Protokoll der Sitzung vom 11.11.2011

Meine Damen und Herren, so etwas kann sich nur jemand ausdenken, der mit der Tarifwirklichkeit wenig vertraut ist oder gar die Öffentlichkeit täuschen will.

(Beifall bei der LINKEN)

Während die Gewerkschaften früher noch weitgehend in der Lage waren, für nahezu alle Beschäftigten wirksame Mindestregelungen bei den Entgelten zu erzielen, so hat sich das jetzt weitgehend geändert. Mittlerweile können auch Tarifverträge nicht mehr wirksam vor Niedriglöhnen schützen. Mit der Agenda 2010 wurde der Tarifautonomie ein weiterer Schlag versetzt. Wenn immer mehr Menschen befristet arbeiten müssen, wenn immer mehr Menschen als Leiharbeiter eingestellt werden, ist gewerkschaftliche Durchsetzungskraft massiv eingeschränkt.

Die Angst vor dem Absturz in Hartz IV diszipliniert die Menschen in den Betrieben. Unter diesen Rahmenbedingungen konnten Gewerkschaften in vielen Tarifbereichen nur noch miserable Abschlüsse erzielen. Dazu kommt, dass in immer mehr Bereichen Tarifverträge überhaupt nicht mehr möglich sind. Das war letztlich Anlass für die DGB-Gewerkschaften, die Forderung der Linken nach einem gesetzlichen Mindestlohn aufzunehmen. Die SPD schloss sich dem dann auch an.

Meine Damen und Herren, im Bürgerlichen Gesetzbuch steht, dass ein Vertrag, der zulasten Dritter abgeschlossen wird, als sittenwidrig gilt. Viele Niedriglohnjobber sind jetzt schon auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das sind unnötige Lohnsubventionen. Sie entlasten die Unternehmen und kosten den Staat viel Geld.

(Glocke des Präsidenten)

Die Politik der vergangenen Jahrzehnte hat dazu geführt, dass Niedriglöhne für ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland bittere Realität sind. Ich halte deshalb jeden Arbeitsvertrag, bei dem der Staat heute den Lohn oder später die Rente mit Steuergeldern aufstocken muss, für sittenwidrig.

(Beifall bei der LINKEN)

Millionen Arbeitsverträge in Deutschland sind somit nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch sittenwidrig. Wer Vollzeit für 7,79 Euro brutto arbeitet, bleibt Aufstocker und bekommt nach 45 Jahren Vollzeitbeschäftigung eine Rente von unter 600 Euro.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Ein Skandal ist das!)

Darüber sollten Sie in der CDU bei Ihrem Parteitag einmal nachdenken und diskutieren.

(Beifall bei der LINKEN - Ulf Thiele [CDU]: Beschimpfen Sie doch nicht die Tarifpartner die ganze Zeit! Das ist schrecklich!)

Meine Damen und Herren, was die CDU will, verdient den Namen Mindestlohn nicht. Es ist in Wirklichkeit eine gesetzliche Ermunterung zum Lohndumping auf Kosten der Steuerzahler und der Staatskasse.

(Glocke des Präsidenten)

Wenn die CDU sich weigert, die Lohnuntergrenze gesetzlich festzulegen, ist das in meinen Augen Zynismus pur. Den Schwarzen Peter den Tarifvertragsparteien zuzuschieben, ist so, als würde man einem Menschen die Beine brechen und dann von ihm verlangen, dass er 100 m läuft.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Kollegin, letzter Satz, bitte!

Es kommt der letzte Satz: Wer den Menschen wirklich helfen will, der kommt an keinem gesetzlichen Mindestlohn vorbei. Dieser sollte nicht weniger als 10 Euro betragen und flächendeckend verankert werden.

(Beifall bei der LINKEN - Christian Grascha [FDP]: Warum nicht 12, 15 oder 20 Euro?)

Meine Damen und Herren, den Antrag der SPDFraktion bringt nun der Kollege Schminke ein. Bitte!

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland ist ein gesetzlicher Mindestlohn nicht mehr aufzuhalten. Bei CDU und FDP herrscht nach der 180-Grad-Wende der Kanzlerin

totales Chaos. Auch das enorme Medienecho zeigt, dass die Befürworter eines gesetzlichen Mindestlohnes stündlich mehr werden. Und das ist auch gut so.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN sowie Zustimmung von Enno Hagenah [GRÜNE])

Eine Pressemeldung jagt die andere, Befürworter und Gegner eines gesetzlichen Mindestlohns erklären, korrigieren, dementieren - und das im Halbstundentakt. Aber besonders auffällig sind die vielen Wortakrobaten der CDU mit immer neuen Formulierungen und Umschreibungen der so gefürchteten Worte „gesetzlicher Mindestlohn“. - Boah!

