Protokoll der Sitzung vom 15.11.2000

Bei einem weiteren Punkt wird mir richtiggehend komisch. In dieser Beschlussempfehlung ist anders, als ich es im Ursprungsantrag gelesen habe - formuliert, dass nach Auffassung des Landtages eine Neuordnung der Stimmengewichtung im Rat unverzichtbar sei, und zwar mit der Begründung, dass durch die Aufnahme der neuen Mitgliedsländer das Gewicht der Stimme Deutschlands proportional sinken würde. „Unverzichtbar“, liebe Kolleginnen und Kollegen, was bedeutet das? - Das bedeutet, dass Sie wollen, dass Deutschland ein überproportional großes Stimmrecht im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten bekommt,

(Eveslage [CDU]: Gerade nicht!)

denn sonst wäre eine Neuregelung nicht erforderlich.

Eine solche „Großmachtpolitik“ innerhalb der EU ist ja wohl abzulehnen.

(Wenzel [GRÜNE]: Es geht nur um die Abbildung der Bevölkerungszahl!)

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten in der Drucksache 1982 zustimmen will, den bitte ich um ein

Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Eine Gegenstimme. Gibt es Stimmenthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit haben Sie den Antrag mit großer Mehrheit angenommen.

Wir kommen zum letzten Tagesordnungspunkt des heutigen Tages, dem

Tagesordnungspunkt 15: Zweite Beratung: EU-Grundrechtecharta - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 14/1896 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten - Drs. 14/1983

Der Antrag wurde in der 59. Sitzung am 11. Oktober 2000 an den Ausschuss für Bundesund Europaangelegenheit zur federführenden Beratung und Berichterstattung überwiesen. Berichterstatterin ist die Kollegin Frau WörmerZimmermann, der ich das Wort erteile.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie aus der Drucksache 1983 im Einzelnen zu ersehen ist, empfiehlt Ihnen der Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten, den Antrag in einer geänderten Fassung anzunehmen. Mit diesen Änderungen nimmt der Ausschuss jene Punkte auf, die bereits Gegenstand der ersten Beratung in der Plenarsitzung am 11. Oktober 2000 waren. So soll mit der Forderung an den bevorstehenden Europäischen Gipfel in Nizza, die EU-Grundrechtecharta als völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zu verankern, verdeutlicht werden, dass eine sofortige völkerrechtliche Verbindlichkeit nach dem gegenwärtigen Stand der Verhandlungen wohl nicht erwartet werden kann. Vertreter aller Fraktionen haben dabei in den Ausschussberatungen nochmals übereinstimmend betont, dass der durch den Konvent vorgelegte umfassende Grundrechtekatalog ihre ausdrückliche Zustimmung findet.

Mit der zweiten Änderung nimmt der Ausschuss die Kritik auf, die in der Oktober-Plenarsitzung insbesondere von der CDU-Fraktion geltend gemacht wurde. Nachdem die endgültige Fassung des Grundrechtekatalogs vom 28. September 2000 große Teile der in den Nrn. 3 und 4 des ursprünglichen Antrags enthaltenen Forderungen bereits berücksichtigt, sollen diese Nummern gestrichen

werden. Stattdessen soll ausdrücklich begrüßt werden, dass mit der zu verabschiedenden Charta zumindest ein großer Teil der Länderforderungen, insbesondere nämlich die Verankerung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte, aber auch das Recht auf Bildung und die Sicherung des Existenzminimums sowie der Schutz der regionalen kulturellen Identität Berücksichtigung gefunden haben.

