Protokoll der Sitzung vom 17.05.2001

(Klare [CDU]: Das ist wohl wahr!)

Darüber reden wir. Mit 10 % Schulabgängern ohne Abschluss und 25 % Abiturquote liegt Niedersachsen nicht gut im Rennen. Das muss besser werden. Deshalb sollte es durchaus mehr Realschul- und Gymnasialangebote in der Fläche geben. In einigen Landkreisen sind die Abiturquoten wie in Bayern. Das ist Unterentwicklung. Ich sage das deutlich. Bayern ist in seiner Abiturquote unterentwickelt.

(Klare [CDU]: Aber der Ministerprä- sident sieht das anders!)

Alle Schülerleistungen zeigen, dass Bayern dort zu niedrig liegt. Wir füllen doch die Hochschulen in Bayern mit unseren Abiturienten.

(Beifall bei der SPD)

Ist Ihnen das nicht bekannt? Dort werden die Hochschulen und anschließend auch entsprechend der qualifizierte Arbeitsmarkt von NordrheinWestfalen, Hessen und Niedersachsen gefüllt. Diese Trends wollen wir bei unserer Schulstrukturdebatte berücksichtigen. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es richtig, nicht auf den Juni und eine mögliche Demonstration, die man vielleicht anreizen kann, zu schielen, sondern sich wirklich für die Zukunft Niedersachsens und für ein zukunftsgerechtes Schulsystem einzusetzen. Herr Busemann, Herr Klare und Frau Vockert, ich erneuere mein Angebot: Wir sollten versuchen, einen Konsens über diese Fragen hinzubekommen und nicht eine Spaltung.

(Beifall bei der SPD)

De CDU-Fraktion erhält für die Kollegin Vockert zusätzliche Redezeit von bis zu vier Minuten.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben viel über Zukunft und Zukunftsfähigkeit gesprochen. Ich nehme Ihnen zunächst auch einmal ab, dass Sie es ernst meinen.

Integrative Systeme sind für Sie ja das Zukunftsmodell. Aber ich frage mich, ob man etwas zukunftsfähig nennen kann, was Tony Blair in England gerade abgeschafft? Sie glauben, wenn Sie das in Niedersachsen umsetzen, machen Sie damit unsere Schülerinnen und Schüler zukunftsfähig. Wir wagen zu bezweifeln, dass das der richtige Weg ist.

Der zweite Punkt. Sie wollen unser bestehendes Schulsystem aus Hauptschule, Gymnasium, Kooperativer Gesamtschule, Integrativer Realschule und der jetzigen Realschule um die Sekundarschule erweitern. Ich weiß nicht - vor allen Dingen vor dem Hintergrund dessen, was man in Ihren Papieren nachlesen kann -, wie Sie hier von Zukunftsfähigkeit sprechen können. Denn man kann jetzt schon erkennen - das sagen nicht nur Lehrkräfte, das sagen auch Eltern -, dass dieses System, das Sie umsetzen möchten, zu einem organisatorischen und zu einem sozialen Chaos führen wird. Die Schülerinnen und Schüler sind die Gelackmeierten, weil sie in diesem Alter Beziehungsebenen und Orientierung und damit Klassenverbände brauchen. Sie aber wollen das alles einfach abschaffen, wollen große einheitliche Systeme, wollen 70 % der Schülerinnen und Schüler in einer Schule zusammenfassen.

(Ministerin Jürgens-Pieper: Das habe ich doch gar nicht gesagt!)

- Das steht aber in Ihrem Schulstrukturreformkonzept. - Dies werden wir nicht zulassen.

Übrigens rufen wir nicht zur Demo auf. Jedoch halte ich die Demo für notwendig. Wenn Elternräte sich zusammenschließen, dann sollten Sie sich die Sorgen auch einmal anhören.

(Ehlen [CDU]: Sehr richtig!)

