Protokoll der Sitzung vom 24.09.2015

Lassen Sie uns gemeinsam in Freude feiern. Ja, es gibt weiterhin Trennendes zwischen den neuen und alten Bundesländern. Ich könnte auf einige Beispiele verweisen; wenn man es scherzhaft benennen wollte, könnte man sagen: Die neuen Bundesländer haben nicht eine einzige Fußballmannschaft in der ersten Bundesliga. – Aber es gibt andere Beispiele, die, glaube ich, zeigen, dass wir gemeinsame Probleme auch gemeinsam lösen müssen. Ich denke an die demografische Entwicklung. Ich denke an den ländlichen Raum und dessen Entwicklung; dort gibt es gemeinsame Aufgaben, welchen wir uns auch gemeinsam zuwenden müssen.

Lassen Sie mich damit schließen, dass diese Ereignisse auch uns, der Generation von heute, Verantwortung übertragen, Verantwortung dafür, eine Erinnerungskultur zu bewahren – dazu dienen solche Stunden wie diese auch –, Erinnerungen an das Trennende, an das Menschenverachtende, an die Mauer, an Stacheldraht und vieles mehr, und damit ein Zeichen der Trauer setzen. Aber gleichzeitig erinnern diese Ereignisse an die grenzenlose Freude, die am 9. November 1989 begann. Sie erinnern an die stolzen Aufbauleistungen, daran, dieses Projekt, dieses Problem von 17 Millionen Menschen zu stemmen, die wirtschaftlich, sozial und kulturell unter völlig anderen Bedingungen lebten. In so kurzer Zeit so viel Gemeinsames an Qualität zu schaffen, ist eine stolze Leistung aller Deutschen. Darauf können wir stolz sein.

(Beifall bei der SPD, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Lieber Kollege Lothar Quanz, du musst zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss; gestatten Sie mir noch zwei Sätze. – Beleben wir also stets den Geist der Demonstranten von 1989. Feiern wir immer wieder den Sieg der Freiheit über die Diktatur, feiern wir den Sieg der Kerzen über die Gewehre. Dies bleibt der Auftrag an alle Demokraten: Wir sind ein Volk, das Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht nur an Feiertagen predigt, sondern an allen Werktagen seine praktische Politik daran orientiert. – Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Vielen Dank, Lothar Quanz. – Das Wort hat die Kollegin Feldmayer, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

(Holger Bellino (CDU): Dass DIE LINKE da nicht ein Mal klatschen kann, ist mir unbegreiflich! – Gegenruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE): Ja, ihr klatscht bei uns ja auch dauernd! – Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Wiedervereinigung jährt sich am 3. Oktober zum 25. Mal. Es wird eine große Feier in Frankfurt geben. Darüber freue ich mich als Frankfurterin mit den hier anwesenden Frankfurter Abgeordneten natürlich besonders. Es wird ein umfangreiches Informationsprogramm geben, Diskussionen und Zeitzeugengespräche. Es ist auch nötig, daran zu erinnern, was dort alles stattgefunden hat. Es wird eine Feier aus Anlass dieses wunderbaren Kapitels unserer Geschichte sein, die an die friedliche Überwindung von Unterdrückung und Diktatur, an den Sieg von Demokratie und Freiheit erinnert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Ich möchte mich dem anschließen, was Herr Quanz schon gesagt hat: Die Wiedervereinigung ist vor allem ein Verdienst der einfachen Bürgerinnen und Bürger, die genug hatten von Gängelungen, von Reiseverboten und der Bedrohung durch die Staatssicherheit. Diese Bürgerinnen und Bürger waren es, die die Mauer und den Eisernen Vorhang zum Einsturz brachten.

Wir hatten alles geplant und waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete – soll Horst Sindermann, ein Mitglied des Zentralkomitees der SED, im Nachhinein gesagt haben. Die Bürgerinnen und Bürger haben es geschafft, dass diese Revolution friedlich vollzogen wurde. Ohne den Mut der Bürgerinnen und Bürger, die 1989 auf die Straße gingen, hätte es keine freie Volkskammerwahl in der DDR und keine Wiedervereinigung gegeben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der LINKEN)

Die Menschen skandierten: „Wir sind das Volk“. Das ist ein berühmter, ein historischer und ein stolzer Satz. Damit wollten die Menschen den Parteifunktionären, „denen da oben“ deutlich machen, dass die Regierenden sich gefälligst um das kümmern sollten, was die Regierten fordern: endlich einmal zuhören und aufhören mit ihrer Apparatschik-Politik.

Dass jetzt PEGIDA, LEGIDA, oder wie auch immer sie sich nennen, diese Parole für sich vereinnahmen, ist widerwärtig.