Ich bin damit bereits am Ende meiner Berichterstattung angelangt, liebe Kolleginnen und Kollegen, und darf Sie namens des Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten bitten, sich seiner mit Zustimmung aller Fraktionen zustande gekommenen Empfehlung, der sich die mitberatenden Ausschüsse für innere Verwaltung sowie Rechts- und Verfassungsfragen mit demselben Stimmenverhältnis angeschlossen haben, zuzustimmen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Für die Fraktion der SPD spricht der Kollege Rabe.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich befürchte, dass ich Ihnen über den Bericht der Kollegin Frau Wörmer-Zimmermann und die Beratungen des Ausschusses hinaus heute nicht sehr viel Neues berichten kann. Deshalb werde ich mich kurz fassen.

Wir haben in den Ausschussberatungen eine Aktualisierung unseres Ursprungsantrages vorgenommen. Ich hatte leider in der ersten Beratung eine kleine Meinungsverschiedenheit mit dem Kollegen Eveslage. Die CDU-Fraktion hat sich daraufhin in den Ausschussberatungen insgesamt der Stimme enthalten. Ich hoffe, dass wir heute auf eine gemeinsame Linie kommen werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Erinnerung: Wir haben diesen Antrag seinerzeit gemeinsam mit den fünf norddeutschen Bürgerschaften und Landtagen formuliert. Jetzt haben wir ihn etwas aktualisiert. Wir sind in der Tat gemeinsam der Überzeugung, dass es für die deutschen Länderparlamente eine ganz vornehme Pflicht ist, hier insgesamt auf ihr Mitwirkungsrecht zu pochen.

Bei der gelungenen Erarbeitung einer Grundrechtecharta sind nun zumindest etliche unserer Forderungen umgesetzt worden. Die Staats- und Regierungschefs werden diese Grundrechtecharta in Nizza in Form einer feierlichen Erklärung zunächst einmal verabschieden. Gestern hat das Europäische Parlament mit überwiegender Mehrheit - lediglich ein paar Abgeordnete, hauptsächlich britische Konservative, haben dagegen gestimmt - diese Grundrechtecharta gebilligt.

Um auf den letzten überschießenden Bereich unseres Antrages zu kommen: Unsere Kritik setzt an zwei Punkten an, nämlich zunächst einmal an der feierlichen Erklärung. Wir, die norddeutschen Landtage, fordern, dass die Charta eben nicht nur als feierliche Erklärung - sozusagen als „soft law“ umgesetzt wird, sondern wir fordern, dass es einen völkerrechtlichen Vertrag geben muss, der die darin garantierten Rechte auch tatsächlich einklagbar macht.

(Zustimmung von der SPD)

Wir als norddeutsche Länderparlamente fordern außerdem, dass wir in angemessener Art und Weise am beginnenden EU-Verfassungsgebungsprozess beteiligt werden.

Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Herren, appelliere ich noch einmal an die CDUFraktion, die sich ja in den Ausschussberatungen der Stimme enthalten hat: Stellen Sie sich bitte nicht ins Abseits. Stimmen Sie diesem grundrechtsorientierten Antrag zu.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister Senff, bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Nizza steht die Charta der Grundrechte zur Verabschiedung an. Es wird eine feierliche Proklamation werden. In Übereinstimmung mit dem Kollegen Rabe sowie dem Ausschuss und dem Antrag sage ich Ihnen: Eine feierliche Proklamation reicht der Landesregierung nicht aus. - Wir wissen natürlich, dass in Nizza im Moment nichts zu erreichen ist. Deshalb steht das Thema Grundrechte, Grundgesetz für die Europäische Union, nach Nizza auf der Tagesordnung der Nachfolgekonferenz. Dort wol

len wir Rechtsverbindlichkeit für die Rechte bekommen, die von Roman Herzog und dem Konvent formuliert wurden.