Sie sagen, die ausbildende Wirtschaft würde kooperative Formen akzeptieren. - Die SPD-Fraktion setzt trotz Kritik auf die Sekundarschule. Ich frage

mich, ob Sie nicht nur auf beiden Augen blind, sondern auch auf beiden Ohren taub sind, dass Sie Warnungen vor integrierten Systemen nicht nur aus der Bundesrepublik, sondern auch aus anderen Ländern einfach nicht ernst nehmen wollen. Damit schaden Sie unseren Schülerinnen und Schülern und letztlich der Zukunftsfähigkeit unserer jungen Generation. - Davor wollen wir Sie bewahren. Deshalb: Bleiben Sie im Prinzip bei Ihren alten Aussagen!

Auch die SPD-Fraktion hat um zusätzliche Redezeit gebeten. Frau Kollegin Seeler erhält ebenfalls bis zu vier Minuten.

Ich möchte nur drei Sätze anführen, Frau Vockert. Sie reden hier davon, dass in Systemen, in denen Haupt- und Realschulen zusammenarbeiten, das soziale und organisatorische Chaos ausbrechen würde. - 45 % unserer Realschulen arbeiten in genau solchen Systemen, und da herrscht alles andere als ein soziales und organisatorisches Chaos: Da wird hervorragende Arbeit geleistet.

(Beifall bei der SPD - Adam [SPD]: Sehr richtig!)

Ich finde es eine Unverschämtheit, was Sie hier unterstellen.

(Beifall bei der SPD - Klare [CDU]: Ist es so schwer zu verstehen, dass zwischen der Sekundarschule und der Realschule Unterschiede bestehen?)

Meine Damen und Herren, ich stelle fest, dass die Wortmeldungen erschöpft sind. Der Kollege Klare wird sicherlich auch gleich wieder zur Ruhe kommen. Ich schließe die Beratung, und wir kommen zur Ausschussüberweisung; Herr Kollege Klare, daran können Sie mitwirken.

Die federführende Beratung des Antrags soll beim Kultusausschuss liegen - da können die Debatten intensiv fortgesetzt werden - und die Mitberatung im Ausschuss für Haushalt und Finanzen erfolgen, denn Schule ist bekanntlich ein Thema, bei dem alle mitreden können. Wer so entscheiden möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Das ist so beschlossen.

Herr Präsident Wernstedt hat mich gebeten, an das zu erinnern, was neben dem Essen und den Diskussionen noch in der Mittagspause ansteht: Im Rahmen des „kulturforum landtag“ wird „Theatersport“ mit der Landesbühne Hannover angeboten. In dem Ihnen zugegangen Rundschreiben heißt es: „Die Schauspieler der Landesbühne Hannover improvisieren spontan und live alles, was das Publikum von ihnen verlangt: von romantischen Liebesszenen bis zu knallharten Western. Lassen Sie sich überraschen, wenn es heißt, 5...4...3...2...1... los geht’s!‘“ - Es geht los. Gäste sind herzlich willkommen.

Ich unterbreche die Sitzung.

Unterbrechung: 13.16 Uhr.

Wiederbeginn: 14.31 Uhr.

Meine Damen und Herren! Wir fahren in unserer Tagesordnung fort. Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 24: Besprechung: Förderung und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf - Große Anfrage der Fraktion der CDU - Drs. 14/2328 Antwort der Landesregierung - Drs. 14/2501

Ich eröffne die Besprechung über die Große Anfrage, und dazu hat sich Frau Kollegin Mundlos gemeldet. Bitte schön, Frau Mundlos!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Schuljahr 1999/2000 wurden 35 576 Schülerinnen und Schüler in Sonderschulklassen beschult. Ein Schuljahr später sind es 36 819, was einem vierprozentigem Anteil an der Gesamtschülerschaft im allgemein bildenden Schulwesen entspricht. Diese Schülerzahlen werden der Prognose des Ministeriums zufolge weiter ansteigen - bis 2010. Interessant ist dabei, dass man feststellen kann, dass zwei Drittel aller Schülerinnen und Schüler im Bereich Lernschwache angesiedelt sind. Die Antwort auf die Große Anfrage bestätigt im Übrigen die Sorgen, die wir uns bezüglich der Sonderpädagogik seit längerer Zeit machen.

