Sie kennen sehr viele, Herr Butzki, ich kenne nicht so viele. Ich kenne eher die, die damit Probleme hatten, deswegen auch die Haltung der Gymnasiallehrer und Schulleiter.
Insgesamt möchte ich noch mal sagen, dass es doch eine Drittelung gibt. Es gibt Kinder, bei denen ganz klar ist, es ist der richtige Weg, zum Gymnasium zu gehen, auch schon in der 4. Klasse. Da haben Sie das manchmal schon in der 1. Klasse, dass Sie das schon wissen. Bei anderen Kindern wissen Sie auch schon relativ früh, die sollten wohl eher nicht zum Gymnasium gehen. Dann gibt es eine dritte Gruppe, wo das tatsächlich unklar ist. Die Frage, die ich mir stelle und die ich jetzt insbesondere an Sie stelle: Wissen wir eigentlich, wie viele Kinder das sind und auf wie viele Kinder wir sozusagen diese Orientierungsstufe herumgestrickt haben, nur um dieser Gruppe zu helfen? Sind das sehr viele, sind das sehr wenige? Ich bin ein Freund davon, klare Fakten zu messen, zu zählen und zu wiegen. – Danke schön.
Für die Landesregierung hat um das Wort gebeten die Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Frau Hesse, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die Orientierungsstufe hat ihren Namen nicht umsonst. Sie bietet Orientierung für einen wichtigen Übergang, den zwischen Grundschule und weiterführender Schule. Diese Orientierungsphase liefert eine validere Basis für eine verlässliche Entscheidung, wie und wo der Bildungsweg eines einzelnen Kindes weitergehen soll, statt eines abrupt vollzogenen Wechsels nach Klasse 4.
Dass die Landesregierung zu diesem Modell des längeren gemeinsamen Lernens steht, habe ich im vergangenen Jahr bereits deutlich gemacht, und ich sage Ihnen auch in diesem Jahr nichts anderes. Aus meiner Sicht steckt dahinter nämlich ein wichtiger pädagogischer Grundgedanke. Ganz ehrlich, ein pädagogischer Grundgedanke ist mir persönlich wichtiger als ein Elternwille.
Die Kinder haben zwei Jahre länger Zeit, sich zu entwickeln und in einer vertrauten Gemeinschaft mit- und voneinander zu lernen. Die Jahrgangsstufen 5 und 6 sind eine pädagogische Einheit, die mit besonderer Beobachtung und leistungs- und persönlichkeitsbezogener Förderung einhergeht. Es gibt eine Differenzierung in klassenübergreifenden Lerngruppen, Herr Wildt, und damit ein Mehr an individueller Förderung. Das ist auch für mich der entscheidende Punkt, weil wenn nämlich stärkere und schwächere Schüler länger zusammen lernen, entsteht daraus ein pädagogischer Effekt, der nicht zu verachten ist. Ganz im Gegenteil, es ist etwas, was etwas wirklich Wichtiges und Wertvolles ist,
nämlich, dass sie voneinander lernen und erkennen, dass Stärkere Schwächere schützen beziehungsweise sie auch fördern. Die Eltern werden in dieser Zeit intensiv beraten und somit gut auf die Entscheidung für eine weiterführende Schule vorbereitet.
Neben den positiven Lern- und Lehreffekten gibt es noch weitere. Wir nehmen mit diesen zwei Jahren Orientierungsstufe Stress und Druck von den Familien, die sonst mit Angst und Bange am Ende der Grundschulzeit auf das Zeugnis ihrer Kinder schielen, und das nur unter dem Gesichtspunkt, ob es für das Gymnasium reicht oder nicht.
Indem die Orientierungsstufe Lernformen aus der Grundschule aufgreift, sie weiterentwickelt und die Schülerinnen und Schüler an neue Arbeitsformen und Lerninhalte heranführt, bekommen sowohl Kinder als auch Eltern ein besseres Gefühl dafür, welcher Weg der richtige ist, als lediglich durch die Überschrift der weiterführenden Schularten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses Konzept des längeren gemeinsamen Lernens geht aktuell am besten im ländlichen Raum auf. Die Orientierungsstufe schlägt dort zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie ist zum einen das funktionierende Bindeglied zwischen Grundschule und weiterführenden Schule, zum anderen ermöglicht sie für viele Familien zwei Jahre länger einen woh
nortnahen Schulbesuch, schließlich gibt es dort häufig eine räumliche und organisatorische Verbindung von Regionaler Schule und Grundschule. Das sollten wir nicht außer Acht lassen.
