Protokoll der Sitzung vom 03.04.2003

Frau Präsidentin! Verehrte Damen, sehr geehrte Herren! Frau Janssen-Kucz, Sie müssen es mir nachher erst noch einmal erklären; denn ich verstehe es nicht ganz. Einerseits lehnen Sie die geschlossene Heimunterbringung ab. Andererseits sagen Sie, es gebe ja gar keine Heime, in die wir

die Kinder stecken sollen. Das sei zu kritisieren. Dies ist für mich zu hoch.

(Unruhe bei der SPD und bei den GRÜNEN - David McAllister [CDU]: Wie so häufig bei den Grünen!)

Aber wir können uns gerne danach noch einmal austauschen. Auch ich versuche, meine Redezeit nicht zu überschreiten.

Meine Damen und Herren, es geht hierbei um zwei Aspekte. Einerseits haben wir Kinder, die straffällig werden, deren wir mit den normalen Mitteln nicht mehr Herr werden können und die wir auch vor sich selber schützen müssen, damit sie eine Zukunft haben. Andererseits geht es auch um die Bevölkerung, die wir vor diesen Kindern schützen müssen.

Ich bin - manchmal ist man, wenn man neu im Landtag ist, in einer anderen Position - sehr zufrieden, feststellen zu können, nachdem ich mir die Protokolle der vergangenen Sitzungen angeschaut habe, dass die geschlossene Heimunterbringung für einen begrenzten Zeitraum mit einer intensiven Betreuung kein Thema ist, das zwischen den Parteien strittig diskutiert wird. Die SPD, u. a. mit dem Ministerpräsidenten a. D. Gabriel, hat dies im letzten Jahr eindeutig festgestellt.

Es geht also einzig und allein um die Frage, wie wir die von den Grünen so sehr kritisierten fehlenden Einrichtungen schaffen, damit wir nicht länger unsere straffälligen Jugendlichen, für die dieses Instrument benötigt wird, in andere Bundesländer exportieren müssen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Da kann man nicht sagen, man versucht es weiter mit anderen Bundesländern, und dann dort auch nur mit finanziellen Anreizen. Denn wie die letzten Fälle, die uns Herr McAllister geschildert hat, zeigen, ist es nicht immer möglich, rechtzeitig entsprechende Plätze zu bekommen. Wir müssen uns als Niedersachsen unserer Verantwortung stellen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir selber für diese problematischen Kinder zu ihrem eigenen Besten eine vernünftige, psychologische, geschlossene Betreuung bereithalten, damit wir auch die Bevölkerung schützen können.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Von daher ist der Innenminister dabei zu unterstützen, das Verfahren zu einem Ende zu bringen und geeignete Einrichtungen zu finden. Natürlich muss man hierbei bedenken, dass die Kommunen und die Einrichtungen, die sich hierzu bereit erklären, selbstverständlich auch eine finanzielle Unterstützung brauchen, da dies eine landespolitische Aufgabe ist.

Eines darf man nicht vergessen: Wir fangen jetzt an, wir tun etwas Gutes für die Kinder, und wir tun etwas Gutes für die Bevölkerung. Das ist das Wesentliche. Das ist die bürgerliche Regierung, die im Land Niedersachsen gewählt worden ist. So geht es weiter.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Bode. - Das Wort hat Frau Dr. Trauernicht.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kurz nach Amtsantritt preschte der neue Innenminister vor und verkündete, man werde jetzt unverzüglich 20 Plätze in einem geschlossenen Heim in Niedersachsen für Kinder einrichten.

(Zuruf von der CDU: Er fängt we- nigstens an!)

Sehr geehrter Herr Innenminister, ich finde, ein Blick über die Landesgrenzen lohnt. Sie haben auf Bayern verwiesen. Man muss aber auch auf Hamburg verweisen, denn man will ja bei dem Thema nicht als Tiger starten und als Bettvorleger landen. Deshalb sollte man aus den Erfahrungen anderer lernen.

