Ein Punkt noch, der in der Brexit-Debatte bislang kaum eine Rolle spielte. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU wird der Charakter der EU sich wesentlich verändern. Was meine ich konkret? Der Rat der EU, neben dem Parlament das Hauptgesetzgebungsorgan, entscheidet in der Regel mit qualifizierter Mehrheit gemäß dem Vertrag von Lissabon: ein sorgfältig austariertes System einer doppelt qualifizierten Mehrheit, darauf ausgerichtet, dass weder die stabilitätsorientierten, marktwirtschaftlichen Nordländer die Südländer dominieren können, noch umgekehrt die eher staatsinterventionistischen Südländer den Norden der EU dominieren können. Beide Blöcke haben eine Sperrminorität. Durch das Ausscheiden Großbritanniens verliert die nördliche Staatengruppe schlagartig ihre Sperrminorität und so ändert sich das Machtgefüge. Damit ist die Geschäftsgrundlage von Lissabon verlassen. Es wäre dringende Aufgabe der deutschen Bundesregierung, diese Verträge der neuen Lage anzupassen; sonst droht hier eine fundamentale Änderung des Charakters der EU. Darauf sollten wir unser Hauptaugenmerk auch richten. – Vielen Dank.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Der Brexit ist eine veritable Katastrophe. Die Folgen sind sowohl ökonomisch als auch politisch verheerend. Das gilt für beide Seiten des Kanals. Aber es ist keine Naturkatastrophe, es ist ein politisches Versagen der schlimmeren Sorte auf beiden Seiten des Kanals, der uns eigentlich mehr verbinden als trennen sollte. So viel politische Unfähigkeit und
Unwillen für das europäische Projekt habe ich nicht einmal den selbstverliebten Brüsseler Eurokraten zugetraut. Denn das europäische Projekt ist wichtig. Die Frage ist nur, wie wir das konkret ausgestalten, und darüber gibt es sehr unterschiedliche Meinungen.
Ich will dazu nur drei kurze Bemerkungen machen. Erstens: Natürlich ist klar, dass die britischen Bürger sich für den Brexit entschieden haben. Aber nicht alle wussten, was die Folgen sind, und es gibt klare Unterschiede zwischen London und dem ländlichen England und zwischen der Elite und dem Rand. Das ist übrigens die gleiche Unterscheidung, die viel von der Wahl von Trump, von den Gelbwesten in Frankreich und von dem Wahlergebnis in Österreich und im Osten Deutschlands erklärt. Der Grund für dieses knappe Brexit-Ergebnis 2016 waren die Politik und die Überheblichkeit in Brüssel. Die Eurokraten fühlten sich wie die Herrscher des römischen Weltreichs. Aber Rom war stark, erfolgreich und bestens organisiert. Brüssel verteilt nur das Geld, das nicht ihm, sondern den Steuerzahlern gehört. Dass ein Volk mit der Geschichte und der Leistungsfähigkeit Großbritanniens nicht die Befehle aus Brüssel empfangen will, ist doch eigentlich klar. Das gilt übrigens auch für etliche andere Länder, insbesondere im Osten Europas. Aber wenn man Nettozahlungsempfänger ist, überlegt man die Folgen noch zweimal mehr, als wenn man Nettozahler ist.
Zweitens: Die Brexit-Verhandlungen waren eine Katastrophe. Auf der einen Seite so arrogante Eton Boys wie Boris Johnson, den ich ebenso verantwortungslos finde wie Nigel Farage – verglichen damit hat Theresa May inzwischen meine volle Bewunderung, auch wenn ich ihre Position inhaltlich nicht teilen kann –, auf der anderen Seite das Möchtegern-Empire aus Brüssel, das den unartigen Briten gern eine Lektion erteilen wollte, um ein Exempel zu statuieren, und dabei die Interessen Europas aus dem Blick verloren hat, weil es nur die eigenen Interessen gesehen hat. Und was ist mit der politischen Klasse in London, die so oft europabesoffen redet und handelt wie sonst niemand in den Mitgliedstaaten Europas überhaupt?
