Protokoll der Sitzung vom 24.10.2002

(Zustimmung bei der SPD)

Auch auf diesem Gebiet hat die SPD-Fraktion gemeinsam mit der Fraktion der Grünen damals richtig etwas auf den Weg gebracht. Da haben Sie nichts anzubieten.

Das Thema Ganztagsbetreuung ist von Ihnen jahrelang gegeißelt worden. Sie wollten doch keine Ganztagsschulen bzw. keine Ganztagsbetreuung. Heute haben Sie eine 180-Grad-Wendung vollzogen. Heute ist das alles in Ihrem Programm.

(Zurufe von der CDU)

Nein, nein, meine Damen und Herren, das nimmt Ihnen niemand ab. Der 22. September hat den Beweis erbracht: Familienpolitisch und frauenpo

litisch sind Sie auf dem Abstellgleis und in der Sackgasse. Das wird auch am 2. Februar so sein.

(Beifall bei der SPD)

Ich schließe die Besprechung der Großen Anfrage.

Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung: Konsequenzen aus PISA E ziehen - Programm für die Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Drs. 14/3763

Zur Einbringung habe ich mich gemeldet.

(Vizepräsidentin Goede übernimmt den Vorsitz)

Frau Kollegin Litfin hat das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als vor einem Jahr die Ergebnisse von PISA veröffentlicht wurden - wir erinnern uns alle noch ganz genau -, ist das Selbstbild unseres Landes als Nation der Dichter und Denker erheblich erschüttert worden. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass die Lesekompetenz unserer 15-Jährigen deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Länder liegt. Die Leistungen der deutschen Spitzenschüler und -schülerinnen sind im internationalen Vergleich nur Mittelmaß. Auch die deutschen Gymnasien erbringen bei weitem nicht solche Spitzenleistungen, wie sie das von sich selbst immer geglaubt haben.

Merkwürdig wenig beachtet wurde jedoch der dramatischste Befund von PISA. Wenn man vergleicht, wie viele Schülerinnen und Schüler nicht einmal die unterste Stufe der Lesekompetenz erreichen, so kommt man zu dem Ergebnis, dass Deutschland mit 10 % nicht nur unter dem Durchschnitt, sondern deutlich im Schlussfeld liegt. Nur Lettland, Luxemburg, Mexiko und Brasilien schneiden noch schlechter ab. Sogar mehr als 20 % der Jugendlichen in Deutschland erreichen nicht

die Kompetenzstufe 2, also die Stufe, die auf den Mindeststandards des Deutschunterrichts basiert. Diese Jugendlichen werden nicht nur erhebliche Schwierigkeiten haben, eine Berufstätigkeit auszuüben; denn - das wissen Sie - Berufstätigkeit auszuüben erfordert immer mehr Qualifikation. Vielmehr werden sie auch Probleme haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und ihr eigenes alltägliches Leben zu bewältigen; denn - auch das wissen Sie alle - dort wird alles komplizierter.

Auch auf diese Kinder und Jugendlichen ist die Gesellschaft angesichts der geringen Vermehrungsrate, die sich die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile angewöhnt hat, angewiesen. Die PISA-Forscher bezeichnen diese Jugendlichen deshalb als Risikoschüler. Aber wir müssen hier doch gemeinsam feststellen: Das Risiko sind nicht diese Jugendlichen. Das Risiko für diese Jugendlichen ist unser Schulwesen, unser Bildungswesen.

