Protokoll der Sitzung vom 17.02.2010

(Beifall bei der LINKEN - Kreszentia Flauger [LINKE]: Das wissen sie auch!)

Die Unterstellung, Hartz IV würde zu Faulheit animieren, weil sich Arbeit nicht lohne, verdreht die Tatsachen, ist zynisch und menschenverachtend.

(Glocke des Präsidenten)

Nicht Hartz IV ist zu hoch, sondern die Löhne sind zu niedrig.

(Beifall bei der LINKEN - Björn Thüm- ler [CDU]: Jetzt haben wir es!)

Meine Damen und Herren, nicht die Höhe der Sozialleistungen, sondern Niedriglöhne und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich bedrohen den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft. Mit Ihrer Politik betätigen Sie sich als Brandstifter gegen diesen sozialen Frieden in dieser Republik.

(Beifall bei der LINKEN - Norbert Böhlke [CDU]: Was ist das denn! - Björn Thümler [CDU]: „Brandstifter“ ist grenzwertig! - Zuruf von Ingrid Klopp [CDU])

„Für einen fairen Sozialstaat“ - so lautet der zweite Teil des Titels des Antrags der FDP zur Aktuellen Stunde. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie wollen eine Gesellschaft in der es nicht gerecht, sondern nur fair zugeht.

(Glocke des Präsidenten)

Eine faire Gesellschaft braucht eben nicht mehr sozial gerecht zu sein. Nein, nach dem Denken der FDP ist eine Gesellschaft fair, in der sich Leistung lohnt, wie Sie sagen, in der Schule, im Beruf, im Leben.

(Professor Dr. Dr. Roland Zielke [FDP]: Ja!)

Unfair ist in Ihren Augen eine Gesellschaft,

(Christian Dürr [FDP]: In der sich Leis- tung nicht lohnt!)

in der der Jugend die Illusion eines anstrengungslosen Einkommens, wie Sie sagen, vorgegaukelt wird.

(Christian Grascha [FDP]: Sie haben völlig recht!)

Meine Damen und Herren von der FDP, in einer Gesellschaft, in der jedes fünfte Kind arm ist, in der weit über 100 000 Schulabgänger keinen Ausbildungsplatz haben und in Warteschleifen landen, in der selbst junge Akademiker von einem unbezahlten Praktikum zum anderen verwiesen werden, kann Ihr Gerede von der Illusion eines anstrengungslosen Einkommens nur noch als blanker Zynismus bezeichnet werden.

(Beifall bei der LINKEN und Zustim- mung bei der SPD - Christian Gra- scha [FDP]: Sagen Sie doch einmal, wie das in Berlin ist!)

Wer einen Mindestlohn verweigert und gegen die Verfolgung millionenschwerer Steuerhinterziehung Front macht, sollte keine großen Töne über Gerechtigkeit und Leistungsgedanken spucken. Leistungsverweigerer leben in Deutschland nicht von Hartz IV, sondern von Zinserträgen und Spekulationsgewinnen!

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Ein allerletzter Satz, Herr Präsident. - Sozialleistungen sind keine Gnadenakte, sondern Verpflichtungen eines demokratischen Rechtsstaats, der die Menschenwürde garantiert. Davon entfernen Sie sich. Ich bleibe dabei: Das ist Brandstiftung. Wir brauchen den Mindestlohn jetzt und sofort!

Schönen Dank.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich erteile jetzt dem Kollegen Thiele von der CDUFraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden und mit Urteil am 9. Februar 2010 verkündet, dass die Vorschriften des sogenannten Hartz-IV-Gesetzes, die die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Artikels 20 Abs. 1 des Grundgesetzes erfüllen. Darüber reden wir hier. Dieses grundlegende Urteil erklärt das von der rot-grünen Regierung Schröder 2003 entwickelte und zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt für teilweise verfassungswidrig.

Sehr geehrte Damen und Herren, dieses Urteil hat erwartungsgemäß eine breite politische Debatte darüber ausgelöst, wie das Sozialstaatsgebot des Artikels 20 des Grundgesetzes zu erfüllen ist, wie leistungsfähig unser Sozialstaat ist und wie das Verhältnis von Sozialleistungen zur Einkommenssituation im unteren Einkommenssektor austariert werden muss. Diese Debatte ist legitim und notwendig.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Das ist ja nett!)