Wenn der Titel dieser Aussprache nun auf die mittelfristige Planung abhebt, dann kann es für mich nur darum gehen, die Orientierungsstufe für alle Schülerinnen und Schüler noch attraktiver zu machen, also unabhängig davon, ob sie in der Stadt oder auf dem Land zu Hause sind, und egal, wie viel Alternativangebote sich links und rechts der Orientierungsstufe auftun. Eine solche Weiterentwicklung hin zu mehr Attraktivität hängt auch daran, den Bindegliedcharakter der Orientierungsstufe hervorzuheben. Das funktioniert an vielen Stellen gut über Schulpartnerschaften, wie zum Beispiel hier in Schwerin, wo die Regionale Schule Erich Weinert mit dem Gymnasium zusammenarbeitet, sodass die Schülerinnen und Schüler der Orientierungsstufe zum Beispiel die Möglichkeit haben, am Lateinunterricht teilzunehmen. Es ist außerdem nicht in Stein gemeißelt, dass die Orientierungsstufe immer und überall an der Regionalen Schule angesiedelt ist. Es gibt Fälle, da macht es Sinn, die Jahrgangsstufen 5 und 6 einer Grundschule zuzuordnen. Eine solche Ausnahmegenehmigung haben wir gerade erst für eine Schule in Greifswald erteilt.
Um es klar zu sagen, Modelle, die Orientierungsstufe zu stärken, sind eine Richtung, in die ich gern bereit bin zu denken. Bei anderen Gedankenspielen empfehle ich – Sie haben es genannt –, einen Blick in unseren Koalitionsvertrag, in dem wir vereinbart haben, an den grundsätzlichen Strukturen unseres Schulsystems nicht zu rütteln. Und, lieber Herr Wildt, das ist kein Stillhalteabkommen, sondern das hat durchaus Sinn, denn das Schlimmste, was einem Schulsystem passieren kann, ist: rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln!
Wir brauchen Ruhe im Schulsystem. Schulen müssen arbeiten können. Schulen dürfen wir nicht von einer Reform zur anderen treiben. Nichts anderes hat die Koalition richtigerweise vereinbart und das möchte ich noch mal ganz ausdrücklich hier betonen.
Ich möchte als zweiten Punkt noch mal ganz deutlich hervorheben: Die Orientierungsstufe macht Sinn. Es ist ein pädagogischer Grundgedanke, nämlich das längere gemeinsame Lernen, was dahintersteckt. Wir sind im Moment dabei, die Inklusion weiter umzusetzen. Inklusion bedeutet nichts anderes als gezielte individuelle Förderung, sowohl der Starken als auch der Schwachen. Genau das ist für mich der richtige Ansatz, in einem Klassenverband zu gucken, was kann ein Kind, wo kann ich es fördern, wo muss ich es weiter beraten, wo sind Schwächen, die ich stärken muss. Das ist gezielte individuelle Förderung. Das passiert in der Grundschule, es passiert in der Orientierungsstufe und auch in der weiterführenden Schule.
steckt. Das ist der Weg, den ich gern auch weitergehen möchte, weil das, glaube ich, das ist, was uns nach vorn bringt: Ruhe im Schulsystem, Qualität verbessern mit unseren Lehrerinnen und Lehrern in Kooperation mit den Eltern. Ich glaube, das ist das, was wir brauchen. – Vielen Dank.
Zunächst begrüße ich auf der Besuchertribüne eine neue Gruppe. Das sind Migrantinnen und Migranten vom Berufsschulzentrum Nord in Wismar. Herzlich willkommen!
Wie die gegenwärtige Aussprache zeigt und vielleicht noch zeigen wird, herrscht gerade in den Fragen der Orientierungsstufe auch im Hinblick auf die Besonderheiten des föderalen Schulsystems eine gewisse Orientierungslosigkeit. Das liegt daran, dass es sowohl gute Gründe für das eine als auch das andere Schulkonzept gibt. So gesehen wäre tatsächlich die Zeit reif für eine Evaluierung des Schulsystems mit der jetzigen Orientierungsstufe. Auf der anderen Seite sollte dabei aber auch beachtet werden, dass sich das bestehende Schulsystem mit seinen Vor- und Nachteilen etabliert hat und wir den Schulen mit Blick auf die zurückliegenden Jahre ein weiteres Herumexperimentieren ersparen sollten.