Für Deutschland und Hamburg ist der Brexit eine besonders schlimme Katastrophe. Christian Lindner hat kürzlich auf seinem Parteitag den Einsatz von Frau Merkel für Griechenland mit dem für Großbritannien verglichen. Recht hat er. Letzteres, nämlich der Einsatz für Großbritannien, war nahezu eine Nullnummer. Dagegen hat sie das korrupte Land an der Ägäis, das für Europa völlig unwichtig ist, mit Milliarden Euro an Steuergeldern zugeschüttet, wie Politiker das übrigens oft machen, wenn sie nicht weiterwissen, weil sie die harten
Fakten nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Warum ist Frau Merkel nicht in die Bresche gesprungen, wenn schon Brüssel versagt? Eignet sich ihr Europagetue nur für Sonntagsreden? Warum duckte sie sich weg, als es darum ging, mit einem der ökonomisch wirklich wichtigsten Länder Europas eine möglichst gute und enge Zusammenarbeit zu etablieren, wenn man schon den Brexit selbst nicht mehr verhindern kann? War sie zu feige, den Konflikt mit Brüssel zu suchen?
Dritter Punkt: Der Grund für das Referendum von David Cameron waren die Politik und das EmpireGehabe der Brüsseler Eurokraten, die immer mehr Macht an sich gezogen haben und das Wort Subsidiarität kaum mehr kennen, geschweige denn danach handeln. Europa hat nicht viel mit Demokratie zu tun, auch wenn Sie das immer bestreiten. Brüssel war und ist für viele ein großer Selbstbedienungsladen; Dekadenz war auch im römischen Weltreich der Anfang vom Ende. Vernünftige neue Strukturen und Prozesse wären erforderlich gewesen. David Cameron wollte eigentlich gar nicht aus der EU austreten,
Er dachte, die Perspektive eines britischen Austrittsreferendums würde Reformanstöße ermöglichen, die Europa besser machen können und auf der Insel auch mehr Akzeptanz finden. Falsch gedacht, die bräsige Machtelite in Brüssel war noch unfähiger, über sich selbst zu reflektieren, als er wohl selbst gedacht hatte.
Letzter Satz: Wenn es noch eine letzte kleine Chance gibt, den Brexit zu verhindern, dann sollten wir das versuchen – und damit meine ich Frau Merkel und Herrn Scholz in Berlin. – Vielen Dank.
Sehr verehrte Frau Präsidentin, sehr verehrte Volksvertreter! Heute Morgen habe ich die Frau eines englischstämmigen Musikers getroffen, der in ganz Europa auftritt. Er ist erleichtert, einen druckfrischen deutschen Pass zu besitzen, weil er nun keine Angst mehr haben muss vor Schikanen wie Visumszwang oder Schlimmerem. Warum, frage ich, befürchtet er, schlechter dazustehen als die Norweger, Schweizer oder Isländer in Hamburg? Antwort: Alle Briten in Deutschland haben Angst, darunter leiden zu müssen, dass die EU Großbritannien bestrafen will, um ein Exempel zu statuieren. Wie erbärmlich, Herr Tjarks: erst mit der Brüsseler Kama
Das Nein der Mehrheit der Briten in der BrexitVolksabstimmung hätte es nicht gegeben ohne die Politik der Frau, die in diesem Hause nicht kritisiert werden darf. Die Beweggründe der Briten zu verstehen – und daran mangelt es hier – gelingt besser in einem geschichtlichen Rückblick. Bitte geben Sie sich einen Ruck und hören Sie einmal jemandem zu, der eine Erklärung bieten kann, jemandem, der fünf Jahre in Großbritannien gearbeitet hat, als sich alle Augen auf Deutschland richteten.
Zur Wendezeit habe ich in Großbritannien erlebt, wie die Ereignisse in Deutschland die Menschen elektrisiert haben, mehr als der Zusammenbruch der Sowjetunion oder der Irakkrieg. Die Briten haben damals ständig etwas getan, was dort eigentlich verpönt ist, nämlich am Arbeitsplatz über Politik zu reden, und zu meiner Freude meist mit sehr viel Sympathie für Deutschland. Aber natürlich gab es auch die alten Bedenken. Anfang 1990 stemmte sich die Premierministerin gegen die kommende Wiedervereinigung Deutschlands.
Margaret Thatcher hatte drei aufeinanderfolgende Parlamentswahlen gewonnen. Sie hatte in elf Jahren ein ziemlich heruntergekommenes Land aufgeräumt, eine lateinamerikanische Diktatur zum Einstürzen gebracht, wurde geliebt und gehasst für ihre unbritische, als deutsch geltende Art: Humorlosigkeit, Ordnungsliebe, großes Gesamtkonzept, Tüchtigkeit, Fleiß, Rechthaberei und, auch das gehört ja heute zu den deutschen Tugenden, eine Abneigung gegen Deutschland.
