Protokoll der Sitzung vom 18.01.2012

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde

Für diesen Tagungsabschnitt sind fünf Themen benannt worden, deren Einzelheiten Sie dem Nachtrag zur Tagesordnung entnehmen können.

Die in unserer Geschäftsordnung für den geregelten Ablauf der Aktuellen Stunde enthaltenen Bestimmungen setze ich bei allen Beteiligten, auch bei der Landesregierung, als bekannt voraus.

Die Fraktionen haben sich auf zwei Abweichungen vom üblichen Verfahren verständigt.

Erstens. Nach unserer Geschäftsordnung fällt der Anspruch, das erste Thema für die Aktuelle Stunde zu benennen, in diesem Tagungsabschnitt auf die Fraktion DIE LINKE. Die Fraktionen sind jedoch übereingekommen, heute zunächst den Antrag der Fraktion der CDU, also Tagesordnungspunkt 4 b, und erst danach den Antrag der Fraktion DIE LINKE - das ist der Tagesordnungspunkt 4 a - zu behandeln.

Zweitens. Im Zusammenhang mit dem Antrag der Fraktion der SPD - also Tagesordnungspunkt 4 c - soll auch der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - das ist Tagesordnungspunkt 4 e - aufgerufen werden, der das gleiche Themengebiet betrifft. Zur Klarstellung sei noch einmal darauf hingewiesen, dass ein gemeinsames Aufrufen mehrerer Anträge zur Aktuellen Stunde nicht zu einer Aufhebung der in § 49 Abs. 4 Satz 2 unserer Geschäftsordnung vorgesehenen Einzelredezeit von fünf Minuten führt. Die einzelnen Redebeiträge dürfen daher höchstens fünf Minuten dauern. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.

Ich eröffne also zunächst die Besprechung zu Tagesordnungspunkt 4 b:

Der Niedersächsische Landtag als Vorreiter bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Landtagsabgeordneten - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 16/4381

Herr Abgeordneter Dinkla hat sich zu Wort gemeldet. Herr Dinkla, Sie haben das Wort.

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Landtag in seiner Gesamtheit kann stolz darauf sein, dass er sich als erster Landtag in der Bundesrepublik und über alle Fraktionen hinweg der Aufgabe gestellt hat, die NSVergangenheit aller 755 Abgeordneten ab dem Geburtsjahr 1928 mit wissenschaftlichen Methoden zu durchleuchten, und dass deswegen heute ein wissenschaftliches Werk vorliegt, das in dieser Form in der Bundesrepublik bisher einmalig ist.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wie war die Ausgangssituation im Jahr 2008? - Ende des Jahres 2008 kam es im Landtag zu einer politischen Diskussion, die aufgrund einer Auftragsarbeit an Herrn Dr. Klausch durch einen Entschließungsantrag der Fraktion DIE LINKE angestoßen wurde. Ich will gar nicht verschweigen, dass es die Fraktion DIE LINKE gewesen ist, die damit den Anstoß zur Diskussion im Landtag und somit auch für die nun vorliegende Untersuchung gegeben hat.

(Beifall bei der LINKEN)

Gesagt werden muss allerdings auch, dass die von der Fraktion DIE LINKE herbeigezogene Untersuchung von Herrn Dr. Klausch in ihrer Beschränkung auf das konservative Parteienspektrum einseitig war und dass die Darstellung der geschichtlichen Problematik es an einer nötigen Differenzierung fehlen ließ.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, eine Ausarbeitung der Qualität und Tiefe, wie sie jetzt vorliegt, gibt es bislang in keinem anderen Bundesland. Diese Publikation ist - das kann man schon heute sagen - sehr gut angenommen und aufgenommen worden und auf große Resonanz gestoßen. Täglich erreichen den Landtag Bitten und Fragen, wie und wo das Buch beschafft werden kann. Ich habe übrigens den Präsidentinnen und Präsidenten der Parlamente der anderen Bundesländer ebenfalls ein Exemplar mit einem Begleitschreiben übersandt und bin auf die Reaktion gespannt.

Was zeichnet diese Publikation aus, und wie gehen wir mit ihr um? - Den Wissenschaftlern, insbesondere auch Herrn Dr. Glienke, ist es in ausgezeichneter Weise gelungen, eine anspruchsvolle Arbeit vorzulegen. Die Qualität zeichnet sich besonders durch die Differenzierung aus und nicht durch das einfache Schubladendenken „NSDAP

Mitglied - Ja oder Nein?“ und, daraus folgernd, die fast fallbeilartige Zuordnung „Schuld und Verstrickung“. Die Verfasser haben sowohl die unterschiedlichen Wege in die NSDAP als auch die unterschiedlichen Wege der früheren Mitglieder in die junge Demokratie untersucht.