In Hamburg gibt es, wie Sie ja wissen, eine CDUSchill-Regierung. Sie hat 120 Plätze für straffällige Kinder angekündigt. Sie ist dann über 90, 60 inzwischen auf 20 Plätze gekommen. Von diesen 20 Plätzen waren vier Plätze belegt. Was heißt „belegt“? Meistens waren die jungen Menschen nicht da, sodass das Thema Ausbruch viel stärker als das Thema pädagogische Effekte dieser Einrichtung die öffentliche Diskussion bestimmt.

Ein zweiter Hinweis: Es waren bisher überhaupt gar keine Kinder in dieser Einrichtung, obwohl das Thema Kinder immer im Mittelpunkt der Debatte

über geschlossene Unterbringung steht, weil man, wie Frau Janssen-Kucz so recht gesagt hat, für die Jugendlichen das Jugendstrafrecht hat. Wenn junge Menschen für ihre Taten bestraft werden müssen, dann greift das Jugendstrafrecht. Dafür haben wir auch in Niedersachsen Einrichtungen, wie Sie wissen.

Die Frage ist also, was zu tun ist, um in dieser Situation nicht überzureagieren und das Thema nicht zu einem politischen Profilierungsthema zu machen und endlich aufzuhören, nach 30 Jahren ideologischer Debatte über das Thema

(David McAllister [CDU]: Endlich zu handeln! Sie haben immer nur gere- det!)

geschlossene Unterbringung den Blick auf das freizubekommen, was an Handlungen notwendig ist.

(Beifall bei der SPD)

Herr McAllister, in der letzten Sitzung waren Sie noch so charmant zu sagen, außer einem Thema würden Sie nichts kritisieren. Schauen wir mal, wenn ich zu Ende geredet habe.

Ich war also ganz froh, als ich den Entschließungsantrag der CDU- und der FDP-Fraktion sah, weil ich dachte, dass Sie die politische Reißleine gezogen haben. Sie haben nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass es ein Verfahren der bisherigen Landesregierung gibt, dass es eine Bedarfserhebung gibt und dass es gut ist, diese Bedarfserhebung abzuwarten und dann auf dieser Basis weiterzumachen.

Nun hat allerdings Herr McAllister mit seiner Rede doch noch einmal deutlich gemacht, dass es doch wieder stärker um die Zuspitzung des Themas der geschlossenen Unterbringung geht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist für jemanden wie mich, die seit 20 Jahren in der Jugendhilfe wirkt, manchmal wirklich schwer erträglich, diese Diskussion anzuhören, weil die Fakten diese Art der Diskussion überhaupt nicht tragen. Wir haben ein Bürgerliches Gesetzbuch und ein Kinder- und Jugendhilfegesetz. Dort steht, unter welchen Voraussetzungen freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern und jungen Menschen durchgeführt werden dürfen. Diese Voraussetzungen sind eng umrissen.

Auch der 11. Jugendbericht, die Fachdiskussion und die Gesetze machen es deutlich: Es muss Gefahr für Leib und Leben der Kinder vorliegen, bevor man dieses harte Instrument der geschlossenen Unterbringung, der freiheitsentziehenden Maßnahme, tatsächlich anwenden darf.

(Bernd Althusmann [CDU]: Das ist auch richtig! Aber was haben Sie ge- macht?)

Dann steht in diesem Gesetz auch - deswegen brauchen wir uns überhaupt nicht zu streiten -, in welchem Verfahren eine solche Entscheidung zustande zu kommen hat. Es muss ein Hilfeplanverfahren der örtlichen Jugendämter geben, und es muss eine gerichtliche Entscheidung geben. Wenn beides vorliegt, dann muss selbstverständlich die freiheitsentziehende Maßnahme durchgezogen werden. Darüber brauchen wir uns überhaupt nicht zu streiten. Wir brauchen uns nicht in Pro- und Kontragruppen aufzuteilen. Das ist die Lage.