(Zustimmung von Frau Litfin [GRÜ- NE])

Lassen Sie mich zunächst den Bereich der Unterrichtsversorgung beleuchten. Es handelt sich beim sonderpädagogischen Bereich um die schlechteste Unterrichtsversorgung aller allgemein bildenden Schulformen. Mit einer Unterrichtsversorgung von nur 93,4 % haben die Sonderschulen wieder einmal die rote Laterne erhalten. Sie liegen fast vier Prozentpunkte unter der landesweiten Unterrichtsversorgung von 97,2 %. Interessant ist auch, dass sich gegenüber der Verantwortung der letzten CDUgeführten Landesregierung die Rahmenbedingungen erheblich verschlechtert haben. Die SchülerLehrer-Relation ist von 6,3 auf 7,5 gestiegen und hat sich damit um fast 20 Prozentpunkte verschlechtert. Die Anzahl der Unterrichtsstunden pro Schüler ist von 3,59 auf 3,19 gesunken und hat sich damit um mehr als 10 % verschlechtert. Besonders drastisch hat sich der Bildungsabbau auf die Bildungschancen der lernbehinderten Schülerinnen und Schüler ausgewirkt. Die SchülerLehrer-Relation ist hier gestiegen und hat sich um sage und schreibe 28 % verschlechtert. Die Anzahl der Unterrichtsstunden pro Schüler hat sich um 17,5 Prozentpunkte verschlechtert. Ich finde, das muss einen umtreiben.

Aber es gibt weitere Problembereiche. Zusätzliche Lehrerstunden für die diagnostische Tätigkeit gibt es nicht. Wenn die Begutachtungen der Kinder, bei denen möglicherweise künftig ein sonderpädagogischer Förderbedarf anerkannt werden soll, stattfinden, fällt der Unterricht für die, die bereits in den Sonderschulen beschult werden, aus. Die Eltern können dann sehen, wie sie ihren Kindern gerecht werden.

Im Bereich der aktuellen Unterrichtsversorgung fällt insbesondere auf, dass der für die Förderung der sprachlichen Entwicklung so wichtige Sprachsonderunterricht von einstmals 2 600 Lehrerstunden auf nur noch 1 900 Lehrerstunden gesunken ist - 700 Lehrerstunden weniger!

Bezeichnenderweise sind zahlreiche Integrationsklassen zum Schuljahresbeginn 2000/2001 eingerichtet worden, die nur über zwei oder drei Sonderschullehrerkräftestunden verfügen. Hier kann keine qualifizierte Förderung der betroffenen Schulkinder erfolgen. Hier finden wir ein klassisches Beispiel für Integration durch Unterlassung.

(Zustimmung von Frau Körtner [CDU])

Mobile Dienst betreuen heute zwar mehr Schulen als 1995, haben dafür aber ebenso weniger Lehrerstunden zur Verfügung. An der Zusammenarbeit Grundschule/Sonderschule nahmen 1999 871 Klassen mehr teil als 1995, haben dafür aber lediglich 100 zusätzliche Lehrerstunden erhalten für 871 Klassen mehr 100 Lehrerstunden - eine armselige Ausstattung, geradezu bedrückend verantwortungslos!

Bezeichnenderweise weiß die Landesregierung auch, dass selbst beim Umsetzen von „Lernen unter einem Dach“ 300 zusätzliche Sonderschullehrerstellen erforderlich wären. Darüber hinaus sind 300 zusätzliche Stellen über den Ersatzbedarf erforderlich, um bis 2004 auf die steigenden Schülerzahlen zu reagieren. 600 zusätzliche Stellen erforderlich, aber an keiner Stelle ausgewiesen! Die Umsetzung von „Lernen unter einem Dach“ erfolgt also weiterhin auf Kosten anderer Schulformen. Auf die gestiegenen Anforderungen an den Sonderschulen wird nicht mit einer einzigen zusätzlichen Lehrerstelle reagiert.

