind einstimmige Beschlüsse; die SPD war mit dabei. Insofern ist der Eindruck, den Sie erwecken wollen, dass nur die Landesregierung in Hessen und Schwarz-Gelb daran schuld wären, so nicht korrekt.

(Beifall bei der FDP und der CDU – Wolfgang De- cker (SPD): Falsches Thema!)

Nein, nicht „falsches Thema“; Sie haben es so dargestellt. Wenn es nicht Ihre Intention war, dann ist es doch okay, dass ich jetzt dieses Bild geraderücken konnte. Insofern brauchen Sie mir da gar nicht zu widersprechen.

(Leif Blum (FDP), zur SPD gewandt: Da müssen Sie sich bei der FDP bedanken!)

Insofern noch einmal: Wir bekennen uns auch zu den Zielen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, zu der Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen auch in Deutschland. Dieses Ziel, eine Reform der Eingliederungshilfe hin zu einem flexiblen System, wird von uns ausdrücklich geteilt. Auch wir sind auf die Vorlage des Aktionsplans im November gespannt. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Vielen Dank, Herr Mick. – Das Wort hat Herr Staatsminister Grüttner für die Landesregierung.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Hinblick auf die sehr ausführliche Beantwortung der Großen Anfrage, die einer entsprechenden Bewertung zugeführt worden ist, möchte ich mich in meinen Ausführungen auf zwei bis drei kurze Punkte beschränken, um anschließend meine Rede zu Protokoll zu geben, damit das in den Einzelheiten noch nachzulesen ist.

Erster Punkt. Herr Kollege Mick hat gerade die Beschlusslage der 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz dargestellt. Ich habe den Zwischenrufen von Herrn Kollegen Decker entnommen, dass er diesen Beschlüssen der Sozialministerkonferenz nicht ablehnend gegenübersteht, sondern sie vollinhaltlich teilt. Das finde ich so auch in Ordnung, denn sie sind das Ergebnis eines langjährigen intensiven Diskussionsprozesses aller Länder mit den jeweiligen unterschiedlichen politischen Farben und Verantwortlichkeiten.

Ich bin sehr stolz, das muss ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen, dass es mir als Vorsitzendem der ASMK im letzten Jahr gelungen ist, einen einstimmigen Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz im Hinblick auf die Reform der Eingliederungshilfe herbeizuführen, in dem die Grundpfeiler gesteckt worden sind, auf denen wir aufbauen wollen.

Zweiter Punkt. Ich habe dem Zwischenruf von Herrn Kollegen Decker eben entnommen, dass er mit den Beschlüssen der ASMK nicht unzufrieden ist – das freut mich, denn sie sind die inhaltliche Ausgestaltung –, sondern eher mit der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Hessen. Er hat in seinem Redebeitrag gesagt, er möchte keine Hochglanzbroschüren sehen, sondern Taten. Das ist genau das Problem: Ich sehe in den anderen Ländern Hochglanzbroschüren und keine Taten. Wir wollen keine Hochglanzbroschüren; wir wollen Taten. Insofern warten Sie den Aktionsplan ab, und dann werden wir sehen, dass wir uns damit auseinandersetzen können; denn einzig das Zusammenschreiben von bisher stattgefundenen Maßnahmen, wie es beispielsweise in Rheinland-Pfalz der Fall gewesen ist, hilft uns nicht weiter und hilft auch der betroffenen Personengruppe nicht weiter.

Dritter Punkt. Es ist ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen, wenn wir über die Reform der Eingliederungshilfe reden,

(Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

weil es an dieser Stelle immer noch die Fragestellung des Denkens gibt, die die Diskussionen in den verschiedensten Stellen bewegt. Ich glaube, dass die Diskussionen über Hilfen für Menschen mit wesentlichen Behinderungen in Deutschland daran scheitern, weiterzukommen, dass sie bisher aus einem reinen Fürsorgedenken, einem institutionellen, anstaltsbezogenen Denken kommen und es ausgesprochen schwierig ist, diesen Paradigmenwechsel, der absolut notwendig ist, herbeizuführen. Daran scheitern viele Diskussionen.

Einer der wesentlichen Ansätze, um genau dieses zu verhindern – das hat überhaupt nichts mit einer Kostenfrage zu tun, weil es ein Paradigmenwechsel ist und wir schauen

müssen, wie es ausgestaltet ist –, lautet: weg von der institutionellen Förderung oder Objektförderung, hin zu einem personenzentrierten Ansatz. Wenn wir dies nicht schaffen, werden wir es nie schaffen, über dieses Fürsorge- oder Anstaltsdenken hinwegzukommen. Deswegen ist das einer der entscheidendsten Punkte, und es ist eine der Grundlagen der Beschlüsse der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, diesen Gedanken fortzuführen.

