Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

(Beifall bei der LINKEN)

Ganz im Gegenteil: Wir brauchen eine Ausweitung dieses Widerstandsrechts. Wir wollen die definitive Klarstellung, dass auch ein politischer Streik in Deutschland legal ist. Ich freue mich auf eine lebhafte Debatte im Ausschuss.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Rickert. Bitte sehr, Herr Rickert!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vieles ist schon gesagt worden. Aber zur Vervollständigung meines Redebeitrages muss ich doch das eine oder andere wiederholen.

Zur Ausgangssituation. Das Bundesarbeitsgericht hat jahrelang den sogenannten Grundsatz der Tarifeinheit aufgestellt. Dieser Grundsatz besagt, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag anzuwenden ist. Ein anderer Tarifvertrag bleibt zwar formal rechtsgültig, kommt aber nicht zur praktischen Anwendung. Welcher von zwei gültigen Verträgen einheitlich im gesamten Betrieb und für sämtliche Arbeitnehmer anzuwenden ist, entscheidet sich danach, welcher Vertrag spezieller auf den Betrieb passt oder hinter welchem Vertrag die größere Zahl von Arbeitnehmern steht. So weit die bisherige jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Interpretation. Ich sage ganz offen, als ehemaliges Vorstandsmitglied eines Arbeitgeberverbandes - so viel zu meiner Vita - habe ich große Sympathie für diese Interpretation gehabt.

(Gerd Ludwig Will [SPD]: Das ist klar!)

Es hat in den Betrieben für Klarheit, Verhandlungssicherheit und für Betriebsfrieden gesorgt.

(Gerd Ludwig Will [SPD]: Für Lohn- dumping!)

Übrigens, Herr Lies, wie man dieses Thema jetzt zu einer Philippika gegen die Leiharbeit nutzen kann, ist mir nicht ganz verständlich. Dazu nur zwei Anmerkungen. Erstens. Es betritt kein Leiharbeiter den Betrieb ohne Zustimmung des Betriebsrats.

(Enno Hagenah [GRÜNE]: Doch!)

Zweitens - das habe ich gestern bereits gesagt -: Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ist erst 2004 novelliert worden, und zwar unter einem SPDArbeitsminister.

(Gerd Ludwig Will [SPD]: Da kennen Sie aber die Mitbestimmung über- haupt nicht!)

Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht anders, und zwar wie folgt entschieden: In einem Betrieb können mehrere Verträge nebeneinander gelten und danach auch angewendet werden, je nachdem, bei welcher Gewerkschaft der Arbeitnehmer Mitglied ist. So viel dazu.

Nun kommt der Ruf nach dem Gesetzgeber. Möglichst sollte die alte Verfahrensweise wiederherge

stellt werden. Aber ganz so einfach, wie die SPD es sich in ihrer Entschließung vorstellt, ist es nicht; Herr Dr. Matthiesen hat darauf hingewiesen. Es gibt eine verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie. In Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist die Koalitionsfreiheit festgelegt.

In diesem Zusammenhang mahnt der Verband der Familienunternehmer das Brechen der Tarifmonopole an. Die Politik dürfe nicht zum verlängerten Arm von DGB und Arbeitgeberverbänden werden und solle mehr Vielfalt zulassen. Der Verband wünscht aber auch, dass der Gesetzgeber regelt, dass z. B. die verschiedenen Gewerkschaften in den Unternehmen nicht permanent streiken dürfen.

So viel zu dieser zurzeit nicht sehr übersichtlichen und nicht ganz einfachen Gemengelage. Herr Matthiesen hat ja sehr schön dargestellt, wie komplex der Sachverhalt ist. Wir sollten jetzt also die verfassungsrechtliche Diskussion abwarten. Es gibt eine Fülle von Besprechungen, Diskussionen und Positionspapieren. Auf das gemeinsame Papier von DGB und Arbeitgeberverbänden ist schon hingewiesen worden. Wichtig ist dabei nur, dass wir die verfassungsrechtlich gesicherte Koalitionsfreiheit erhalten, aber auch den Betriebsfrieden wahren oder ein Durcheinander, wie es die Unternehmer befürchten, vermeiden. Insofern bleibt zu prüfen, ob sich das Land der Bundesratsinitiative von Rheinland-Pfalz zur Stunde anschließt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Als Nächster hat Herr Hagenah für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das wird ja wohl eine muntere Diskussion im Fachausschuss werden. Ich stelle fest, es gibt eine breite Nachdenklichkeit bei diesem, denke ich, sehr wichtigen Thema und gleichzeitig sehr viel Ähnlichkeit über die Lager und Fraktionen hinweg, was die Punkte angeht, bei denen Nachdenklichkeit gezeigt wurde. Selbst Herrn Lies, der für die Antragsteller sprach, habe ich so verstanden, dass für ihn der Antrag, der im Augenblick im Bundesrat eingebracht ist und der nach dem Antrag der SPD 1 : 1 übernommen werden soll, noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Das halte ich für ein seriöses Umgehen mit diesem komplexen Thema. Da hat uns das Bundesarbeitsgericht et