Herr McAllister will keinen reinen gesetzlichen Mindestlohn, sondern einen marktwirtschaftlich - durch die Tarifpartner - festgelegten Lohn. So wie Angela Merkel.

(Wilhelm Heidemann [CDU]: Sehr richtig! - Björn Thümler [CDU]: Sehr klug!)

Seinem Justizminister Busemann, der den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro mit einem christlich-sozialen Profil begründet,

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der LINKEN)

erteilt Herr McAllister sogar öffentlich einen Rüffel. Dabei hat der nur das ausgesprochen, was ohnehin Millionen Menschen in Deutschland empfinden.

Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage wollen 86 % der Menschen in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn. Ursula von der Leyen möchte auch lieber einen gesetzlichen Mindestlohn. Darum fordert sie ein Gesetz zur Einführung einer Lohnuntergrenze. - Sie bemerken die geniale Sprachakrobatik, meine Damen und Herren.

(Wilhelm Heidemann [CDU]: Das muss man aber auch kapieren!)

Aber auch wenn die Union von Lohnuntergrenzen spricht, meint sie in Wirklichkeit nichts anderes als das, was wir als Sozialdemokraten schon seit Jahren fordern. Das ist der flächendeckende Mindestlohn.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der LINKEN - Björn Thümler [CDU]: Das ist ein Irrtum!)

Der Mindestlohn wird unser Erfolg sein, weil wir seit Jahren mit der Forderung antreten und Sie damit quälen.

Heute Morgen erklärt Hermann Gröhe dem erstaunten Publikum im Morgenmagazin: Man freue sich auf „muntere Diskussionen“ beim Parteitag in Leipzig. Aber von Streit könne zwischen CDU und FDP - und innerparteilich erst Recht - keine Rede sein.

(Heiterkeit bei der SPD)

Da musste selbst der Reporter lachen.

Meine Damen und Herren der Christenfraktion, Sie dürfen sich auf einen spannenden Parteitag freuen; denn da werden die Fetzen fliegen. Ihre Politik mit Hungerlöhnen für anständige Arbeit ist am Ende, und Ihnen fliegt nun die eigene Politik um die Ohren.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN - Christian Dürr [FDP]: Heute ist doch gar nicht der 1. Mai, Herr Kollege!)

Wir fordern gleiche Mindestlöhne in Ost und West. Die Tarifautonomie wollen wir natürlich überhaupt nicht gefährden, sondern da soll es möglich sein, auch weiterhin Branchenmindestlöhne auszuhandeln. Daran wird sich nichts ändern.

Weil Sie das Volk mit sprachlichen Verwirrspielen und dem scheinheiligen Verweis auf die angeblich gefährdete Tarifautonomie kirre machen wollen, gebe ich einmal ein gut verständliches Beispiel.

Mit dem Urlaubsanspruch ist das nämlich ähnlich. Nach dem Bundesurlaubsgesetz hat jeder Arbeitnehmer einen Anspruch auf 24 Werktage Jahresurlaub. Das Gesetz gilt für alle Arbeitnehmer in Deutschland, egal wo und in welcher Branche er oder sie beschäftigt ist. Minimum 24 Werktage Urlaub - das ist die unterste Grenze, die gesetzlich festgeschrieben ist.

Nun gibt es aber viele Branchentarifverträge, in denen die Tarifpartner - Gewerkschaften und Arbeitgeber - z. B. 30 Urlaubstage oder sogar mehr vereinbart haben. Es gilt der Grundsatz: Spezielles Recht verdrängt allgemeines Recht. - Die Rechtsexperten wissen das sicherlich ganz genau. - Oder anders formuliert: Nach dem Günstigkeitsprinzip gilt der Tarifvertrag, weil er eine bessere Leistung für den Arbeitnehmer beinhaltet. Also hat er 30 Tage Urlaub.

Der gesetzliche Anspruch ist also überhaupt nicht hinderlich; die Tarifautonomie wird nicht beein

trächtigt. Exakt nach diesem Modell werden wir in Deutschland einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn verankern.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Damit Sie uns ganz klar verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Noch-Regierungskoalition: Das ziehen wir durch.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die cleveren Leute in der CDU

(Johanne Modder [SPD]: Gibt es die?)

wie z. B. der sogenannte Mindestlohnflüsterer KarlJosef Laumann haben längst geblickt, dass regional und nach Branchen differenzierte Mindestlöhne nichts mit einer allgemeinen Lohnuntergrenze zu tun haben. Das wäre Kuddelmuddel.