Protokoll der Sitzung vom 30.01.2019

Wir müssen Probleme benennen und wir dürfen sie nicht leugnen.

(Beifall bei der LINKEN – Glocke)

Herr Dolzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Tjarks?

Bitte.

Vielen Dank, Herr Dolzer, für die Möglichkeit, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen. Sie haben darauf abgehoben, was die Gründe des Brexits waren. Und glauben Sie, dass die Austeritätspolitik der Europäischen Union gegenüber Großbritannien der Grund für den Brexit war? Oder glauben Sie nicht eher, dass Großbritannien sogar noch mehr Austeritätspolitik in der EU gefordert hätte?

Ja, Herr Tjarks, schauen wir uns das ganze Problem, das Sie jetzt benannt haben, einmal dialektisch an.

(Heiterkeit bei der CDU und der FDP)

Das ist eine Wechselwirkung.

(Dr. Anjes Tjarks GRÜNE: In Großbritanni- en!)

Die Austeritätspolitik hat die EU zum Teil in die Krise geführt. In Frankreich führt das Nachholen der Agenda 2010 gerade zu dem, was die Gelbwesten machen. In Großbritannien führt die Austeritätspolitik dazu, dass wir eine tiefe Regierungskrise haben, dass wir einen Vertrauensverlust in die Regierung May haben und dass wir auf der linken Seite, auf der sozialdemokratischen Seite einen Akteur haben beziehungsweise zwei Akteure haben, die sich darum streiten, ob man diese Problematik mit einem nationalistischen Rollback beantwortet oder eben mit einem positiven Einwirken auf die EU. So müssen wir das Problem sehen

(Dirk Kienscherf SPD: Ah!)

und differenziert und nicht mit Schwarz und Weiß, Herr Tjarks, so kommen wir nämlich nicht weiter.

(Beifall bei der LINKEN)

Meines Erachtens und unseres Erachtens nach ist es wichtig, wenn wir noch etwas ändern wollen. Die krachende Abstimmungsniederlage von Theresa May in der ersten Abstimmung macht einen ungeordneten Austritt Großbritanniens wahrscheinlicher, und klar müssen wir uns auch darauf vorbereiten. Aber wir müssen wirklich alles tun.

Dann ist es auch wichtig, in dieser Debatte offen und ehrlich zu diskutieren und alles zu benennen, damit es keinen No Deal gibt. Das wäre verheerend für Irland und Nordirland, auch mit dem Backstop. Wenn da eine harte Grenze wieder eingeführt wird, das wäre verheerend für die Stabilität. Es ist verheerend für die Menschen in Schottland aufgrund der landwirtschaftlichen und fischereitechnischen Angebundenheit. Es ist verheerend für uns hier in Deutschland und für die EU im Allgemeinen, weil wir in eine Wirtschaftskrise schliddern werden. Deshalb sollten wir jetzt noch immer alles tun, um dieses No-Deal-Szenario zu verhindern, und nicht hauptsächlich darüber diskutieren, wie wir das Tafelsilber verwalten. Wir haben doch eine Verantwortung, und der müssen wir gerecht werden. – Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Kruse hat nun das Wort für die FDP-Fraktion.

Lieber Herr Dolzer, ich glaube, Ihre Rede hat das ganze Problem mit dem Populismus in Europa innerhalb von fünf Minuten aufgezeigt.

(Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir Freie Demokraten sind überzeugte Europäer. Die Europäische Union ist das größte Friedensprojekt, das es auf diesem Kontinent jemals gegeben hat, und allein deshalb

(Martin Dolzer)

sollten wir alle Anstrengungen unternehmen, dieses Projekt in eine positive Zukunft zu führen.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU und bei Martin Bill GRÜNE)

Wir bedauern zutiefst, dass sich die Briten dazu entschlossen haben, mit einer knappen Mehrheit zwar, aber immerhin, die Europäische Union zu verlassen. Für uns ist völlig klar, dass die Tür zur Europäischen Union für die Völker des Vereinigten Königreichs immer offen steht. Ja, ich gehe sogar einen Schritt weiter, ich meine, es ist unsere Verantwortung als größtes Mitgliedsland der Europäischen Union, dafür zu sorgen, dass die Zustimmung für die Europäische Union in ganz Europa groß bleibt und weiter wächst. Es ist für uns völlig selbstverständlich, dass wir deswegen auch einen Weg finden müssen, die hier lebenden 4 000 Briten weiterhin hier leben lassen zu können, wenn sie das denn weiterhin wollen. Wir freuen uns über Menschen, die unsere Staatsbürger werden wollen. Aber wir wollen auch, dass alle diejenigen, die ihre Staatsbürgerschaft behalten möchten, weiterhin hier leben können. Christel Nicolaysen, meine Kollegin, wird darauf gleich noch weiter eingehen.