Einige dieser Diskussionsbeiträge der vergangenen Tage waren allerdings allzu leicht vorhersagbar und zu undifferenziert. „Hartz-IV-Regelsätze anheben!“, „Einheitlicher flächendeckender Mindestlohn jetzt!“ und Ähnliches war schon wenige Stunden nach Verkündung des Urteils öffentlich zu hören.

Um es klar zu sagen: Diese oberflächliche Herangehensweise wird dem Urteil ebenso wenig gerecht wie der Ansatz, die Diskussion auf diejenigen Leistungsempfänger zu verkürzen, die einen geringen Eigenantrieb haben, ihren Lebensunterhalt aus eigener Arbeit zu gestalten. Das sind maximal Teilaspekte der notwendigen Diskussionen, zu denen wir jetzt notwendigerweise kommen müssen, um eine Reform der SGB-II-Gesetzgebung zu erreichen.

Allerdings ist es vor dem Hintergrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils ein legitimes Anliegen, eine substanzielle und zielgerichtete Generaldebatte über die Sozialgesetze zu führen. Politik darf

dabei nicht den Eindruck erwecken, ausschließlich über die zu reden, die Leistungsempfänger sind, und zu wenig denen Respekt zu zollen, die Leistungen erwirtschaften. Auch das ist klar.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Ich gebe der FDP in diesem Punkt ausdrücklich recht, möchte aber darauf hinweisen, dass die Auslegung des Artikels 20 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht dieser Debatte sehr enge Grenzen setzt. Das muss uns bewusst sein.

Ich habe die FDP so verstanden, dass sie unsere sozialen Sicherungssysteme in ihrer jetzigen Form nicht mehr für dauerhaft tragfähig hält. Insbesondere was die Gesundheitsversorgung und auch die Rentensysteme angeht, gibt es eine ganze Menge Experten, die diese Position teilen. Das wissen wir.

(Ralf Briese [GRÜNE]: Frau Ha- derthauer!)

Das Thema Gesundheitsversorgung geht der neue Bundesgesundheitsminister, unser Freund Philipp Rösler, kraftvoll an.

(Lachen bei der SPD und bei den GRÜNEN - Wolfgang Jüttner [SPD]: Volle Kraft voraus!)

Wir werden jetzt im Zusammenhang mit der SGB-II-Reform die Debatte über die Arbeitslosenversicherung insbesondere im Bereich der Langzeitarbeitslosen neu führen müssen.

Liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren, es ist offensichtlich, dass der allergrößte Anteil derer, die Empfänger von Leistungen nach dem SGB II sind, lieber heute als morgen aus dieser Situation herauskommen möchte.

(Beifall)

Dem muss die Debatte Rechnung tragen, und dem muss das politische Handeln Rechnung tragen. Mir ist daher wichtig festzustellen: Die Menschen müssen die Chance haben, sich aus der Situation des Leistungsempfängers herauszuarbeiten und auch in einer schwierigen Arbeitsmarktsituation dieses Ziel zu erreichen.

(Zustimmung bei der CDU)

Im Kern kann man also feststellen, dass dieser Teil des SGB-II-Gesetzgebungspaketes erfolgreich ist;

denn der Anteil derer, denen es gelungen ist, aus Hartz-IV-Leistungen schneller in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, ist im Vergleich zum früheren Sozialhilfesystem in den letzten Jahren deutlich angestiegen.

(Zustimmung bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Insofern ist der Kernansatz der Reform, den wir mitgetragen haben, vollkommen richtig.

Vor diesem Hintergrund bin ich persönlich am meisten darauf gespannt - das sage ich hier ausdrücklich -, wie sich SPD und Grüne vor dem Hintergrund ihrer eigenen Agenda-2010-Politik in dieser Debatte verhalten werden

(Zustimmung von Ingrid Klopp [CDU])

und wie viel Schröder/Fischer-Politik sie sich heute in der Opposition eigentlich noch zutrauen. Peer Steinbrück hat das 2007 so formuliert:

„Sollte jemand eine solche Rückkehr zu alten Ufern wollen, kann ich nur sagen: Das kostet uns die Regierungsfähigkeit.“

Schauen wir einmal, wie sich das heute entwickelt!