Als nur noch peinlich kann bezeichnet werden, dass die Landesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage ausführt, dass eine nachhaltige Anpassung der Unterrichtsversorgung an den Durchschnitt aller allgemein bildenden Schulen wie auch in den vergangenen Jahren wegen fehlender Sonderschullehrkräfte nicht möglich ist. Der Lehrermangel wirkt sich hier also schon gravierendst aus. Weiter führt die Landesregierung aus, dass sie dafür sorgen wird, möglichst so viele Einstellungsmöglichkeiten für Sonderschullehrkräfte bereitzustellen, wie hierfür geeignete und regional mobile Bewerberinnen und Bewerber zu erwarten sind. Damit hat sie sich mit der Verwaltung des Mangels abgefunden.

(Zustimmung bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Stichwortartig möchte ich nur erwähnen, dass es Zulassungsbeschränkungen in den Lehramtsstudiengängen gibt und dass erforderliche Mittel, um hier etwas zu ändern, gegenwärtig notwendig sind, um Studienanfängerplätze für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen anzupassen. - Man könnte, wenn man wollte, man will aber nicht, man setzt andere Prioritäten.

Die katastrophale Einschreibsituation insbesondere für naturwissenschaftliche Fächer wird im Übrigen bestätigt. Dieses Problem ist systematisch seit Mitte der 90er-Jahre verschlafen worden, und die Sonderschüler müssen es ausbaden. Bezeichnenderweise konnten zu dem letzten Einschreibungstermin viele Sonderschullehrerstellen nicht mit den geeigneten Fachkräften besetzt werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein weiteres Armutszeugnis liegt darin, dass die Landesregierung eine differenzierte Berechnung nach Fachrichtungen und Unterrichtsfächern in Bezug auf den Ersatzbedarf an Sonderschullehrkräften nicht vorlegen kann. Sie dokumentiert so ihre Unfähigkeit zur Erstellung einer fachspezifischen Ersatzprognose und zeigt damit ein weiteres Armutszeugnis auf.

Lassen Sie mich insbesondere noch einmal ganz gezielt auf das regionale Integrationskonzept eingehen. Da hat der Kultusausschuss Dänemarks Sonderpädagogik in der letzten Legislaturperiode begutachtet, und in dieser Legislaturperiode erstaunt in Italien und Südtirol feststellen müssen: Dort gibt es Vollintegration.

Aber was heißt das? - Das heißt Teamteaching, und zwar zwei Lehrer in einer Klasse. Das bedeutet, dass im Grundschulbereich in Italien durchschnittlich 14 Schüler pro Klasse sind. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen und unsere Zahlen in Relation dazu setzen. Ich sage Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wer diese Systeme auf Niedersachsen übertragen will, der muss auch die Rahmenbedingungen, die dafür erforderlich sind, schaffen. Davon sind wir aber weit entfernt.

(Beifall bei der CDU)

Ich nehme an, dass nicht nur ich, sondern auch viele von Ihnen in den vergangenen Wochen und Monaten zahlreiche Schreiben von betroffenen Lehrkräften und Eltern bekommen haben. Ich möchte aus solch einem Schreiben einiges zitieren, um deutlich zu machen, wie bewegend die Situation ist und wie weit an den betroffenen Kindern vorbeigearbeitet wird. Worum geht es? - Grundschulen, die überprüfte Kinder für die Sonderschule Lernhilfe, Erziehungshilfe, Sprachbeeinträchtigungen haben, bekommen von der Bezirksregierung eine Sonderschullehrerin zugewiesen, die zwei Stunden pro Woche in der jeweiligen Klasse mit unterrichtet oder das Kind im

Einzelunterricht beschult. Die übrige Unterrichtszeit wird von einer Grundschullehrerin, die keine spezielle Sonderschulausbildung und kein spezielles Unterrichtsmaterial hat, abgeleistet.

(Frau Körtner [CDU]: Schweinerei!)