Ich selbst habe als Student im Erasmus-Programm in Liverpool studiert und da eine tolle und auch wahnsinnig prägende Zeit für mich persönlich erlebt. Es schmerzt mich sehr, dass die Insel nun gefühlt etwas weiter weg liegen wird. Es ist deshalb unsere Aufgabe, eben für all die 4 000 Menschen, die hier leben und die bleiben möchten, weiterhin ein Zuhause zu garantieren.

Wenn wir uns aber die Ursachen anschauen, dann müssen wir schon sagen, die von Populisten und Scharfmachern mit halbseidenen Argumenten forcierten Begründungen für einen Brexit haben sich doch schon vor dem Brexit selbst in Luft aufgelöst. Die meisten davon sind als schlicht unwahr entlarvt worden. Was lehrt uns das eigentlich? Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, und hier spreche ich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen in der Mitte des Hauses an: Wir müssen besser darin werden, die Vorteile der Europäischen Union aufzuzeigen. Wir müssen besser darin werden, die Erfolge – Frieden, Freiheit, Wohlstand, gemeinsame Werte – gegen einfache und falsche Behauptungen von den Rändern zu verteidigen.

(Beifall bei der FDP, der SPD, den GRÜNEN und bei Nebahat Güçlü fraktionslos)

Weil in diesem Jahr eine Europawahl ansteht, fordern wir nicht nur die Parteien der Mitte dieses Hauses auf, nein, wir fordern auch die Zivilgesellschaft auf: Kämpfen Sie mit uns für dieses Europa. Widersprechen Sie, wenn das nächste Mal jemand am Stammtisch oder irgendwo anders erklärt, die Europäische Union habe nichts Besseres hervorgebracht, als die Krümmung von Gurken zu regu

lieren oder sich mit Glühlampen in dieser Republik auseinanderzusetzen. Widersprechen Sie diesen falschen und einfachen Behauptungen, die nicht stimmen und die dieses Projekt in ein völlig falsches Licht rücken.

(Beifall bei der FDP, der SPD, den GRÜNEN und bei Michael Westenberger CDU)

Wir sollten uns unser Europa nicht kaputtreden lassen.

Weil uns Europa am Herzen liegt, müssen wir dann aber auch immer wieder darüber diskutieren, wie wir es reformieren, wie wir es besser machen können. Denn zur Wahrheit dazu gehört auch, 52 Prozent derjenigen, die im Vereinigten Königreich für den Brexit gestimmt haben, haben eine gewisse Art von Frustration gehabt. Dazu kommt die Frustration der 48 Prozent, die eigentlich gar nicht austreten wollten. Nun haben wir da sehr viele Menschen, die auf eine Art und Weise eine Frustration erlebt haben, und es ist unsere Aufgabe als Länder Kontinentaleuropas, die in der Europäischen Union sind, all diesen Menschen wieder eine Brücke zu bauen, wenn der Brexit denn passiert, dass dieser Beschluss irgendwann dann auch reversibel ist und dass es einen möglichst leichten Weg zurück in die Europäische Union gibt.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜ- NEN)

Wenn wir auf Hamburg schauen, dann hat der Senat in der Tat schon einiges gemacht. Was bisher allerdings nicht gemacht wurde – und deswegen finde ich es auch gut, dass das Thema hier zur Aktuellen Stunde angemeldet ist –, ist, den über 1 000 Unternehmen, die hier in Hamburg Handel mit Großbritannien und Nordirland betreiben, eine konkrete Perspektive zu bieten. Um das schnell nachzuholen, möchten wir Ihnen vorschlagen, eine Task Force Brexit einzurichten, die sich sehr schnell mit allen Anliegen, die Hamburger Unternehmen und Hamburger Bürger haben, auseinandersetzt und dann schnelle Lösungen produziert. Denn wir alle wissen: Spätestens ab Ende März wird es einen richtigen Run auf die Hamburger Verwaltung geben. Wenn diese dann nicht optimal aufgestellt ist und nicht schnell Antworten geben kann, dann wird dieser Brexit auch für Deutschland und für Hamburg ein großes Problem. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Das Wort bekommt Herr Dr. Wolf für die AfD-Fraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! "You'll never walk alone" haben die GRÜNEN zur Aktuellen Stunde angemeldet, um über den Brexit zu spre

(Michael Kruse)

chen. Das ist heuchlerisch. Wären Sie einmal lieber an der Seite Großbritanniens gewalkt und hätten den Briten zugehört und auf sie gehört, ihre Sorgen und Nöte ernst genommen, dann wäre Großbritannien wohl heute und auch in Zukunft noch ein Mitglied der Europäischen Union.