(Allgemeiner Beifall)

Diese Menschen stehen nicht für das Volk, sie sind eine Minderheit – zum Glück, muss man sagen. Was sie meinen, wenn sie rufen: „Wir sind das Volk“, ist schlicht: „Nur wir sind das Volk“. Die anderen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben, eine andere Meinung oder eine andere Hautfarbe haben, sollen nicht das Volk sein. Sie wollen ausgrenzen, und sie wollen das instrumentalisieren, was die mutigen Bürgerinnen und Bürger der DDR damals vollbracht haben.

Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe als Politiker ist in diesem Zusammenhang auch, darauf hinzuweisen, dass das eine widerwärtige Instrumentalisierung ist.

(Allgemeiner Beifall)

Wenn wir in diesem Jahr 25 Jahre Wiedervereinigung feiern, wenn wir feiern, dass Grenzen und der Eiserne Vorhang überwunden wurden, dass die Mauer gefallen ist, dann müssen wir uns auch an die aktuelle Situation in Europa erinnern. Dieses Europa mit seinen Grundwerten Demokratie, Menschenrechte und Freiheit hätte es ohne die Wiedervereinigung nicht gegeben.

Es ist kein gutes Zeichen für die momentane Verfasstheit Europas, dass angesichts der Flüchtlingszahlen innerhalb Europas wieder Mauern und Grenzzäune sogar innerhalb des Schengen-Raumes errichtet werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Es mutet geradezu zynisch an, dass sich die jetzige Regierung in Ungarn so martialisch gegen Flüchtlinge abschottet, wo doch damals, vor 26 Jahren, die Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger der DDR zuerst über Ungarn erfolgte, das damals als Erstes die Grenzen öffnete.

Wir haben in Europa, in Deutschland, in Hessen ein riesiges Privileg. Wir können glücklich sein, in einem Land geboren zu sein, das nach der Überwindung von zwei Diktaturen für demokratische Grundwerte steht. Andere Menschen, die zu uns flüchten, haben das nicht. In den meisten Fällen flüchten sie gerade deswegen zu uns, weil in ihren Heimatländern keine Demokratie herrscht.

Wir haben es geschafft, dass das zweigeteilte Deutschland wieder zusammengewachsen ist. Das war für uns alle eine Bereicherung. Das wird niemand bezweifeln. Ich bin davon überzeugt, dass ein so starkes Land und eine so starke Europäische Union auch mit den Herausforderungen der Flüchtlingskrise umgehen können und daraus bereichert hervorgehen werden. Wir können dies mit unserer Geschichte schaffen und sind dazu verpflichtet, dies positiv zu gestalten. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Feldmayer. – Das Wort hat Frau Abg. Beer, FDP-Fraktion.

Herr Präsident, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Einheit wurde möglich, weil Millionen von Menschen auf den Straßen der DDR, aber auch Politikerinnen und Politiker mit Entschlossenheit und Weitsicht handelten.

Zwei Faktoren ebneten den Weg für die historische Chance dieser deutschen Einheit. Das eine ist die Tatsache, dass die deutsche Frage über all die Jahrzehnte vor 1989 konsequent über den europäischen Weg angegangen wurde. Die europäische Einigung wurde sozusagen zum Rahmen der deutschen Einigung, während die Überwindung der deutschen Teilung schließlich wiederum das Ende der Spaltung Europas einläutete.

Zum anderen wurde die friedliche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 auch durch die Entspannungspolitik der Siebzigerjahre ermöglicht. Wenn wir uns an diese Jahre zurückerinnern, dann werden wir uns daran erinnern, wie umstritten diese Frage damals war. Durch viele Familien ging ein tiefer Riss in der Einschätzung, ob die neue Ostpolitik, ob die Bemühungen, über Gespräche die Basis für Vertrauen und damit möglicherweise auch die Basis für die Wiedervereinigung zu legen, der richtige Weg sind. Heute wissen wir, dass mit dieser Politik Weitsicht bewiesen wurde.

Die Entspannungspolitik machte deutlich, dass die Propaganda vom antifaschistischen Schutzwall eben genau das war: Propaganda. Es war Propaganda eines totalitären kommunistischen Staates, der seine Bürger lieber einsperrte, als ihnen bürgerliche und wirtschaftliche Freiheitsrechte zuzugestehen, der sie lieber mit Waffengewalt daran hinderte, die Einflusssphäre des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates zu verlassen.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hans-Dietrich Genscher, der die DDR 1952 verlassen hatte, verfasste als Bundesinnenminister zur Unterzeichnung des Grundlagenvertrags auch einen Brief an die sowjetische Führung, in dem er deutlich machte, dass für die Bundesrepublik die deutsche Frage damit keineswegs geklärt sei. Man hatte dieses Ziel eben nicht aufgegeben.