Da gibt es ausgesprochen schwierige Punkte, die zu überwinden sind. Ich will versuchen, das nur an einem Punkt zu verdeutlichen. Das ist die Fragestellung des Werkstattgedankens. Wir haben die Werkstätten für Behinderte mit Sicherheit mit großer Berechtigung, um Menschen mit schweren Behinderungen zu verdeutlichen und zu vergegenwärtigen, dass sie einen wichtigen Beitrag innerhalb des gesellschaftlichen Systems leisten können und eine Beschäftigungs- und Arbeitsmöglichkeit haben. Das ist ein Punkt.

Ein anderer Punkt ist, dass wir dabei schauen müssen, dass Werkstätten nicht um ihrer selbst willen, damit sie sich selbst behaupten können, Menschen mit schweren Behinderungen beschäftigen und nicht ihrem Ansatz entsprechend, diese zu qualifizieren, auf dem regulären Arbeitsmarkt, auch unter geschützten Arbeitsverhältnissen, tätig zu werden. Das ist eine schwierige Situation, weil wir die Werkstätten auf der einen Seite brauchen, sie auf der anderen in die Lage versetzen müssen, genau diesen Weg der Qualifizierung hin in den ersten Arbeitsmarkt zu gehen.

Das ist schwierig, denn wenn Sie mit Werkstattträgern reden, werden die sagen: „Aber das machen wir doch.“ Aber wenn Sie es hinterfragen, werden Sie feststellen, dass es vielleicht grenzwertig ist und dass vielleicht die Zahl derer, die an dieser Stelle so qualifiziert werden, dass sie auf einem regulären Arbeitsmarkt Platz finden, nicht der tatsächlichen Zahl der Beschäftigten in Werkstätten entspricht, um es ganz vorsichtig auszudrücken.

Wir müssen schauen, wie wir das schaffen, weil wir ein System haben, bei dem wir die Werkstätten auf der einen Seite brauchen und auf der anderen in eine Diskussion einsteigen müssen, wie wir auch Werkstätten so ausrichten, dass sie ihrer Aufgabe der Aktivierung von Menschen mit schweren Behinderungen im Hinblick auf den ersten Arbeitsmarkt gerecht werden können. Das ist eine Diskussion, die nicht von heute auf morgen zu Veränderungen führt und die auch ein bisschen ein Umdenken in unserer Gedankenwelt oder in unseren Strukturen beinhaltet.

Das ist nicht ganz einfach. Auf diesen Prozess müssen wir uns begeben, und da können verschiedene Maßnahmen eine entsprechende Rolle spielen. Ich glaube, dass wir uns im Rahmen der Reform der Eingliederungshilfe, auch mit dem, was wir in der Antwort auf die Große Anfrage gesagt haben, auf der Ebene bewegen, wie es der Diskussion in allen Bundesländern entspricht. Ich bin der Überzeugung, wenn wir langen Atem haben, das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und Ernsthaftigkeit in die Diskussion hineinbringen, werden wir eine Chance haben, wirklich einen wesentlichen Schritt in der Eingliederungshilfe voranzukommen. An dieser Stelle werden die Hessische Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen vorne mitmarschieren, und den Rest meiner Rede gebe ich zu Protokoll. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und der FDP – siehe Anlage)

Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Meine Damen und Herren, es liegt noch eine Wortmeldung vor. Der Kollege Decker hat das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! In dem letzten Punkt stimme ich Ihnen ausdrücklich zu: Es ist schwierig und sehr differenziert zu betrachten, wie man Menschen aus den Werkstätten in den regulären Arbeitsmarkt bringt. Ich stimme Ihnen auch zu, dass das in vielen Werkstätten unterschiedlich gesehen wird. Ich hatte kürzlich ein Gespräch; es waren die Frankfurter Werkstätten; da wird es sehr nach vorne getrieben. Es gibt sicherlich auch andere Werkstätten, da stimme ich Ihnen zu.

Nicht zustimmen kann ich Ihnen – da komme ich noch einmal auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zurück –, wenn Sie sagen, in anderen Bundesländern sei das nicht der Fall. Sie haben jetzt unglücklicherweise Rheinland-Pfalz angesprochen, gerade dort ist es der Fall. Die haben die Phase der Hochglanzbroschüren schon hinter sich gelassen, inzwischen einen Aktionsplan aufgelegt und gehen schon in die zweite Stufe, unter Beteiligung aller öffentlichen Verbände und Institutionen. Ich würde mir wünschen, dass wir so schnell wie möglich dort auch hinkämen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank. – Es liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Damit ist die Aussprache beendet, und die Große Anfrage ist besprochen.