Im Folgenden möchte ich auf einige der Facetten dieser vielschichtigen Problematik eingehen. Was lässt sich bereits jetzt zum Konzept einer schulartunabhängigen Orientierungsphase in der 5. und 6. Klasse feststellen? Bei ihrer Einführung spielte der Gedanke der Bildungsgerechtigkeit eine große Rolle. Durch gemeinsames Lernen sollten die Kinder auch sozial benachteiligter Schichten zwei Jahre mehr Zeit bekommen, um herkunftsspezifische Defizite auszugleichen. Auch sogenannte Spätentwickler, deren Leistungsstärke sich erst in der 5. oder 6. Klasse entfaltet, profitieren davon. Die Orientierungsstufe sollte überdies einen abrupten pädagogisch-didaktischen Bruch zwischen Grundschule und Gymnasium vermeiden beziehungsweise abfedern. Ein weiterer Nutzen dieser Phase betrifft die Sicherung von Schulstandorten in schwächer besiedelten Gebieten. Hier soll die Gefahr der Schließung von Regionalschulen verhindert oder verringert werden, und von kurzen Schulwegen profitieren alle Schüler.
Sehr geehrte Damen und Herren, wie schon angedeutet, hat alles seine zwei Seiten. Die genannten Vorzüge der Orientierungsstufe 5/6 werden erkauft durch einen zweimaligen Schulwechsel, was auch schon gesagt wurde, innerhalb von nur zwei Jahren von Grund- auf Regionalschule und dann auf das Gymnasium. Außerdem ist eine gewisse Tendenz vorhanden, dass gute Schüler in der Orientierungsstufe unterfordert, Leistungsschwächere dagegen überfordert werden. Gegen diese Gefahr, das hatten wir auch schon angesprochen, hat das sogenannte leistungs- oder bindedifferenzierte Unterrichtskonzept Eingang in die Bildung gefunden. Dieses Konzept würde
auch zum Zwecke von Inklusion und Integration Anwendung finden. Leider liegen hier Theorie und Praxis noch ein wenig auseinander. Differenzierter Unterricht oder – anders gesagt – das Lernen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist, wie die Praxis zeigt, in großen Klassen und bei mangelnder Leistungsbereitschaft und Disziplin einiger Schüler nur bedingt für den Teil der Lerngruppen erfolgreich umsetzbar.
Werte Anwesende, betrachten wir nun erst einmal die gymnasiale Schullaufbahn. Aus Sicht der Schüler, deren Gymnasialfähigkeit bereits ab der 4. Klasse zweifelsfrei feststeht, dürfte ein Übergang in das Gymnasium ab der 5. Klasse zur maximalen Entscheidung ihrer Leistungspotenziale die optimale Lösung sein. Die 5. Gymnasialklasse gibt es bereits beim Sport- und Musikgymnasium sowie in Hochbegabten-Klassen, selbstredend gibt es sie auch bei den Schulen in freier Trägerschaft. So gesehen ist es kein Wunder, dass sich die privaten Gymnasien großer Beliebtheit erfreuen.
Hierzu hat mir vor einigen Jahren bereits ein leitender Mitarbeiter aus dem Bildungsministerium gesagt: „So lange ich es mir irgendwie leisten kann, besucht keines meiner Kinder eine öffentliche Schule.“ Das spricht irgendwie Bände. Aber, werte Anwesende, insofern verstehe ich natürlich den medialen Rummel nicht, wenn unsere Ministerpräsidentin das für ihren Nachwuchs auch in Anspruch nimmt.
Ein gewichtiges Argument zugunsten eines früheren Gymnasialeintritts, wie er übrigens auch in unserem Programm verankert ist, liegt in der begünstigenden Wirkung auf die Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre bis zum Abitur. Insbesondere ließe sich der umfangreichere Lehrstoff besser auf die längere Gymnasialzeit von acht Jahren verteilen, ein durchaus lösbares Problem, während hierbei der mit jeder Klassenstufe zunehmende Verlust der horizontalen Durchlässigkeit für Späteinsteiger, zum Beispiel durch entsprechende Anpassungskurse für höhere Klassenstufen, passiert. Für Schüler, deren Begabung erst nach der 4. Klasse ersichtlich wird, wäre wiederum die jetzige Praxis der Orientierungsstufe die günstigere Variante. Es wäre zu untersuchen, wie groß dieser Schüleranteil ist. Es gibt Schätzungen, zum Beispiel vom Lehrerverband, nachdem es bei etwa 20 Prozent der Schüler in der 4. Klasse noch nicht auszumachen ist, welche Schulform für sie die beste ist.
Wie schon angesprochen, halten wir es für grundsätzlich wichtig, dass die Durchlässigkeit zwischen den Schularten gerade auch in der Orientierungsstufe verbessert wird. Entscheidend für die Schullaufbahn jedoch ist in aller Regel der Elternwille, unabhängig davon, wo die Orientierungsstufe angesiedelt ist oder wird. Das Streben der Eltern ist primär darauf gerichtet, dem Kind die allerbeste schulische Ausbildung zu gewährleisten. Deshalb fällt die Entscheidung allzu oft auf das Gymnasium, auch wenn die Schullaufbahnempfehlung der Pädagogen anders lautete. Für Kinder, die aufgrund mangelnder Leistungen das Gymnasium später wieder verlassen müssen, ist dies oft eine persönliche Katastrophe. Auf der anderen Seite fällt den Gymnasien die undankbare Aufgabe zu, für einen beachtlichen Anteil weniger begabter Schüler über die Schuljahre die Wege zu schaffen, ihr Ziel am Ende mit Mühe und Not zu erreichen.