Respekt gebührt in diesem Prozess auch den Verdiensten von Willy Brandt, Egon Bahr und Helmut Schmidt. Ich möchte aber auch, gerade weil er lange in Hessen gelebt hat, an den aus Dresden stammenden Wolfgang Mischnick und auch an den Dresdner Herbert Wehner erinnern, die z. B. 1973 zu einem Geheimtreffen mit Erich Honecker reisten, um die humanitären Erleichterungen bei teilungsbedingten Härten zu erreichen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Den Deutschen in der DDR, aber auch den Völkern in Mittel- und Osteuropa wurde nämlich so noch einmal deutlich, dass die Bedrohung für sie nicht von der freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Gesellschaft der Bundesrepublik auf

der anderen Seite des antifaschistischen Schutzwalles ausging.

Den Menschen, die für die Freiheit auf die Straße gingen, obwohl dies Gefängnis oder noch viel Schlimmeres bedeuten konnte, obwohl damit auch Repressalien für ihre Familien drohten, sind auch wir in Hessen zu Dank verpflichtet.

Ihr Mut bannte nicht nur die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung mitten in Deutschland, vielmehr wurde auch uns, die wir in einer freiheitlichen Gesellschaft groß geworden sind, vor Augen geführt, dass es sich lohnt, selbst die Angst vor Repression einer Diktatur zu überwinden und mutig für die Freiheit zu kämpfen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Errungenschaft der friedlichen Revolution brachten die Ostdeutschen in das gesamtdeutsche Erbe ein.

Wenn es vielen Bürgerrechtlern im Herbst 1989 so noch nicht bewusst war, hatte mit dem kommunistischen Regime auch der Staat DDR seine Legitimation beim eigenen Volk verloren. Dem Sog der freiheitlich und marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft der Bundesrepublik konnte die DDR ohne Mauer und ohne Stasi nicht widerstehen.

Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher haben erkannt, dass diese historische Gelegenheit zur Beendigung der deutschen Teilung nicht mit Zögerlichkeit angegangen werden darf, und haben mit den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen beherzt zugegriffen. Auch für diese Entschlossenheit in diesen Tagen ist Dankbarkeit angebracht.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir uns heute einmal umschauen, können wir feststellen, ganz Deutschland hat sich mit den Jahren 1989/90 gewandelt.

Wir müssen zugeben, dass nicht alles so gelaufen ist wie geplant und erhofft. Der wirtschaftliche Aufholprozess z. B. hat sich deutlich verlangsamt. Das Erbe der sozialistischen Misswirtschaft hat schwerer gewogen, als wir es uns vor 25 Jahren mit den Gedanken an „blühende Landschaften“ vorgenommen hatten. Nicht zuletzt kam es aber auch deswegen so, weil damals ganze Unternehmergenerationen aus ideologischen Gründen aus der DDR vertrieben wurden. Zur Wahrheit gehört auch, dass von deren Kraft und deren Willen zum Aufbau gerade auch wir in Hessen in den 40 Jahren zuvor profitiert haben.

In vielen Fragen nähern sich die Deutschen in Ost und West immer mehr an: Bei der Kinderbetreuung oder Frauenerwerbstätigkeit werden die alten Länder den neuen ähnlicher; denn es geht um eine Annäherung in beide Richtungen. So schauen auch wir – auch wir aus Hessen – beispielsweise ein wenig neidisch auf die schulischen Erfolge in den neuen Bundesländern, die dort etwa in den Naturwissenschaften erzielt werden.

Die einseitige Ost-West-Wanderung der Anfangsjahre ist fast zum Erliegen gekommen. Umzüge zwischen Ost und West, zwischen West und Ost sind mittlerweile Normalität. Dies gilt auch, wenn man sich die Zahlen für Hessen betrachtet.

Frau Kollegin Beer, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass ich glaube, dass wir eine Verantwortung dafür tragen, die Erinnerung an die jüngere Geschichte wachzuhalten. Mittlerweile wächst nämlich die zweite Generation heran, die von der deutschen Teilung, von Stacheldraht und Mauer, von der Stasi keinerlei Erinnerung mehr aus eigenem Erleben hat. 19 Millionen Menschen sind in den vergangenen 25 Jahren in unserem Land zur Welt gekommen, die dies nicht mehr selbst erlebt haben, sondern dies aus Erzählungen und dem Schulunterricht kennen.

Ich glaube, es gilt umso mehr, die Faszination der Freiheit, durch die Deutschland, aber auch Europa seine Einheit gewann, zu bewahren. Dieser Tage zeigen uns letztendlich auch die Flüchtlinge, die jetzt in unser Land kommen, welche Kraft diese Faszination der Freiheit hat. Deswegen sollten wir genau diese Faszination der Freiheit auch mit sehr viel Freude feiern. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abge- ordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Beer. – Das Wort hat der Abg. Dr. Wilken, DIE LINKE.