Protokoll der Sitzung vom 18.01.2012

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir müssen aus der Vergangenheit lernen, damit wir in der Gegenwart ihre Fehler nicht wiederholen und die Zukunft kein Rückfall in dunkle Zeiten wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Ich erteile dem Kollegen Möhrmann das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einer Woche hat Herr Professor Dr. Vogtherr für die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen den Abschlussbericht zu dem Projekt „Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter“, bearbeitet von Herrn Dr. Glienke, dem Ältestenrat vorgelegt.

Schon 15 Minuten nach Beginn der Sitzung veröffentlichte die Fraktion DIE LINKE dazu eine Pressemitteilung, in der sie Gesprächsangebote für die Medien unterbreitete. Der Ältestenrat war sich auf Vorschlag von Präsident Dinkla einig, den Fraktionen Zeit zu geben, sich intensiv mit dem Bericht zu beschäftigen. Es wurde in Aussicht genommen, nach einer Beratung im Ältestenrat eine Debatte darüber im Februarplenum vorzubereiten.

Die Medien berichteten über die Zusammenfassung der Arbeit von Professor Vogtherr. Er hat den Landtag insgesamt wegen des Projekts gelobt. Wir seien der erste Landtag, der sich dieser wichtigen Aufgabe gestellt habe. Er hat ausdrücklich alle Fraktionen einbezogen.

Heute hat die CDU-Fraktion in der Aktuellen Stunde das Thema beantragt: Wir sind Vorreiter. - Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der CDUFraktion: Waren Sie Vorreiter?

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD)

Hat Herr Dr. Althusmann ursprünglich nicht etwas ganz anderes hier behauptet? Er kannte doch zumindest für die CDU schon das Ergebnis.

Der Anstoß kam von der Linken, wenn auch in bestimmter ideologischer Absicht, als Replik auf die Vorwürfe der CDU zur SED-Vergangenheit. Ich frage Sie: Kann man so das Ziel der Aufarbeitung und kritischen Würdigung erreichen? Sicherlich hat manches Mitglied des Landtages bis heute noch gar nicht die Zeit gefunden, die über 200 Seiten

des Berichts zu lesen. Kommen wir so dem Ziel näher, das ich am Schluss meiner Rede vor dem Hohen Haus am 14. November 2008, nach dem Protokoll unter starkem Beifall des ganzen Hauses, mit Bezug auf Richard von Weizsäcker ausführte?

„Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Mit Bezug auf Pastor Martin Niemöller hatte ich das Zitat genannt:

„Wehret den Anfängen“

Meine Damen und Herren, ich frage Sie allen Ernstes: Ist das ein Thema für fünfminütige Statements im Rahmen einer Aktuellen Stunde?

(Lebhafter Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Deshalb will ich für meine Fraktion deutlich feststellen: Nach meinem Eindruck geht es der CDU in erster Linie um Themensetzung. Man wollte ein anderes Thema als nur die Debatte um Herrn Wulff als Ministerpräsident und seine möglichen Verfehlungen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die CDU befindet sich auch im Widerspruch zu dem - wie ich fand - guten Vorschlag von Präsident Dinkla, das Thema historisch weiter zu untersuchen. Im Bericht heißt es auf Seite 13 zutreffend:

„Der Abschlussbericht erhebt nicht den Anspruch und kann bzw. darf den Anspruch auch nicht erheben, eine politische Bewertung der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungstätigkeit zu präjudizieren.“

Uns liegt eine Zusammenfassung bestimmter historischer Quellen vor, die methodisch abgesichert ist - nicht mehr und nicht weniger. Die sollten wir bewerten, wir sollten uns aber auch fragen: Was fehlt noch? Was ist unzureichend dokumentiert? - Das hatten wir im Ältestenrat so verabredet.

Muss man nicht neben der Anzahl der NSDAPMitgliedschaften auch die Anzahl der Opfer, die die NS-Gewaltherrschaft überlebt haben, unter den Landtagsabgeordneten nennen, die die neue Demokratie mitgestaltet haben, soweit sie uns heute schon bekannt sind? Sollten als Opfer nicht auch die zu Tode gequälten früheren Abgeordneten genannt werden, zu denen es auch Daten gibt? Es gibt eine Erinnerungstafel in diesem Hause.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Wie erfahren wir Genaueres über die Motive der Abgeordneten, die sich aktiv im NS-Staat betätigt haben? Sind sie in den Neuanfang mit der Überzeugung „Nie wieder!“ gestartet? Oder gehörten sie zu denen, die sich immer, unter jedem System, anpassen? Oder waren sie etwa überhaupt nicht geläutert und verfolgten stillschweigend oder sogar kämpferisch noch die gleichen ideologischen Ziele?

Nun wird es vielleicht auch erschreckende Erkenntnisse über Personen geben, die bisher nicht bekannt waren. Auch dies gehört zur Aufarbeitung dazu. Wir werden uns fragen müssen: Warum haben so viele widerstanden und andere nicht?

Wenn zur Person von Hinrich Wilhelm Kopf und zu seiner Biografie Verstrickungen mit dem NSRegime bekannt werden, muss auch dies aufgearbeitet werden. Aber auch hier sind Verallgemeinerungen und Vorverurteilungen ohne Kenntnis aller Quellen unzulässig. Vielleicht kam ja der Antrieb für das bewundernswerte Engagement für das neue Land Niedersachsen gerade aus der Erfahrung „Nie wieder!“. Wir wissen nicht nur bei Kopf wenig über die Motive.