(Zustimmung von Klare [CDU])

Die meisten dieser Jugendlichen kommen aus schwierigen, benachteiligten Verhältnissen. Die deutsche Schule ist bisher nicht in der Lage, den Bildungsbedürfnissen dieser Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Das ist keineswegs nur ein Problem für diese Jugendlichen selbst, sondern es ist ein Problem für unsere Gesellschaft, weil es die soziale Spaltung vertieft und verfestigt, die für unsere Gesellschaft insgesamt einen erheblichen Sprengstoff bedeutet. Auch die Mitarbeiterin der Shell-Studie Ruth Linssen hat kürzlich im Forum Bildung festgestellt: An der Bildung wird sich die Gesellschaft teilen. Dem gilt es entgegenzuwirken.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Die Ergebnisse beim nationalen Vergleich PISA E waren für Niedersachsen noch erschreckender. 27 % der Jugendlichen in Niedersachsen erreichen nicht die Stufe 2 der Lesekompetenz. 12 % erreichen nicht einmal die unterste Stufe. Das sind doppelt so viele wie im OECD-Schnitt. Das sind viermal so viele wie in den Spitzenländern Schweden, Irland, Kanada und Finnland. Unter den westdeutschen Flächenländern bildet Niedersachsen hier beschämenderweise das Schlusslicht.

Die Landesregierung hat diesen nun wirklich alarmierenden Befund weitgehend ignoriert. Unsere Kultusministerin versucht sogar, die für Niedersachsen beschämenden Ergebnisse zu färben. Sie weist darauf hin, dass die Gymnasien in einigen Fächern im innerdeutschen Vergleich immerhin noch ganz ordentlich abgeschnitten hätten.

In seiner ersten Reaktion auf PISA E hat unser Ministerpräsident angekündigt, in Niedersachsen das Zentralabitur einführen zu wollen. Für welche Klientel diese Maßnahme gedacht ist, wissen wir. Sie hilft auf jeden Fall nicht den benachteiligten Kindern und Jugendlichen, denen, die besonders große Probleme haben; denn in aller Regel werden sie im heutigen Bildungssystem erst gar nicht zum Abitur geführt.

Zur Haupt- und Realschule hat er gesagt, dort müsse man die Unterrichtsversorgung verbessern. Er hat Recht. Dafür sind wir alle gemeinsam. Aber ein Konzept für eine qualitative Verbesserung ist die Verbesserung der Unterrichtsversorgung noch lange nicht. Die Landesregierung neigt ja dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die nichts weiter bedeuten, als mit mehr des Gleichen zu versuchen, Missstände zu beseitigen. Das klappt jedoch nicht. Wir brauchen einen qualitativ anderen Unterricht, wenn die Schulen in der Lage sein sollen, insbesondere die benachteiligten Kinder und Jugendlichen zu fördern. Diese Gruppe der Kinder und Jugendlichen ist in Niedersachsen jahrelang vernachlässigt worden. Heute hat Niedersachsen mit 5,1 % den höchsten Anteil an Sonderschülern und Sonderschülerinnen und mit 10,1 % den höchsten Anteil an Jugendlichen, die die Schule ohne jeden Abschluss verlassen. Das entspricht exakt dem Anteil der Schülerinnen und Schüler, die bei PISA unter der Kompetenzstufe 1 geblieben sind. Die Förderung dieser Kinder und Jugendlichen muss Ausgangs- und Mittelpunkt einer verantwortungsbewussten Schulpolitik sein.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Beginnen muss diese Arbeit bereits in den Kindertagesstätten. Darüber haben wir gestern bereits in der Aktuellen Stunde diskutiert. Im Grundsatz sind sich alle Parteien einig. Aber die Landesregierung weigert sich immer noch, diese Erkenntnisse in Handeln umzusetzen, weil sie die Kosten fürchtet. Das ist hier gestern sehr deutlich geworden. Natürlich wird es teurer, wenn wir die Kindergärten mit Erziehern und Erzieherinnen ausstatten, die

in Deutschland so ausgebildet werden, wie es in unseren europäischen Nachbarländern Standard ist. Nur die Rahmenrichtlinien für die Erzieherausbildung zu überarbeiten, reicht bei weitem nicht aus. Wenn die Erzieherinnen in der Lage sein sollen, die motorische, musische, kognitive und soziale Entwicklung der Kinder intensiv zu fördern, dann brauchen sie eine Ausbildung auf Fachhochschulniveau. Dann wird auch die heutige miese Bezahlung der Erzieherinnen und Erzieher nicht mehr ausreichen.