Sie bekannte sich dazu, dass ihr Deutschlandbild sich nach 1942 nicht mehr geändert hatte. Sie fragte nun: Was lehrt uns die Geschichte über den Charakter und das Verhalten der Deutschen und haben sie sich in den letzten 40 Jahren geändert? Diese Frage stellte sie im März 1990 vier angloamerikanischen Historikern, allesamt Deutschlandkenner und -bewunderer. Auf ihrem Landsitz Chequers wollte sie deren Meinungen hören. Die Experten beruhigten die Premierministerin: Die Deutschen hätten sich seit dem Krieg grundlegend geändert und die Sorgen vor einer von Deutschland dominierten EU seien unbegründet.
Der Protokollführer, Thatchers Privatsekretär, notierte aber Aussagen über nationale Attribute der Deutschen, die sich in der Vergangenheit gezeigt hätten – Zitat –:
"Ihr fehlendes Einfühlungsvermögen […], ihre Obsession mit sich selbst, ein starker Hang zum Selbstmitleid, und das Verlangen, gemocht zu werden. […] Angst, Aggressivität, Bestimmtheit, Drangsalierung, Egoismus, Minderwertigkeitskomplex, Sentimentalität."
Zwei weitere Züge des deutschen Charakters wurden mit Blick auf die Zukunft als Gründe zur Sorge genannt, erstens eine Fähigkeit zum Exzess, zur Übersteigerung der Dinge, zum Über-die-SträngeSchlagen, zweitens eine Neigung zur Überschätzung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten.
Wer hört da nicht "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt!" oder "Wir schaffen das!"?
Als das vertrauliche Dokument im Sommer 1990 an die Öffentlichkeit gelangte, löste es eine diplomatische Krise aus, die Chequers-Affäre. Die Historiker bestätigten die zitierten Aussagen; sie seien sinngemäß so gefallen, die Wortwahl sei nicht die ihre, es seien überspitzte und ironische Worte von Thatchers Sekretär gewesen. Vom Begriff des Nationalcharakters distanzierten sie sich. Sechs Jahre später schrieb einer der beteiligten Historiker, Norman Stone, Professor in Oxford, dass Thatcher im Grunde recht gehabt hätte und die Spezialisten unrecht gehabt hätten.
"But even the optimists had some unease, not for the present and the immediate future, but for what might lie further down on the road than we can yet see."
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Erst einmal ist es ein ermutigendes Zeichen, dass es hier in der Mitte des Hauses einen sehr breiten Konsens und ein sehr breit getragenes Bekenntnis zu Europa, zu
dem Friedens-, Freiheits- und Wohlstandsprojekt gibt. Es ist, glaube ich, gerade in diesen Zeiten ein wichtiges Zeichen, dass das von diesem Rathaus hier ausgeht.
Ich würde gern ein bisschen etwas dazu sagen, weil auch das Thema der Debatte und der Anmeldung ist: Hat der Senat seine Hausaufgaben im Hinblick auf die hier beheimateten Dritten gemacht und wie stellen wir uns genau dafür auf, wie bereiten wir das entsprechend vor? Wir haben uns sehr frühzeitig systematisch und umfassend mit allen Austrittsszenarien, von denen wir immer noch nicht genau wissen, welches am Schluss jetzt kommt, auseinandergesetzt, weil klar ist, dass wir für alle hier in Hamburg lebenden Britinnen und Briten auch dann eine Heimat sein und bleiben wollen, wenn ein Austrittsszenario Realität wird. Auch das ist eine Verpflichtung, die wir hier gegenüber diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eingehen wollen.
Wir wollen auch in Zukunft die traditionell engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Hamburg und Großbritannien weiterführen. Das ist auch ein wichtiger Punkt für die wirtschaftliche, gesellschaftliche, die Zusammenarbeit an sehr vielen Stellen. Man sagt Hamburg immer nach, es sei eine sehr anglophile Metropole, und das ist, glaube ich, für Hamburg noch einmal eine besondere Verpflichtung, diese Tradition auch in stürmischem und sich veränderndem Umfeld weiter zu wahren.