was vor die Tür gelegt, das wir als Politik erst einmal zu bearbeiten haben. Ich denke, wir sind gut beraten, wenn wir uns alle Seiten, die davon betroffen sind, erst einmal in Ruhe anhören, bevor wir einen Schnellschuss aus der Hüfte machen und sagen, das ist der tolle Weg; denn es muss eine Regelung gefunden werden, die die Qualitäten, die es bisher gab, aufgreift, und gleichzeitig versucht, negative Entwicklungen, die durchaus zu beklagen sind und die in verschiedenen Redebeiträgen vor mir schon angesprochen worden sind, in Zukunft zu verhindern.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Das ist erst einmal das, was ich mitgenommen habe. Ich halte es für einen sehr ordentlichen Umgang, wie alle Kollegen das angehen wollen; denn wir als Politikerinnen und Politiker sind nicht Interessenvertreter der verschiedenen Akteure rund um das Thema Tarifeinheit. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, das große Ganze im Blick zu haben und dafür den Rahmen zu setzen. Wir müssen uns fragen, welche Regelung für die Gesellschaft angemessen ist und ob die Tarifeinheit oder die Tarifpluralität der Volkswirtschaft, dem Gemeinwohl und den Betrieben mehr dient und wie wir das entsprechend ausgewogen darstellen können. Da gibt es offenbar keine einfache Schwarz-WeißAntwort. Das wissen wir seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts.

Wir Grünen sind für ein gutes Arbeitsklima bei sozial und leistungsgerechter Bezahlung - keine Frage - und ebenso für eine gute Produktivität, die damit für die Betriebe erreicht werden soll. Wir unterstützen deshalb grundsätzlich die Tarifeinheit und wollen sie in Zukunft im Kern erhalten. Das haben eigentlich alle hier gesagt. Wir sehen aber auch, dass es einige gute Argumente der Spartengewerkschaften gibt. Auch das von Frau WeisserRoelle dargestellte Streikrecht wollen wir in dem Zusammenhang auf keinen Fall eingeschränkt sehen.

Wir dürfen also nicht auf die erstbeste Lösung aufspringen. Wir schlagen daher eine inhaltliche Ergänzung des Antrages für den Bundesrat in der Weise vor, dass sich die berechtigten Interessen beider Seiten noch stärker wiederfinden. Die Grüne-Bundestagsfraktion führt dazu in den nächsten Wochen eine umfängliche Anhörung durch. Wie wir gehört haben, hat auch die Bundesregierung angefangen, eine Anhörung dazu zu machen. Wir müssen sehen, ob wir auch auf Landesebene noch

eine Anhörung durchführen oder ob wir uns schlichtweg die Ergebnisse der verschiedenen Anhörungen auf Bundesebene in die Ausschussberatungen jeweils einspielen lassen, um dann eine gute Lösung, die vielleicht sogar von allen getragen werden kann, zu finden. Bei diesem Thema scheint es gute Voraussetzungen dafür zu geben, weil zumindest das Problembewusstsein von allen dargestellt worden ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustim- mung bei der CDU)

Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt noch eine Wortmeldung vor, und zwar von Herrn Minister Bode. Ich erteile Ihnen das Wort, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die sehr ausgewogene Diskussion hier hat gezeigt, dass das Thema allen Beteiligten am Herzen liegt und dass es auch wichtig ist. Als Wirtschaftsminister ist man natürlich daran interessiert, dass es in den Betrieben ein reibungsloses Funktionieren und auch einen Betriebsfrieden gibt. Die Sorgen, die jetzt aufgrund der Tarifzersplitterung sowohl auf Arbeitgeberseite als auch auf Arbeitnehmerseite entstehen, verstehe ich durchaus; das geht uns allen ja so.

Genauso ist man als Arbeitsminister aber verpflichtet, die Tarifautonomie und auch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit im Auge zu behalten. Die Intention des Entschließungsantrages erkenne ich deshalb durchaus an. Es nimmt ja auch die Stimmung aller Fraktionen auf, dass man sagt, wir müssen uns diesem Thema tatsächlich widmen. Ich glaube aber, wir würden dem Thema keinen guten Dienst erweisen, wenn wir uns bereits jetzt auf die Positionierung in dem Entschließungsantrag aus Rheinland-Pfalz festlegen würden. Ich schließe mich daher eher der Bundesarbeitsministerin an, die gesagt hat, dass man äußerst sorgsam und handwerklich sauber vorgehen solle, damit man nicht hinterher durch einen Schnellschuss, den man auch machen könnte, noch viel größere Probleme schafft.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die verfassungsrechtliche Problemlage ist natürlich vorhanden. Es geht um die entscheidende Frage, ob ein gesetzlicher Zwang zur Tarifeinheit mit der

grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit vereinbar wäre. Dieses Thema ist nicht einfach zu lösen. Es gibt dazu sehr unterschiedliche Meinungen. Deshalb finde ich es gut, dass die Bundesarbeitsministerin vorgestern ein Kolloquium mit dem Titel „Tarifeinheit und Koalitionsfreiheit“ durchgeführt hat, das mit über 150 Vertretern sehr groß besetzt war, mit Arbeitsrechtswissenschaftlern, Arbeitgeberverbänden, dem DGB und mit Gewerkschaften; Spartengewerkschaften waren auch dabei. Auch das Land Niedersachsen war vertreten, um sich an der Diskussion zu beteiligen und um zu sehen, was vorgeschlagen wird.