Meine Damen und Herren, dennoch sage ich: Die Länder und der Bund sind zuversichtlich, dass von dieser Charta und von dem Beschluss in Nizza trotz des zunächst nur deklaratorischen Charakters eine faktische Wirkung ausgehen wird, die an alle anderen europäischen Einrichtungen das Signal geben wird, dass diese Charta von den Mitgliedsländern der Union ernst genommen wird, weil diese Charta gemeinsam verabschiedet wurde. Erfreulicherweise ist es in den Diskussionen nicht zuletzt - das darf ich hier nicht ohne Stolz auf die Länder der Republik hinzufügen - durch die Teilnahme ihrer Vertreter gelungen, zahlreiche Anliegen, die in den deutschen Ländern erarbeitet und weitergegeben wurden, zu verankern. Ich nenne einige wenige: Es ist sichergestellt, dass es keine neue Zuständigkeiten für die Gemeinschaft und für die Union in Europa geben wird. Daneben sind weitere Punkte, die den Ländern wichtig waren, in diese Charta eingeflossen. Sie sind zum Teil allgemeiner, zum Teil spezieller Art. Hierzu gehören Aussagen zum geistig-religösen und sittlichen Erbe der Europäischen Union, Menschenwürde, Gleichheit von Frauen und Männern, Schutz von Kindern, Minderheitenschutz und der ganze Katalog, der Ihnen bekannt ist. Kritisch merke ich an, dass vor allem eine klare Unterscheidung zwischen den individuell einklagbaren Rechten auf der einen Seite, z. B. Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, und Zielbestimmung oder Grundsätzen auf der anderen Seite, z. B. Recht auf angemessene und gerechte Arbeitsbedingungen, nicht zu erreichen war.

Meine Damen und Herren, die Charta stellt die in Europa geltenden Grundrechte in den Mittelpunkt und unterstreicht - das ist ein zusätzlicher wichtiger Wert - die europäische Wertegemeinschaft. Der Grundkonsens, den wir gefunden haben, ist meines Erachtens weltweit vorbildlich. Als Beispiel möchte ich das Verbot der Todesstrafe anführen.

Insgesamt stellt die Charta einen ausgewogenen und, wie ich meine, tragfähigen Kompromiss dar. Darin sind vielfältige Verfassungstraditionen eingeflossen. Ich meine, in Europa ist es ein besonderer Wert, dass auch England diesem Text zugestimmt hat, das aus der Historie heraus Abstand, sogar Abneigung gegen geschriebene Verfassungstexte hat.

Die Landesregierung wird sich entsprechend der Forderung des Landtages und entsprechend dem Antrag dafür einsetzen, dass es nicht bei der vorgegebenen Deklaration bleibt.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen, dass die Grundrechtecharta einer der zentralen Bestandteile der Diskussion nach Nizza ist, dass dabei eine möglichst weite Rechtsverbindlichkeit erreicht wird und dass das alles zeitnah geschieht. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Für die Fraktion der CDU spricht der Kollege Eveslage.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten des Niedersächsischen Landtages hat den ursprünglichen Antrag der SPD-Fraktion in wesentlichen Teilen verändert. Dabei ist der Ausschuss in, wie ich meine, überzeugender Weise auf die Kritik eingegangen, die ich am 11. Oktober 2000 von dieser Stelle aus namens der CDUFraktion vorgetragen habe. Es hat sich erwiesen - die Änderungen, die die SPD an ihren Ursprungsantrag vorzunehmen bereit war, belegen es eindeutig -, dass die Kritik der CDU völlig berechtigt war, Herr Kollege Rabe.

(Beifall bei der CDU)

Ich darf also Sie persönlich und auch die SPDFraktion zu dieser Einsicht herzlich beglückwünschen.

(Plaue [SPD]: Das ist aber ein schlitz- äugiger Umgang mit der Wahrheit!)

Wir werden den in unserem Sinne geänderten Antrag deswegen zustimmen.

Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu dem jetzigen Ergebnis. Nach der Debatte im Plenum am 11. Oktober dieses Jahres ist die öffentliche Diskussion um die Grundrechtecharta weitergegangen bzw. von einigen Beteiligten erst eröffnet worden. Zwei Bereiche wurden und werden besonders kontrovers diskutiert.

