Protokoll der Sitzung vom 20.05.2005

Ich habe nur darauf hingewiesen, dass wir in Niedersachsen Probleme haben, und zwar massive, und dass Sie diesen Problemen nicht zuleibe rücken, sondern die Hilfe versagen. Darum geht es!

(Beifall bei der SPD)

Zur Städtebauförderung sagt die Landesregierung kurz:

„Das Aussetzen der Städtebauförderung im Programmjahr 2005 bedeutet für Niedersachsen keinen Ausstieg aus der Städtebauförderung.

Im Übrigen wird die Landesregierung über die Städtebauförderung - wie über alle anderen Haushaltspositionen auch im Rahmen ihrer Beschlüsse zur Aufstellung des Haushaltsplanentwurfs 2006 und der Mipla 2005 - 2009 entscheiden.“

Kein Bekenntnis dazu, dass man den Problemgebieten helfen wird, weil es notwendig ist!

(Zustimmung von Marie-Luise Hemme [SPD])

Deswegen sage ich Ihnen noch einmal: In vielen niedersächsischen Städten gibt es Bereiche mit großen sozialen Verwerfungen, oder freundlicher formuliert: Stadtteile mit erheblichem Entwicklungsbedarf. Das sind diejenigen, denen Sie für 2005 die Initialzahlungen gestrichen haben.

(Zuruf von der CDU: Das stimmt ja überhaupt nicht!)

Ich will die Problemgruppen aufzählen, weil Sie sie offenbar vergessen haben. Das sind Migranten, Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlinge, Aussiedler - oft ohne deutsche Sprachkenntnisse -, Empfänger von Transferzahlungen, überforderte Alleinerziehende, Menschen mit Suchtproblemen, Jugendliche, oft Sozialhilfeempfänger in der zweiten Generation. Hier wohnen die Problembeladenen der Gesellschaft in Niedersachsen. Diesem Mikrokosmos mit den größten Problemen in Niedersachsen streichen Sie die Städtebauförderungsmittel für die Soziale Stadt.

Die soziale Stadtentwicklung ist mittlerweile ein integriertes Konzept zur Aufwertung der Stadtteile,

zur Verbesserung der individuellen Möglichkeiten der dort Wohnenden, mit ihren Lebensumständen besser fertig zu werden als bisher. Denen streichen Sie die Hausaufgabenhilfe, Sie kürzen die Sprachförderung, den muttersprachlichen Unterricht, die Lernmittelfreiheit, die Mittel für Jugendfreizeit, und Sie nehmen auch noch den Kommunen die Möglichkeit, Ihren Streichungen mit eigenen Mitteln zu begegnen: mit dem Eingriff in den kommunalen Finanzausgleich von 150 Millionen Euro. Das hat mit Sparen nichts zu tun, das ist Wegnehmen.

(Beifall bei der SPD - David McAllister [CDU]: Wir versuchen nur, weniger Schulden zu machen! Das hat nichts mit Sparen zu tun!)

- Ihre Haltung kann man eigentlich nicht verstehen.

(David McAllister [CDU]: Adam Rie- se!)

Sie haben nicht nur die Soziale Stadt nicht verstanden, Sie verwirklichen geradezu ein integriertes Konzept zur Unterminierung der Arbeit in sozialen Brennpunkten. Sie erzählen uns, Sie wollten den nachfolgenden Generationen keine unbezahlbaren Lasten aufbürden.

(Zurufe von der CDU und von der FDP)

- Hören Sie doch einmal zu! - Aber ein großer Teil der Menschen in den Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf wird seine Probleme nicht ohne Mithilfe von Politik und Gesellschaft lösen können.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sie verschließen die Augen davor, dass die Folgen dieser verfehlten Politik - Herr McAllister, hören Sie einmal genau zu!

(David McAllister [CDU]: Schulden!)

ein Mehrfaches an Kosten in Jugendhilfe, Justiz, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe verursacht. Ihre kurzfristige Sicht der Dinge blendet die langfristigen Folgen dieser Politikabstinenz aus. Wissen Sie, auch Unterlassen kann sehr teuer werden!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich stelle damit fest, dass die Besprechung der Großen Anfrage abgeschlossen ist.

Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 39: Erste Beratung: Den Bürgern den unbürokratischen Rechtsschutz zurückgeben - Das Widerspruchsverfahren wieder einführen - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/1904

Ich erteile Frau Heike Bockmann von der SPDFraktion das Wort. Bitte schön, Frau Bockmann!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wieder ein Widerspruch auf der Tagesordnung - und dies wegen völliger Widersinnigkeit des Regierungshandelns. Was ist passiert?

(Zuruf von der CDU: Nichts ist pas- siert!)

Im Rahmen der Verwaltungsreform ist ein großer Fehler gemacht worden, der schleunigst korrigiert werden muss.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Gegen den Rat vieler Sachverständiger ist das bürgerfreundliche Widerspruchsverfahren in weiten Teilen abgeschafft worden. Die Fraktionen der CDU und der FDP im Niedersächsischen Landtag haben mit viel Engstirnigkeit nachgedacht. Entbürokratisierung, Verwaltungsvereinfachung, Verfahrensbeschleunigung - das waren einmal die hehren Ziele. Mit diesen populistischen Schlagwörtern sollte Politik gemacht werden. Eingetreten ist genau das Gegenteil.

