Protokoll der Sitzung vom 24.11.2009

Nun zu einem anderen Problem. Mir hat auf einer Diskussionsveranstaltung mit Homosexuellen ein Gesprächspartner einmal Folgendes gesagt: Herr Toepffer, wenn Sie Schwulsein schützen wollen, dann müssen Sie Schwulsein definieren. Es gibt viele Homosexuelle, die das nicht wollen; denn in dem Augenblick, in dem Sie Homosexualität definieren, grenzen Sie diejenigen aus, die nicht unter die Definition fallen. - Deswegen hat man wahrscheinlich diesen Kunstgriff der sexuellen Identität gewählt.

Ich frage Sie: Was ist denn die sexuelle Identität? Wie weit reicht denn dieser Schutzbereich? Erfassen wir damit künftig auch die Fälle, in denen sich ein 19-Jähriger in eine 13-Jährige verliebt und das bis zum bitteren Ende führen möchte? - Gestatten Sie mir ein anderes Beispiel, das aktuell ist: Bundesverfassungsgericht, 2008. Inzestverbot. Was ist denn damit? Bin ich sexuell benachteiligt, wenn ich mich in meine Schwester verliebe und sage, dass ich mit ihr den Beischlaf vollziehen möchte?

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Bitte! Das ist kein seriöser Umgang mit un- serem Antrag!)

Herr Kollege Toepffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Haase?

Selbstverständlich, immer gerne.

Herr Haase!

Herr Kollege Toepffer, verwechseln Sie nicht gerade die Begriffe „sexuelle Orientierung“ und „sexuelle Identität“?

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wenn Sie die Protokolle der großen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag aus den 90er-Jahren und das, was die Sachverständigen gesagt haben, lesen, dann wissen Sie, dass sexuelle Identität etwas anderes ist als Orientierung. Ihre Beispiele, etwa das des 19-Jährigen und der 13-Jährigen, im Zweifel auch Fälle von Sodomisten oder Pädophilen, betreffen Fragen der sexuellen Orientierung und nicht Fragen der Identität.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von den GRÜNEN und von der LIN- KEN)

Herr Toepffer!

Lieber Herr Haase und liebe Frau Flauger, gerade weil mir dieses Thema wirklich ernsthaft auf dem Herzen liegt, würde ich hier niemals den Sodomisten oder den Pädophilen anführen. Sie müssen mir in den Ausschussberatungen aber schon erklären, wie weit die sexuelle Identität reicht; denn das, was Sie hier als unumstritten dargestellt haben, ist so unumstritten nicht. Darüber müssen wir reden. Wir müssen wirklich einmal darüber reden, ob künftig alles erlaubt sein soll oder ob es künftig in gewissen Bereichen noch Grenzen geben soll. Für das Bundesverfassungsgericht war das im Jahr 2008 in Bezug auf Inzest ein großes Problem. Darüber müssen wir im Ausschuss bestimmt noch einmal reden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Ich kann Ihnen dazu zusammenfassend Folgendes sagen: Herr Haase, Sie hatten eben die Hoffnung geäußert, wir kämen hoffentlich zu einer kurzen und schnellen Ausschussberatung. Ich kann Ihnen sagen: Wenn federführender Ausschuss der Rechtsausschuss wird, wovon ich ausgehe, dann wird es eine absolut faire und sachliche Behandlung des Themas geben. Schnell kann das aber nicht geschehen; denn hier sind noch so viele Fragen offen, dass wir zu einer schnellen und kurzen Beratung sicherlich nicht kommen werden.

Abschließend sage ich Ihnen Folgendes: Auch ich wünsche mir ein Ende der Diskriminierung von Homosexuellen in unserer Gesellschaft. Ich meine aber, dass wir dazu zunächst einmal die Änderung in den Köpfen und nicht auf dem Papier brauchen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustimmung von Stefan Wenzel [GRÜNE])

Danke schön, Herr Toepffer. - Auf Sie hat sich mit einer Kurzintervention für anderthalb Minuten Herr Kollege Adler von der Fraktion DIE LINKE gemeldet. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Toepffer, ich kann an Ihre letzten Ausführungen anknüpfen: Eine Änderung in den Köpfen ist sicherlich notwendig. - Aber sie wird zumindest gefördert durch das, was Sie ein bisschen abwertend als „Änderung auf dem Papier“ bezeichnet haben. Eine Gesetzesänderung und vor allem eine Grundgesetzänderung bewirkt auch eine Änderung des allgemeinen Bewusstseins. Das ist jedenfalls eine ihrer legitimen Zielsetzungen. Das sollte man nicht kleinreden.