Immer wieder stellt sich die Frage, wie es passieren konnte, dass früher so viele Menschen ein Staatswesen bejahten, das ausdrücklich für Militarisierung und Uniformität und schließlich sogar für unvorstellbare Grausamkeiten, Massenmord und Genozid stand. Es gab neben der Topographie des Terrors mit ihren Gesinnungstätern die Mitläufer, die Opportunisten, die Karrieristen, die es in allen Systemen gab und gibt. Das Überzeugende an dieser Publikation ist der methodische Ansatz mit dem Ziel, die Einzelbiografien als Grundlage zu nehmen. Daraus resultiert die Erkenntnis, dass die isolierte Bestätigung einer Mitgliedschaft allein noch wenig sagt. Deshalb ist die Zahl von 204 NSDAP-Mitgliedern von insgesamt 755 Abgeordneten ohne Betrachtung der Biografien und der Beweggründe für den Parteieintritt nur begrenzt verwertbar. Die wichtigere Aufgabe des Projekts lag sicherlich in der Frage der Ämter und der Aufgaben im Dritten Reich sowie der Lebensprofile als Täter und Opfer. Insoweit liegt nun eine Arbeit vor, die alle Möglichkeiten der Recherche weit über Niedersachsen hinaus genutzt hat.

Der Bericht beschreibt für die ersten Parlamente im Land Niedersachsen eine für uns fast unvorstellbare Situation: Im Landtag fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg Täter und Opfer, Denunzianten und Denunzierte, Profiteure und Leidtragende des nationalsozialistischen Regimes nebeneinander, bisweilen in denselben Fraktionen. Wenn ich das Nebeneinander von Tätern und Opfern im Landtag anspreche, kann, meine Damen und Herren, auch nicht unerwähnt bleiben, dass namhafte Abgeordnete wie der spätere Ministerpräsident Diederichs und andere Abgeordnete unter der NSDAP in Schutzhaft und Konzentrationslagern gelitten haben, verfolgt wurden und ihre Existenz verloren haben.

Vielleicht hat der Wunsch, die junge Demokratie zu entwickeln, vieles an Schwierigkeiten im Nebeneinander und Miteinander überbrückt. Eines kann ich aber bereits heute sagen: All das, was nun für jedermann nachlesbar ist, ist nicht für holzschnittartige Schuldzuweisungen geeignet.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich stelle auch fest: In keiner hier anwesenden Fraktion, die auch schon nach dem Kriege im Landtag vertreten war, gibt es eine wie auch immer geartete eindeutige geschichtliche Kontinuität in der einen oder anderen Richtung.

Der Blick in die Vergangenheit ist nicht das alleinige Anliegen in unserer Diskussion. Wenn wir uns gemeinsam der Vergangenheit stellen, dann tun wir das deshalb, weil es um unsere Zukunft geht. Die Frage ist doch: Was können und müssen wir aus der Vergangenheit lernen, damit unsere Demokratie gegen ihre Feinde gewappnet ist und hellhörig bleibt gegenüber jeder Form rassistischen und nazistischen Gedankenguts? Diese verhängnisvolle und menschenverachtende Ideologie darf keinen Nährboden in unserer Gesellschaft finden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustimmung bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Im Ältestenrat steht nun die sorgfältige Analyse dieses umfassenden Projektabschlussberichtes an. Auch wenn es noch keine endgültigen Antworten auf alle Fragen gibt, darf man eines klarstellen: Dieses Parlament stellt sich gemeinsam und einstimmig der geschichtlichen Verantwortung und der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dieses Bekenntnis ist wichtig und eindeutig. Dafür danke ich Ihnen.

(Starker Beifall bei der CDU und bei der FDP und Zustimmung bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Als nächste Rednerin hat sich Frau Flauger für die Fraktion DIE LINKE zu Wort gemeldet. Bitte schön, Frau Flauger!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einleitend kurz sagen, dass wir uns gewundert haben, dass das Thema heute auf der Tagesordnung steht; denn im Ältestenrat waren wir eigentlich übereingekommen, dieses Thema zunächst dort weiter zu bearbeiten.

(Zustimmung von Johanne Modder [SPD])

Aber nun haben wir es auf der Tagesordnung der Landtagssitzung.