(David McAllister [CDU]: Was?)

Die Praxis hat dafür gesorgt, dass Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Fraktionen von CDU und FDP, auf Ihren Vorurteilen sitzen bleiben. Nicht, dass Sie nicht gewarnt worden wären. Die Unternehmerverbände in Niedersachsen hatten sich grundsätzlich dafür ausgesprochen,

das Widerspruchsverfahren in Gänze beizubehalten. Der Sachverständige aus Bayern sagte im Rechtsausschuss:

„Das Widerspruchsverfahren ist relativ unbürokratisch und vor allen Dingen ein kostengünstiger Rechtsbehelf. Dass nur geringe Kosten entstehen, gilt für beide Seiten: sowohl für den Staat als auch für die Betroffenen.“

Anders als in der Vergangenheit scheint der Fraktionsvorsitzende der CDU, Herr David McAllister, nachdenklich zu werden. Jedenfalls verkündete er am 9. April 2005 in der Hannoverschen Neuen Presse:

„Und wir überprüfen die Ergebnisse der Verwaltungsreform - etwa ob die Abschaffung der Widerspruchsverfahren eine Klageflut an den Verwaltungsgerichten ausgelöst hat.“

Ich füge hinzu, meine sehr verehrten Damen und Herren: Genau das ist jetzt eingetreten. Der Präsident des Verwaltungsgerichts Oldenburg, Dr. Hanisch, sagte in der NWZ: „Jetzt ist eingetreten, was wir befürchtet haben.“ Allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 2005 eine Steigerung der Verfahren um 27 %. Und die Zahl steigt weiter: 30 % sind noch nicht die Schmerzgrenze. Allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 2005 gab es vor den niedersächsischen Verwaltungsgerichten 836 Verfahren mehr. Dieser Anstieg ist laut Angabe der Verwaltungsgerichte weitgehend auf den Wegfall der Widerspruchsverfahren zurückzuführen, insbesondere im Abgaben- sowie im Ausbildungs- und Studienförderungsrecht. Anstatt der beabsichtigten Kosteneinsparung sind durch sprunghaft steigende Eingangszahlen eine Kostenverlagerung und ein Kostenanstieg vom Innenin den Justizbereich erfolgt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist keine Reform, sondern ein Schildbürgerstreich.

(Beifall bei der SPD)

Beispiel gefällig? - Um diese so genannte Reform vor dem endgültigen Chaos zu bewahren, sind in Niedersachsen für dieses Justizabenteuer zwölf neue, zusätzliche Verwaltungsrichterstellen im Haushalt ausgewiesen worden. Das erfolgt tatsächlich in Zeiten, in denen die Justizministerin bundesweit die Opulenz der Justiz beklagt und großartige Justizreformen ankündigt. Dieser Kos

tenanstieg bei gleichzeitiger Reduzierung des Rechtsstaats ist nicht mehr hinnehmbar.

(Zustimmung von Hans-Dieter Haase [SPD])

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich immer, wenn Herr Innenminister Schünemann im Plenum redet.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von der CDU: Wir uns auch! - Gegenruf von Hans-Dieter Haase [SPD]: Wenn er auch etwas sagen würde!)

Aber es ist nun einmal so, dass dieses Thema vom Innenbereich in den Justizbereich übergesiedelt ist. Deshalb bedauere ich es sehr, dass die zuständige Justizministerin nicht im Plenum ist.

(Beifall bei der SPD)

Hätten wir nämlich eine Justizministerin, die die Interessen ihres Ressorts am Kabinettstisch vertreten könnte, dann wäre dieses Vorhaben mit Sicherheit in der Planungsphase beerdigt worden.

Und die Bürger? Haben sie etwa einen Vorteil von dem Anstieg der Verfahrenszahlen bei den Gerichten zwischen 27 % und 30 %? - Die eindeutige Antwort lautet: Nein. Auch sie beklagen im wahrsten Sinne des Wortes die kostenintensive Reformpolitik der Regierung. Was der Bürger auf Verwaltungsebene ehemals hatte, nämlich eine schnelle und flexible Kompromisslösung, hat sich nun in das Gegenteil verkehrt. Denn die Widerspruchsbehörde konnte den Ausgangsbescheid ändern, aufheben, ersetzen, auf andere rechtlichen Grundlagen stützen oder die Begründung austauschen.

(Jens Nacke [CDU]: Hat sie aber sel- ten getan!)

Sogar Verfahrensfehler der Ausgangsbehörde konnten im Nachhinein geheilt werden. Selbst fehlende Ermessensüberlegungen konnten von der Widerspruchsbehörde nachgeholt werden. Diese vielfältigen, Streit schlichtenden Kompromisslösungen hat ein Gericht nicht. Hier wird die Rechtmäßigkeit, aber nicht die Zweckmäßigkeit überprüft. Die Bürger müssen bei den Gerichtsverfahren - selbst bei Klagerücknahme - hohe Gerichtsgebühren bezahlen.