(Zustimmung von Frau Vockert [CDU])

Aber wir werden keine Chance haben, Anschluss an die PISA-Spitzenländer zu erreichen, wenn der Elementar- und Primarbereich in Deutschland so unterfinanziert bleibt, wie er es heute im OECDVergleich ist. Hier ist eine Umverteilung der finanziellen Mittel dringend erforderlich; denn wir bauen im Bildungsbereich ein Haus mit einem goldenen Dach auf einem wackeligen Fundament. Spitze, Frau Vockert, sind wir im OECD-Vergleich bei den Ausgaben für die gymnasiale Oberstufe; da sind wir ganz oben. Aber für die Grundschule geben wir am wenigsten aus.

Wir fordern die Landesregierung auf, die Kindertagesstätten endlich als Bildungseinrichtungen ernst zu nehmen und die erforderlichen Mittel dafür aufzubringen.

Auch in Bezug auf die Grundschule ist ein grundsätzliches Umdenken angesagt. Länder wie Finnland und Schweden sind nicht deshalb bei PISA so erfolgreich, weil sie möglichst früh Zensuren erteilen oder die Kinder möglichst früh auseinander sortieren, wie die CDU-Fraktion es will, sondern sie sind erfolgreich, weil sie jedes Kind mit seinen individuellen Fähigkeiten fördern, es mit seinen individuellen Problemen ernst nehmen und unterstützen. In jeder Schule stehen dort Sonderpädagogen in ausreichender Zahl zur Verfügung, und es gibt andere Fachkräfte, um wirklich jedes Kind mitnehmen zu können.

Wir fordern die Landesregierung in unserem Antrag auf, das Konzept der sonderpädagogischen Grundversorgung endlich aus dem Schattendasein des Alibiprojektes herauszuholen. Den Schulen muss eine ausreichende Zahl von Sonderpädagogen und anderen Fachkräften zur Verfügung gestellt werden, um alle Kinder gezielt individuell fördern zu können. Das gilt ganz besonders für die

ersten sechs Jahrgänge; denn hier werden die Grundlagen für den weiteren Bildungsweg gelegt. Je mehr dort investiert wird, desto weniger Mittel werden später gebraucht werden.

Besondere Anstrengungen sind auch für die Integration der Kinder ausländischer Herkunft erforderlich. Wir begrüßen zwar, dass die Landesregierung bereits einiges für die Sprachförderung dieser Kinder tut. Aber das reicht bei weitem noch nicht aus. Die Schule muss noch wesentlich mehr an interkultureller Kompetenz entwickeln. Vor allem muss die Zusammenarbeit mit den Eltern der Migrantenkinder verbessert werden, denn diese Kinder haben oftmals deswegen einen geringen schulischen Erfolg, weil sie von ihren Eltern nicht unterstützt werden können. Wie sollen die Eltern ihre Kinder auch fördern, wenn sie selbst nur wenig Deutsch können und ihnen das deutsche Schulwesen oftmals außerordentlich fremd ist? Ich bin der Meinung, dass es auch Aufgabe des Landes ist, Sprachkurse für Eltern einzurichten und Elternberatungseinrichtungen zu unterstützen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Wir haben gestern von unserem Ministerpräsidenten gehört, seine Rolle sei, unsere Anträge erst einmal zurückzuweisen. Wir hoffen trotzdem, dass er endlich bereit ist, mit uns gemeinsam die große, aber Gewinn bringende Aufgabe der Förderung benachteiligter Kinder und Jugendliche anzunehmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke schön, Frau Kollegin Litfin. - Frau Seeler, Sie sind die nächste Rednerin.

(Vizepräsidentin Litfin übernimmt den Vorsitz)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich etwas über die Ausführungen gewundert, weil Sie nur in wenigen Bereichen auf den Antrag eingegangen sind. In einem hat Frau Litfin allerdings Recht - das ist inzwischen allgemein bekannt -: Die PISA-Ergebnisse fordern uns zum Handeln auf. Das haben wir auch getan.