Nun ist die Lage zum Glück auch die, dass das in äußerst seltenen Fällen bei Kindern tatsächlich die richtige und angemessene Maßnahme ist. Je besser die Jugendhilfe wirkt, umso seltener braucht sie dieses Instrument der geschlossenen Unterbringung bei Kindern. Deswegen war eine ganz wesentliche fachliche und politische Orientierung der letzten Jahrzehnte das Prinzip: je früher, desto besser. Sobald ein Kind auffällig wird, müssen wir pädagogische Angebote machen, müssen wir sehen, was das Kind das braucht, um sich zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln zu können.

Deswegen verwundert es auch nicht, dass in Hamburg bislang kein Kind in dieser Einrichtung war. Denn die Jugendhilfe dort hat diesen Weg beschritten, den auch wir hier seit Jahren beschreiten. Wir schauen, welche Alternativen es gibt. Wir schauen, ob die Träger dafür sensibilisiert sind, frühzeitig in zugespitzte Krisensituationen hineinzugehen.

Ich begrüße deshalb die Presseinformation der neuen Sozialministerin, Frau von der Leyen, weil ich glaube, dass sie diese Linie weiter durchzieht. Das ist der Presseinformation zu entnehmen. Es wird weiter das Kriseninterventionsteam geben, das wir eingerichtet haben. Wir brauchen es übrigens nicht nur auf Landesebene, sondern auch auf den kommunalen Ebenen. Denn wir müssen sofort merken, wenn es mit den Kindern bergab geht.

Deswegen brauchen wir diese Vernetzungsstellen vor Ort, damit man früh genug merkt, wenn etwas aus den Bahnen, aus den Fugen gerät. Wir brauchen sofort die Handlung der pädagogischen Träger vor Ort, sei es der freien oder der kommunalen Träger. Die Realität zeigt: Dann braucht man die geschlossene Unterbringung als letztes Mittel häufig nicht mehr. Denn Sie müssen sich alle vergegenwärtigen: Diese Kinder wollen keine Verbrecher werden. Sie wollen eigentlich nur ein gutes Leben haben, zumeist eine Familie haben. Sie wollen das haben, was diesen Kindern häufig verwehrt worden ist. Deswegen können und müssen wir mit Blick auf die Kinder anders agieren, als sich hier über geschlossene Unterbringung zu profilieren.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht jetzt um die Frage des Bedarfs. Natürlich kann sich ein Land, kann sich eine Regierung damit profilieren, dass sie sagt: Wir haben ein eigenes geschlossenes Heim. - Aber ich möchte Sie warnen. Die CDU-Regierung unter Albrecht hat das letzte geschlossene Heim, das Landesjugendheim, abgeschafft. Herr Schünemann, gehen Sie diesen Weg nicht mehr. Das ist ein Weg zurück. Wenn Sie tatsächlich Einrichtungen wollen, sollte bei sieben Einrichtungen in vier Bundesländern geprüft werden ob etwa Plätze in Hamburg frei sind und ein Kooperationsvertrag mit Hamburg geschlossen wird, bevor Sie ein eigenes Heim einrichten.

Aber gut, wenn Sie denn meinen, Sie brauchen hier ganz speziell vor Ort die Möglichkeit, dann rege ich an, dass wir im Fachausschuss nach der Bedarfserhebung darüber sprechen. Wenn denn die freien Träger nicht bereit sind, diese Angebote zu machen, könnten kommunale Jugendhilfeträger tätig werden. Es liegt in der Verantwortung der kommunalen Jugendhilfeträger, dafür Sorge zu tragen, dass es die notwendigen und geeigneten Maßnahmen gibt. Und wenn dies auch solche mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen sind, dann müssen diese kommunalen Träger sie auch zur Verfügung stellen. Da gibt es Handlungsmöglichkeiten.

Ich bitte Sie sehr im Interesse der Kinder, der Redlichkeit von Politik und unseres eigenen Rückgrats: Lassen Sie uns nicht über ein geschlossenes Heim reden, sondern lassen Sie uns lediglich über pädagogische Konzepte reden, in denen an dem Lebensort der Kinder auch freiheitsbeschränkend

agiert werden kann, wenn es Not tut. Darüber entscheiden aber nicht Politiker, sondern Fachleute in einem geregelten Verfahren.