Ich will an dieser Stelle kurz darstellen, wie es zu den jetzt vorliegenden, in der Tat für Landtage bisher einmaligen Untersuchungsergebnissen gekommen ist. Dr. Bernd Althusmann, damals noch Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion, hat am 9. Mai 2008 hier im Landtag gesagt:

„Meine Damen und Herren, die CDU hat ihre geistigen und politischen Wurzeln im christlich motivierten Widerstand gegen den Terror des Nationalsozialismus. Das ist die Wahrheit.“

(Beifall bei der CDU - Björn Thümler [CDU]: Das stimmt ja auch!)

Das hat er aus einer erregten Debatte heraus und aus dem menschlich verständlichen Bedürfnis gesagt, deutlich zu machen, dass die CDU mit Nationalsozialisten nichts zu tun, sondern sich immer gegen sie gewandt habe.

(Zustimmung bei der CDU)

Nun ist aber bekannt, dass nicht wenige Nationalsozialisten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in anderen Parteien ihre politischen Karrieren fortgesetzt haben. Wir haben darum, ausgelöst durch diese Äußerung im Landtag, eine Studie zu den Abgeordneten der konservativen Parteien in Auftrag gegeben und die Ergebnisse in unserer Broschüre „Braune Wurzeln“ veröffentlicht, die auf unserer Internetseite heruntergeladen werden kann.

Die Studie weist unter den niedersächsischen Landtagsabgeordneten immerhin 71 ehemalige NSDAP-Mitglieder aus. Diese Ergebnisse haben wir zum Anlass genommen, im Landtag einen Antrag einzubringen, um die NS-Vergangenheit niedersächsischer Landtagsabgeordneter systematisch, vollständig und differenziert aufzuarbeiten. Ich fand es sehr gut, dass der Landtag diesem Ansinnen im Grundsatz fraktionsübergreifend gefolgt ist.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Die jetzt vorliegenden Untersuchungsergebnisse der historischen Kommission weisen über 200 Abgeordnete mit NS-Vergangenheit aus, wiewohl Herr Dinkla zu Recht darauf hingewiesen hat, dass man die einzelnen Fälle differenziert betrachten muss.

Der Titel dieses Antrages zur Aktuellen Stunde ist also richtig. Niedersachsen ist mit dieser Vergangenheitsaufarbeitung Vorreiter. Aber richtig ist

auch, dass die Linke den Anstoß dafür gegeben hat. Herr Dinkla hat darauf bereits hingewiesen.

(Präsident Hermann Dinkla über- nimmt den Vorsitz)

Auch der erste Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Hinrich Wilhelm Kopf, ist im Bericht als Enteignungskommissar in Lublin erwähnt, verantwortlich für die Aussiedlung und Enteignung polnischer Menschen in Lublin. Die Frage muss erlaubt sein, ob Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 1 nun die Adresse des Niedersächsischen Landtages bleiben soll.

Wir können es auch nicht bei der Untersuchung der Landtagsabgeordneten belassen. Es muss geklärt werden, inwieweit beim Verwaltungsaufbau in der Nachkriegszeit führende Positionen z. B. in den Bereichen Inneres, Justiz und Kultus mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzt wurden. Die Linke wird dazu eine parlamentarische Initiative auf den Weg bringen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es bleiben aber noch weitere Fragen. Warum musste erst die Linke den Anstoß zur jetzt erfolgten Aufarbeitung geben? Warum hat das niemand vorher getan? Haben alle vielleicht zu bereitwillig dem Landtagshandbuch geglaubt, das diese dunklen Vergangenheiten bisher verschweigt? Warum wurden Straßen nach Menschen benannt, deren NS-Vergangenheit lange bekannt war? Welche Verdrängungsmechanismen haben da gewirkt? Ich stelle diese Fragen nicht, um Vorwürfe zu erheben, sondern weil ich glaube, dass dieses lange Schweigen, Nichthinsehen und Verleugnen uns etwas lehren muss, nämlich dass ein vorschnelles eigenes Abgrenzen, ein „Damit haben und hatten wir nichts zu tun“ oder ein „Dagegen haben wir uns immer gewehrt“ ein Fehler ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist ein Fehler, zu sagen: „Wir sind die Guten, und mit den klar abgrenzbar Schlechten haben wir nichts zu tun.“ Dieser Fehler wurde und wird gemacht. Er wird auch dann gemacht, wenn Tendenzen zu faschistischen und rassistischen Positionen vorschnell einer klar abgrenzbaren kleinen Gruppe zugeordnet werden. Dass die Dinge so schwarzweiß nicht sind, haben die vorliegenden Studien hoffentlich deutlich gemacht.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)