Ich beginne mit der Sprachförderung. Wir haben mit dem Schulgesetz die Sprachförderung vor Beginn der Schulzeit eingeführt und festgelegt, dass auch während der Schulzeit eine Sprachförderung für diejenigen, die Deutsch nicht in dem Maße können, wie es nötig ist, um erfolgreich am Schulbesuch teilzunehmen, stattfindet.

(Klare [CDU]: Wo steht das?)

Wir alle wissen, dass die ersten 20 Pilotschulen jetzt ihre Arbeit aufnehmen und unterschiedliche Förderkonzepte entwickeln, sei es im Kindergarten oder in der Schule. - Herr Klare, ich wundere mich über Ihre Zwischenbemerkung. Hätten sie in der Vergangenheit und heute zugehört, dann würden Sie es wissen.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von Kla- re [CDU])

Diese Pilotschulen nehmen nun ihre Arbeit auf. Ich finde es sinnvoll, dass man die Ergebnisse der Arbeit der Schulen zunächst auswertet, bevor man die Konzepte im ganzen Land umsetzt, da man erst dann weiß, was gut ist und was verbessert werden muss. Insofern haben wir gesagt, dass wir zunächst mit 20 Schulen beginnen. Landesweit wird die Sprachförderung im Jahre 2004 eingeführt. Ich finde dies ein sehr sinnvolles Verfahren. Dazu bedarf es nicht eines Antrages im Landtag.

Frau Kollegin Seeler - -

Ich möchte nicht auf Zwischenfragen antworten, weil ich im Zusammenhang vortragen möchte. Wenn am Ende meiner Ausführungen noch Redezeit übrig ist, können wir uns darüber unterhalten.

Die Grünen sind anscheinend der Meinung, weil sie in der Opposition sind, müssten Sie nun etwas drauflegen. Dementsprechend wollen sie die Sprachtests nicht rund ein Dreivierteljahr vor der Schulzeit, sondern schon viel früher einführen. Die Sprachförderung soll auch nicht ein halbes Jahr vor Schulbeginn, sondern ein Jahr vor Schulbeginn stattfinden. Es stellt sich die Frage, warum es eigentlich ein Jahr sein soll und es nicht anderthalb oder zwei Jahre sein sollen. Das Verfahren ist also sehr willkürlich. Man sollte erst einmal seine Erfahrungen mit den jetzt beschlossenen Maßnahmen machen und dann prüfen, was notwendig ist.

Über den Bildungsauftrag des Kindergartens, dem zweiten Punkt in Ihrem Antrag, haben wir gestern in der Aktuellen Stunde sehr ausführlich geredet. Ich möchte das hier nicht wiederholen, sondern nur eine Bemerkung dazu machen. Sie haben zum Bildungsauftrag des Kindergartens Forderungen gestellt und ein kostenloses Bildungsjahr gefordert. Ich frage mich, ob Sie das mit Ihrem finanzpolitischen Sprecher abgestimmt haben. Der hat nämlich in einer Presseerklärung der Grünen dargelegt, dass - ich zitiere - „angeblich selbst drastische Einsparungen quer durch alle Ressorts nicht mehr verhindern, dass die Höhe der Neuverschuldung in 2003 höher ausfallen wird als die Summe der eigenfinanzierten Landesinvestitionen“. Wenn das die Auffassung der Grünen ist, meine Damen und Herren, dann frage ich mich, warum Sie hier Forderungen stellen, deren Umsetzung Mehrkosten in Höhe von ungefähr 75 Millionen Euro zur Folge hätte. Anstatt also ein kostenloses Kindergartenjahr für alle zu fordern, sollten wir besser über Konzepte nachdenken, wie wir die Fünfjährigen, die jetzt noch keinen Kindergarten besuchen - das sind rund 5 bis 10 % -, dazu bringen können, dass sie in den Kindergarten gehen. Genau das sind Konzepte, die von Frau Trauernicht schon veröffentlicht worden sind.