Lassen Sie mich zu den Beispielen, die Sie angeführt haben, Folgendes erwähnen: In Artikel 3 steht auch, dass niemand wegen seiner politischen Meinung diskriminiert werden darf. Trotzdem wissen wir, dass es Missbräuche der Meinungsfreiheit gibt, z. B. wenn man in den strafrechtlichen Bereich hineingeht, Beleidigungen oder üble Nachreden ausspricht oder wenn man z. B. - Presserecht - Sachen sagt, die man nicht sagen darf. Da gibt es dann notfalls gerichtliche Entscheidungen. Es wäre doch fatal, wenn man jetzt Missbrauchsfälle der Meinungsfreiheit, die immer zulasten eines anderen gehen, über den zum Beispiel in der Öffentlichkeit unberechtigt etwas Unwahres behauptet wird, heranziehen würde, um zu sagen, der Gleichbehandlungsgrundsatz hinsichtlich der politischen Meinung könne uns so genau auch nicht überzeugen. Ich denke, wenn es diese Missbrauchsfälle gibt, ist das kein Argument; denn es gibt sie auch bei den anderen Fällen in Bezug auf Artikel 3.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke schön, Herr Adler. - Herr Toepffer möchte antworten. Auch Sie haben anderthalb Minuten.

Herr Kollege Adler, ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, aber ich stelle einfach einmal fest: Über die Frage der sexuellen Identität und darüber, wie weitreichend dieser Begriff ist, müssen wir deswegen diskutieren, weil wir über § 175 Strafgesetzbuch irgendwann einmal zu der Erkenntnis gelangt sind, dass das Grundgesetz möglicherweise geändert werden muss. Es gibt Strafgesetze, die andere Dinge in diesem Lande schlichtweg verbieten. Wir müssen wissen, ob eine Unterschutzstellung der sexuellen Identität uns in diesen Bereichen dann eine erneute Diskussion bringt, und wir müssen wissen, wie wir diese Diskussion dann zu Ende führen.

Was Änderungen des Grundgesetzes im Allgemeinen angeht: Wissen Sie, wovor ich Angst habe? Ich habe Angst davor, dass dieses Grundgesetz, das mir als Rechtspolitiker heilig ist, die Beliebigkeit etwa von Wahlprogrammen bekommt, indem man nämlich alles hineinschreibt, alles verspricht und glaubt, man bekäme das alles und setze da irgendwelche Zeichen, und die Gesellschaft werde dem schon folgen. Dann wird dieses Grundgesetz irgendwann einmal das Schicksal vieler Wahlprogramme ereilen. Dann sind wir nämlich bei der Beliebigkeit und haben überhaupt keine gerade Linie mehr.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke schön. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Herr Kollege Limburg das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Toepffer, Sie machen es mir als Oppositionspolitiker wirklich nicht leicht, nach einer solchen Rede jetzt eine weitere Rede zu halten,

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

weil ich 90 % Ihrer Ausführungen zustimmen kann. Sie haben, wie auch schon der Kollege Haase, zu Recht darauf hingewiesen, dass wir mit Grundgesetzänderungen nicht leichtfertig umgehen sollen. Sie haben ebenso wie Herr Adler zu Recht darauf hingewiesen, dass es natürlich auch heute noch in

der Gesellschaft zahlreiche Formen der Diskriminierung von Homosexuellen, aber auch von Intersexuellen, von Transsexuellen, von Asexuellen und von Menschen mit anderen Formen der Sexualität gibt. Diese Menschen werden natürlich in unserem Alltag diskriminiert, und wir alle sind aufgerufen und aufgefordert, gegen jegliche Form der Diskriminierung anzukämpfen.

Der vorliegende Antrag der Linken bezieht sich auf eine Bundesratsinitiative, die von den Ländern Hamburg, Bremen und Berlin eingebracht worden ist. Da hat sich - jetzt passen Sie genau auf, Herr Kollege Oesterhelweg; das wird Sie interessieren - schon eine spannende Koalition gebildet. Sie reicht von der CDU über die SPD, die Grünen - und jetzt kommt’s - bis hin zur den Linken. CDU und Linke marschieren in einem Parlament, im Bundesrat, Seit’ an Seit’. Herr Kollege Oesterhelweg, das sollte doch auch bei Ihnen langsam zu einem Umdenken führen.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Diese Koalition aus den verschiedenen Parteien ist zu dem Schluss gekommen, dass wir eine Lücke im Grundgesetz haben - genauer: in Artikel 3 des Grundgesetzes - und dass wir diese Lücke schließen müssen.