Lassen Sie uns all die problembeladenen Kinder nicht in einem einzigen Heim zusammenpferchen. Lassen wir nicht zu, dass sie kaserniert werden, sodass sie nichts Gutes voneinander lernen können. Schaffen wir ihnen einen lebenswerten Lebensort, und begrenzen wir ihre Freiheit mit angemessen pädagogischen Mitteln, so es Not tut und eine richterliche Entscheidung dafür vorliegt. Das ist ein Weg, den wir gut miteinander gehen können. Bislang liegen keine Anzeigen der Jugendämter vor, dass es in Niedersachsen einen ungedeckten Bedarf gibt. Sollte ein solcher Bedarf zutage treten, dann gibt es, wie wir gesagt haben, einen Handlungsbedarf.

Ich bin erfreut darüber, dass auch Sie der Meinung sind, dass zuständig für diese Fragen nicht der Innenausschuss, sondern der Sozialausschuss ist. Dort sollten diese Fragen diskutiert werden. Vielleicht können wir es ja noch in dieser Legislaturperiode schaffen, das bisher immer nur ideologischpolitisch behandelte Thema geschlossene Unterbringung so zu entwickeln, dass deutlich wird, dass es uns allen nur um die Kinder geht, nicht aber um unsere eigene Profilierung. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Frau Ministerin Dr. von der Leyen, bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe eben mit großem Interesse Ihrem Beitrag gelauscht, aus dem eine tiefe Ambivalenz herausklang. Sie haben völlig Recht: Es geht um die Kinder. Es geht auch darum, die Kinder vor einem Weg in eine kriminelle Karriere zu bewahren. Es gibt aber auch einige wenige Ausnahmefälle. Das wissen auch Sie. Es klang aus Ihren Worten auch heraus. Sie sagten, dass kein einzelnes geschlossenes Heim geschaffen werden sollte, sondern ein solches Heim sollte - wenn Kinder schon geschlossen untergebracht werden sollen - vor Ort bei den Kindern eingerichtet werden. Offensichtlich scheint in einzelnen Fällen Bedarf zu bestehen. In einigen wenigen Fällen sind wir bei den Dingen,

die wir jetzt tun, mit unserem Latein offensichtlich am Ende.

Diese Fälle haben in den letzten Jahren immer stärker unsere Aufmerksamkeit erfordert. Die Landesregierung ist deshalb der Überzeugung, dass in diesen wenigen Fällen, in denen andere Maßnahmen der Jugendhilfe ganz offensichtlich keine Wirkung zeigen, eine befristete geschlossene Unterbringung notwendig ist, um weitere Straftaten zu verhindern, um potenzielle Opfer zu schützen und um letztendlich aber auch das betroffene Kind zu schützen, um es aus der Umgebung herauszunehmen, in der die Maßnahmen der klassischen Jugendhilfe offensichtlich nicht mehr greifen.

(Beifall bei der CDU)

Ich sage hier ganz ausdrücklich: Es geht hier nicht um ein Gefängnis oder um Strafvollzug, sondern es geht um eine Maßnahme der Jugendhilfe. Wir dürfen aber auch diese schwerstgestörten Kinder nicht aufgeben. Wir dürfen sie nicht allein lassen,

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

sondern wir müssen weiterhin versuchen, ihnen durch intensive Betreuung eine Chance für die Zukunft zu eröffnen.

Zu den Hilfsangeboten muss dann in der letzten Konsequenz logischerweise auch die individuelle geschlossene Unterbringung gehören, wenn sie als Hilfe verstanden wird und wenn die Bemühungen um eine erzieherische Beeinflussung und den Schutz der jungen Menschen mit Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe wirkungslos geblieben sind. Eine solche Unterbringung kann nur das letzte Mittel sein, und sie muss - das ist mir wichtig, und auf diese Debatte sollten wir uns jetzt allmählich einlassen - eingebettet sein in ein erzieherisches und therapeutisches Gesamtkonzept.