Dieses Hindurchbringen, auch in Anbetracht eines, man kann schon sagen, existenziellen Kampfes um Schülerzahlen, führt unweigerlich zu einer Absenkung des Leistungsniveaus. So erleben dann auch Abiturnoten eine Inflation, die sachlich nicht zu rechtfertigen ist. Hier liegt wohl auch eine der Ursachen für die häufig vonseiten der Hochschulen zu hörenden Klagen über nicht studierfähige Abiturienten. Diese Entwicklungen sprechen allerdings dafür, die Entscheidung über die Schullaufbahn nicht zu früh zu treffen.
Ausschließlich der Vollständigkeit halber erlaube ich mir noch einen Blick auf das DDR-System. In der ehemaligen DDR begann die Erweiterte Oberschule als Äquivalent zum Gymnasium bis in die 80er-Jahre hinein erst mit der 9. Klasse. Dieses Modell beruhte auf einer strengen Auslese, die dabei nicht völlig frei von politischen Kriterien erfolgte, und ist daher nicht mit unserer heutigen Situation vergleichbar. Deshalb möchte ich das auch nicht weiter vertiefen an dieser Stelle.
(Peter Ritter, DIE LINKE: Ja, und warum haben Sie es dann erwähnt? Weil es einfach mal gesagt werden muss, oder was?)
„Der Vollständigkeit halber“, habe ich gesagt, „ausschließlich der Vollständigkeit halber“ und weil es noch keiner gesagt hatte.
(Heiterkeit bei Andreas Butzki, SPD – Heiterkeit bei Peter Ritter, DIE LINKE: Das hat zwar nichts miteinander zu tun, aber wir erwähnen es mal.)
Nachdem wir die Orientierungsstufe innerhalb der hier im Lande beschiedenen Schulmodelle betrachtet haben, möchte ich nun auch zu der möglichen Intention mit diesem Antrag, das Berlin-Brandenburg-Modell der Grundschule, die 5. und 6. Klassen der Grundschule zuzuschlagen, kommen. Einen sachdienlichen Grund, die 5. und 6. Klassen dem Gymnasium zuzuordnen, vermögen wir nicht zu erkennen. Die Orientierungsstufe soll gerade einen abrupten pädagogisch-didaktischen Bruch zwischen Grundschule und Gymnasium vermeiden beziehungsweise zumindest abfedern. Eine verlängerte Grundschulphase birgt das Risiko, diesen immens wichtigen Aufgabenbereich zu verwässern.
Eine Evaluierung der Ergebnisse einer vergleichenden Studie zu diesem Modell in 2008 erbrachte ein nur leicht differenziertes Bild. Man sah das Modell in Fachkreisen zunächst als grundsätzlich gescheitert an, vermochte dann aber vonseiten der Befürworter noch, die wohlwollende Interpretation, sechs Jahre Grundschule schaden nicht, entgegenzustellen. Keinen Schaden anzurichten, ist eine zu schwache Perspektive für ein solches Vorhaben. Der immense Aufwand und der damit einhergehende massive Eingriff in das Schulartensystem rechtfertigen nicht den äußerst fraglichen Nutzen.
Liebe Kollegen von der BMV, bitte keine solchen Experimente im Bereich der Schulbildung! Wenn Sie mit den Schulleitern sprechen, möchten diese erst einmal in der Regel das Personalproblem und die Digitalisierung lösen. Mit verjüngten Kollegien und neuen Technologien werden dem Bildungsbereich noch große Umbrüche bevorstehen, die womöglich auch Auswirkungen auf die Orien
tierungsstufe haben. Ich denke, Sie haben zwar gesagt, Herr Wildt, dass Sie diese Vorgriffe, dass es noch andere Probleme gibt, erst mal ausblenden möchten, aber sie stehen ins Haus. Deshalb, denke ich, sollten wir diese Probleme erst einmal lösen, wie es auch die Schulleiter wollen, und uns dann noch mal die Orientierungsstufe angucken. – Vielen Dank.
Bis Herr Reinhardt hier vorn ist, erlaube ich mir, noch mal darauf hinzuweisen, dass der Geräuschpegel wieder geradeso an der Oberkante war. Also bitte etwas ruhiger!