Weil wir hier gerade sehr viel über Homosexuelle gesprochen haben, möchte ich noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass es nicht nur um Homosexualität, sondern natürlich auch um andere Formen der Sexualität geht. Herr Toepffer hat recht, wenn er darauf hinweist, dass man natürlich schon sehr genau hinschauen und fragen muss: Was definieren wir unter Artikel 3? Was soll zukünftig erlaubt sein und was nicht?

Ich teile nicht so sehr Ihre Skepsis, was das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 zu dem Geschwisterfall angeht. Nach meiner Auffassung ist die Entkriminalisierung des Inzestes längst überfällig. In Frankreich wird Inzest seit über 150 Jahren nicht mehr bestraft. Natürlich ist so etwas nicht normal. Natürlich müssen solche Leute unter Umständen zum Psychiater oder zum Psychotherapeuten, aber ganz sicherlich nicht in ein Gefängnis, Herr Kollege Toepffer. Aber in anderen Bereichen - Sie haben Pädophilie angesprochen - gibt es natürlich Schwierigkeiten.

Gleichwohl - ich möchte noch einmal auf die Homosexuellen zurückkommen und das noch einmal konkretisieren - haben wir in rechtlicher Hinsicht

einen ganz erheblichen Nachholbedarf und Nachbesserungsbedarf im Bereich der Homosexuellen. Ein volles Adoptionsrecht für Homosexuelle steht immer noch aus, obwohl Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern und Regenbogenfamilien längst Realität sind und keine Gefährdung des Kindeswohls erkennbar ist. Bei den Betriebsrenten im öffentlichen Dienst musste erst das Bundesverfassungsgericht eingreifen. Im Steuerrecht, im Bundesbeamtengesetz und in vielen einzelnen Gesetzen werden homosexuelle Menschen nach wie vor diskriminiert. Diese Diskriminierungen würden mit einer Grundgesetzänderung definitiv beendet werden, meine Damen und Herren.

Dies alles verdeutlicht: Trotz rechtlicher Verbesserungen gibt es einen Bedarf für einen erhöhten Rechtsschutz in diesem Bereich, wie ihn in Deutschland nur das Grundgesetz bieten kann. Wir begrüßen und unterstützen daher die Initiative der Linken. Die Zeit ist reif, unser Grundgesetz auch in diesem Punkt auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Danke schön, Herr Limburg. - Für die FDPFraktion hat Herr Kollege Professor Dr. Zielke das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Manchmal glaube ich, ich habe hellseherische Fähigkeiten.

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU - Kreszentia Flauger [LINKE]: So kann man sich täuschen!)

Vor ein paar Monaten haben wir hier über die Aufnahme von Kinderrechten in unsere Landesverfassung debattiert. Ich habe damals gewarnt, und ich zitiere:

„Ich befürchte, wir begeben uns da auf eine schiefe Ebene; denn der heutige Beschluss“

- gemeint war der zu den Kinderrechten -

„könnte zu einem Wettlauf der Anreicherung der Verfassung mit hehren und konkreten Zielen und Grundsätzen einladen, denen jeder nur zustimmen könnte: vom Gesundheits

schutz über Kultur oder Musik oder Sport oder saubere Umwelt bis zum Schutz von Senioren oder dem Recht auf Arbeit oder dem Recht auf Bildung oder dem Recht auf Wohnung. Jeder könnte und müsste, getrieben von der öffentlichen Meinung, dafür sein, und jede besonders befürwortende Lobbygruppe würde ihr Anliegen in der Verfassung wiederfinden wollen, um es aufzuwerten, es sozusagen auf Ewigkeit in Stein gemeißelt zu sehen.

Aber genau durch diese Inflation an Zielen und Grundsätzen würde jeder einzelne Grundsatz an Herausgehobenheit, an Erhabenheit einbüßen. Auch die Verfassungen selbst, die des Bundes ebenso wie die der Länder, immerhin das Fundament unserer demokratischen Grundordnung, werden umso poröser und baufälliger und anfälliger für weitere Änderungen, je mehr uns ihre Veränderung zur Gewohnheit wird.“

Warum es dringend geboten und aus gesamtstaatlichen Überlegungen gerade jetzt unabdingbar sein soll, den Schutz der sexuellen Identität in der Verfassung festzuschreiben, erschließt sich mir bisher nicht. Aber wir werden im Ausschuss Gelegenheit haben, das mit allen Konsequenzen und Verzweigungen im geltenden Recht lang und sorgfältig zu diskutieren.

Vielen Dank.