Erstens. Damit die in die Charta aufgenommenen Grundrechte und Programmsätze nicht pure Deklaration bleiben, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten der Union eingeklagt werden können, müssen sie rechtsverbindlich werden. Sie müssen also in die europäischen Verträge und gegebenenfalls in eine zu erarbeitende europäische Verfassung aufgenommen werden. Dies kann nur nach gründlicher Diskussion in den nationalen Parlamenten und, bezogen auf Deutschland, in den Parlamenten der Länder geschehen. Am Ende dieses Prozesses muss eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Bundestag und Bundesrat stehen. Ob in Deutschland, wie in einigen anderen Mitgliedstaaten entsprechend derer jeweiligen Verfassungslage, eine Volksabstimmung sinnvoll oder notwendig ist, kann meines Erachtens nicht heute, sondern erst im Verlauf der sicherlich noch sehr interessanten Verfassungsdiskussion in Deutschland entschieden werden. Wenn in einigen Wochen die Charta der Grundrechte vom Europäischen Rat in Nizza feierlich erklärt worden sein wird, wird also nur der erste Schritt in einem längeren Prozess vollzogen worden sein.

Zweitens. Eine Aufnahme der Charta in die europäischen Verträge kann nur mit einer klaren und strikten Kompetenzbeschränkung der Europäischen Union und ihrer Organe einhergehen. Die selbst für Experten unübersichtlichen und für Laien völlig undurchschaubaren Vertragstexte der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union erleichtern eine ständige Kompetenzerweiterung der Union zulasten des Bundes und der Länder. Dieser „europäischen Kompetenzwilderei“, wie der saarländische Ministerpräsident, Peter Müller, den schleichenden Prozess genannt hat, muss endlich ein Ende bereitet werden. Dies müssen wir auch vor dem Hintergrund der Erweiterung der Europäischen Union fordern.

Zurzeit diskutieren wir die Erweiterung der Europäischen Union viel zu sehr unter dem Gesichtspunkt, ob die Beitrittskandidaten beitrittsfähig sind oder schon geworden sind. Wir müssen aber genauso überlegen, ob die Europäische Union erweiterungsfähig ist, und wir müssen den Beitrittskandidaten dann genau darstellen, welche Rechte und Pflichten sie übernehmen. Dazu ist eine klare Kompetenzbeschreibung notwendig. Wir wollen einen so genannten dualen Kompetenzkatalog, der einerseits festlegt, was die Europäische Union darf, und andererseits bestimmt, wo sie auf keinen Fall

in nationale und regionale Zuständigkeiten, d. h. Länderzuständigkeiten eingreifen darf.

(Beifall bei der CDU - Kethorn [CDU]: Sehr richtig!)

In die gefährdeten Verantwortungsbereiche der Länder können z. B. die in der Charta formulierten sozialen Rechte oder das Recht auf Aus- und Weiterbildung eingreifen. Denken Sie in diesem Zusammenhang auch an die Problematik der Stadtentwicklung. Stadtentwicklung/Städtepolitik ist kein Kompetenzbereich der Europäischen Union. Trotzdem erlaubt es sich die Union, über ihre Eurobürokratie bis hinein in Stadtteilsanierungen und Stadtsanierungen den zuständigen Ländern und Kommunen Vorschriften zu machen mit der Begründung: Wenn europäisches Geld fließt, wollen wir auch im Einzelnen bestimmen, wie das Geld an Ort und Stelle eingesetzt wird. - Das ist eine schleichende Kompetenzerweiterung, die in den Verträgen ursprünglich nicht vorgesehen ist.

Die Charta der Grundrechte gibt sich allerdings abwehrend. In Artikel 52 Abs. 2 wird formuliert:

„Die Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in den Gemeinschaftsverträgen oder im Vertrag über die Europäische Union begründet sind, erfolgt im Rahmen der darin festgelegten Bedingungen und Grenzen.“