(Zurufe von der LINKEN)

Eines vorab: Wir von der AfD-Fraktion setzen uns ebenfalls dafür ein, um den Tausenden von Briten, die hier in Hamburg leben,

(Dr. Monika Schaal SPD: Doch ein paar mehr!)

alle Brücken zu bauen und die wirtschaftlichen Folgen des Brexit abzumildern, so gut es geht. Im Europaausschuss hatten wir am 30. November 2018 eine Anhörung zum Brexit und den BrexitFolgen mit Vertretern des Auswärtigen Amtes ebenso wie mit Wirtschaftsvertretern. Insbesondere der Vertreter der British Chamber of Commerce in Germany sprach Tacheles und benannte die Gründe, weshalb sich die Briten bei der Abstimmung für einen Ausstieg aus der EU und gegen einen Verbleib mit Mehrheit entschieden haben. Ich zitiere aus dem Bericht des Europaausschusses:

"Anschließend führte der Vertreter der BCCG aus, wesentliche Gründe für das BrexitVotum seien die Migration aus der EU, geringes Wachstum, politischer Eigenverantwortungswille der EU-Länder, Stärkung der Subsidiarität zugunsten der Kompetenzen der Länder, die zunehmende Entfremdung der EU-politischen Eliten von ihren Wählerinnen und Wählern sowie die Terrorgefahr gewesen."

Zitatende.

Das heißt, es ging wahlentscheidend nicht um wirtschaftliche Fragen, sondern um politische Fragen. Es ging um die Steuerung der Einwanderung und um das Verhältnis des Nationalstaats zur EU. Das, was die Briten umtrieb, sollten wir ernst nehmen, sollten wir als Ansporn nehmen, um Fehlentwicklungen zu korrigieren, zurückzuschneiden und die EU zu reformieren. Über die Existenz der EU wollen wir nicht streiten, wohl aber über ihre Ausrichtung und Ausformung in der jetzigen Form.

Im Februar 2016 gab es Einigungsvorschläge der EU, die nach langen Verhandlungen zwischen David Cameron und der Europäischen Union weitgehend waren und echte Reformen bedeutet hätten. Der damals von der EU nach harten Verhandlungen vorgelegte Vorschlag enthielt eine Notbremse, die es zum Beispiel erlaubte, bestimmte Sozialleistungen für zugewanderte EU-Bürger zu beschränken – eine wesentliche Forderung der Briten. Hintergrund der Forderung war, dass gemäß den EUVerträgen Arbeitnehmer bei bestehenden Arbeits

verträgen wohl Freizügigkeit genießen, hingegen nicht eine allgemeine Personenfreizügigkeit in den Verträgen vereinbart wurde. Zudem wurde London zugesagt, dass die Rechte von Nicht-Euro-Staaten geschützt sowie die Rolle nationaler Parlamente und die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden sollten. Das wurde leider nicht umgesetzt.

Dennoch sollten wir an diesen Vorschlägen und an dem, was die Briten zum Austritt aus der EU gebracht hat, anknüpfen, denn – diese Lehre sollten wir aus dem Brexit ziehen – die berechtigten Sorgen der Bürger sind ernst zu nehmen. Wir sollten die EU reflektieren. Das ursprüngliche Ziel einer Wirtschaftsunion sollte nicht zu weit aus dem Blickfeld geraten. Wenn dies nicht geschieht, die Sorgen und Nöte der Bürger, ihre Kritik an Fehlentwicklungen der EU, an einer zunehmenden Verselbstständigung der politischen Klasse in Brüssel nicht aufgenommen wird, dann drohen weitere Länder, sich dem Vorbild Großbritanniens anzuschließen, und das sollten wir vermeiden.

Ein Punkt noch, der in der Brexit-Debatte bislang kaum eine Rolle spielte. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU wird der Charakter der EU sich wesentlich verändern. Was meine ich konkret? Der Rat der EU, neben dem Parlament das Hauptgesetzgebungsorgan, entscheidet in der Regel mit qualifizierter Mehrheit gemäß dem Vertrag von Lissabon: ein sorgfältig austariertes System einer doppelt qualifizierten Mehrheit, darauf ausgerichtet, dass weder die stabilitätsorientierten, marktwirtschaftlichen Nordländer die Südländer dominieren können, noch umgekehrt die eher staatsinterventionistischen Südländer den Norden der EU dominieren können. Beide Blöcke haben eine Sperrminorität. Durch das Ausscheiden Großbritanniens verliert die nördliche Staatengruppe schlagartig ihre Sperrminorität und so ändert sich das Machtgefüge. Damit ist die Geschäftsgrundlage von Lissabon verlassen. Es wäre dringende Aufgabe der deutschen Bundesregierung, diese Verträge der neuen Lage anzupassen; sonst droht hier eine fundamentale Änderung des Charakters der EU. Darauf sollten wir unser Hauptaugenmerk auch richten. – Vielen Dank.