Meine Damen und Herren, viele Fragen bleiben offen. Ich hoffe, dass weitere Forschung Antworten ermöglicht. Am Ende des vorgelegten Berichts schreibt Herr Dr. Glienke mit Bezug auf Rudolf Wassermann und die Wiedereinstellung vieler Beschäftigter des NS-Staates in den öffentlichen Dienst nach dem „131er-Gesetz“ 1951:

„In ganz Westdeutschland kehrten ‚nahezu alle Richter und Staatsanwälte in die Justiz zurück, die bis 1945 in deren Dienst gestanden hatten.‘“

Wir Jüngeren fragen: Welchen Einfluss darauf hatten bestimmte Teile der Legislative? Welche Rolle spielten die Exekutive und die Zusammensetzung der Parlamente dabei? Welche Motive waren die tragenden? Wie hätten wir entschieden?

Ich hoffe, wir finden einen gemeinsamen Weg, weitere Fragen zu stellen und zu beantworten, damit wir aus der Vergangenheit für eine demokratische Zukunft unseres Landes lernen können.

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der LINKEN)

Ich erteile jetzt dem Kollegen Limburg das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dank und Anerkennung gebühren Landtagspräsident Dinkla für seinen Vorschlag, die Historische Kommission um das vorliegende Gutachten zu bitten. Dank gebührt natürlich auch den Mitgliedern der Historischen Kommission für diese Arbeit.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP sowie Zustimmung bei der LINKEN)

Zu Recht ist aber auch von mehreren Vorrednerinnen und Vorrednern bereits gewürdigt worden, dass es letztendlich die Fraktion DIE LINKE - die erst seit dieser Legislaturperiode dem Landtag angehört - war, die den Anstoß dazu gegeben hat, dass sich dieser Landtag mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Auch ihr gebührt natürlich Dank für diesen Anstoß dazu.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Die Historische Kommission betont in ihrer Bewertung der Ergebnisse immer wieder, wie schwierig es ist, anhand der vorliegenden Fakten auf den Grad der nationalsozialistischen Gesinnung zu schließen. Es werden Indikatoren wie etwa die Funktion im NS-Regime oder auch der Zeitpunkt des Eintritts in die NSDAP - z. B. vor oder nach der Machtübertragung auf Adolf Hitler - genannt. Aber auch da zeigt sich, wie schwierig eine Gesamtbewertung anhand dieser Fakten ist. Denn wir müssen uns doch fragen, wer der bessere Demokrat ist: ein junger Mensch, der in den 20er-Jahren voller Ideale und Überzeugungen in die NSDAP eintrat, beseelt von einer Idee, der 1945, nach der Katastrophe der Schoah und des Zweiten Weltkrieges, zur Einsicht gelangte, gedanklich mit dem NS-Regime brach und sich dann vielleicht mit dem gleichen Eifer und der gleichen Überzeugung in den Aufbruch der Demokratie stürzte? Oder ist der bessere Demokrat derjenige, der - sagen wir - 1938 aus Opportunismus, seiner Karriere wegen, in die NSDAP eintrat, nach dem Krieg aus dem gleichen Opportunismus heraus in eine andere Partei wechselte, jederzeit bereit, seine Fahne auch in einen noch neueren Wind zu hängen?

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Historische Kommission ist sich dieser Problematik sehr wohl be

wusst. Das wird in dem Gutachten mehr als deutlich. Auch der Herr Präsident weist in seinem Vorwort und auch in seiner Rede hier zu Recht darauf hin, dass es in der Diskussion nicht um holzschnittartige politische Schuldzuweisungen gehen kann. Irrtum, Umkehr, Einsicht, Reue, aber nach glaubhafter Reue Wiederaufnahme in die Gesellschaft müssen auch bei Nazis möglich sein, damals und übrigens auch heute noch.

(Björn Thümler [CDU]: Wohl wahr!)

Gleichwohl müssen wir konstatieren - das war erwartet worden -, dass es auch einige gab, die sich trotz erheblicher Verstrickung in NSVerbrechen sehr geschickt in die Nachkriegsdemokratie eingeschlichen haben, ohne dass Reue oder Auseinandersetzung mit den eigenen Taten erkennbar waren. Ein solches Beispiel war der frühere Reichskommissar Hermann Conring, der später für die CDU Mitglied des Landtages und des Bundestages wurde.

Vor diesem Hintergrund sollten nicht nur Pauschalurteile, sondern auch Pauschalfreisprüche vermieden werden, meine Damen und Herren. Frau Flauger hat zu Recht auf das Zitat von Herrn Althusmann hingewiesen. Herr Althusmann, ich erwarten von Ihnen als oberstem Dienstherrn der Schulen in diesem Lande, dass Sie solche Pauschalfreisprüche, wie Sie sie hier im Landtag 2008 getätigt haben, nicht weiter verbreiten.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Differenzierung ist richtig und wichtig. Aber das, meine Damen und Herren, muss dann auch an anderen Stellen gelten, z. B. wenn wir hier immer wieder über Personen diskutieren, die in der ehemaligen DDR politisch tätig waren, in der SED oder in anderen Parteien - ohne dass ich damit die DDR auch nur annähernd mit dem NS-Regime gleichsetzen möchte. Aber die Differenzierung können wir doch nicht nur für ehemalige NSDAP-Angehörige geltend machen. Das muss doch auch für andere Parteien gelten.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der LINKEN)

Dieses Gutachten kann kein Schlussstrich sein. Auch darauf weist der Landtagspräsident in seinem Vorwort zu Recht hin. Stolz auf diese Aufarbeitung seitens des Landtages ist meiner Meinung nach auch nicht angebracht. Dafür waren die Verbrechen, das Aufzuarbeitende zu gewaltig, die Aufarbeitungszeit viel zu lang. Stolz auf die späte

teilweise Aufarbeitung des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte sollten wir nicht empfinden.