Ich will Ihnen jetzt nur eine kurze erste Einschätzung zu diesem Kolloquium geben. Der gefühlte Eindruck war, dass alle gesagt haben: Ja, es muss etwas passieren. Es muss wahrscheinlich eine gesetzliche Regelung getroffen werden. Aber wahrscheinlich muss diese Regelung anders als das bisher Diskutierte sein, nämlich durchaus auch die Interessenlagen der Spartengewerkschaften stärker aufnehmen. - Es gab einen neuen Vorschlag von den Professoren, der allerdings so neu war, dass er in dem Kolloquium zum ersten Mal repräsentiert wurde und deshalb auch nicht ausgewertet werden kann. Wir sollten uns an dieser Diskussion beteiligen, aber keine Vorfestlegungen treffen und dadurch die Debatte in eine falsche Richtung führen, sondern wir sollten uns den neuen Vorschlag genau anschauen, ihn intensiv analysieren und bewerten.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegen zu diesem Tagesordnungspunkt keine weiteren Wortmeldungen vor.

Wir kommen zur Ausschussüberweisung.

Federführend soll der Ausschuss für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr und mitberatend der Ausschuss für Haushalt und Finanzen sein. Spricht jemand dagegen? - Enthält sich jemand? - Dann ist so beschlossen worden.

Bevor ich den letzten Punkt vor der Mittagspause aufrufe, erinnere ich daran, dass wir im Anschluss an den Tagesordnungspunkt 27 für anderthalb Stunden in die Mittagspause eintreten werden. Nach meiner Einschätzung wird der letzte Abschnitt heute Nachmittag um 14 Uhr beginnen. Das aber wird Ihnen Frau Vizepräsidentin Frau Vockert dann noch einmal genau sagen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:

Zweite Beratung: Bevölkerung vor gefährlichen Gewalttätern schützen - Sicherungsverwahrung erhalten und Sicherheitslücken schließen - Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP - Drs. 16/2519 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen - Drs. 16/2779

Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag in geänderter Fassung anzunehmen.

Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.

Zu Wort gemeldet hat sich zunächst Herr Dr. Biester. Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte schön!

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist eher selten, dass rechtspolitische Themen in der Öffentlichkeit eine große Aufmerksamkeit erfahren. Beim Thema Sicherungsverwahrung ist dies allerdings anders gewesen. Das ist aus meiner Sicht auch erklärlich, weil ein jeder Mensch ein natürliches Interesse daran hat, dass er durch den Staat vor gefährlichen Straftätern geschützt wird, und zwar auch dann, wenn der Straftäter seine Haft verbüßt hat, aber gleichwohl prognostiziert werden muss, dass eine Gefährlichkeit fortbesteht.

Dabei werden unseres Erachtens in der öffentlichen Diskussion zwei Sachverhalte nicht hinreichend scharf voneinander getrennt. Der erste Sachverhalt betrifft das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Praxis der Sicherungsverwahrung in Deutschland. Es kommt offensichtlich öfter vor, dass uns Urteile höchster Gerichte vor die Füße gelegt werden und zum Handeln zwingen. Wir haben gerade über das Bundesarbeitsgericht gesprochen. Wir haben heute in der Presse die Berichterstattung über das gestrige Urteil zum Wettmonopol verfolgen können. Die Gerichte erteilen der Politik also öfter Aufträge.

Der zweite Sachverhalt ist die ohnehin bestehende Absicht der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP in Berlin, den gesamten Bereich der Sicherungsverwahrung gesetzlich neu zu regeln, der durch die Entwicklung der Gesetze auch etwas verworren ist und immer wieder nachgebessert

und geändert worden ist, sodass dort zurzeit eine klare Systematik in der Tat fehlt.

Mit unserem Entschließungsantrag - ich weiß ja, dass ihn die Fraktionen auf der linken Seite des Hauses ablehnen werden - ging es uns in erster Linie um den ersten Sachverhalt, also um das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, weil damit natürlich die Frage verbunden ist, wie die Landesregierung mit diesem Urteil sinnvollerweise umgeht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Es werden in den Bundesländern auch verschiedene Möglichkeiten praktiziert. Die eine Möglichkeit ist die sofortige Freilassung des Personenkreises, der von diesem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betroffen ist. Es gibt die Möglichkeit, gar nichts zu tun, nach dem Motto „Staatsanwaltschaft und Gerichte werden es schon regeln. Wir wollen mal sehen, was dabei herauskommt“, und es gibt eine dritte Möglichkeit, die darin besteht, nicht aufgrund des Urteiles freizulassen, sondern im Gegenteil die Staatsanwaltschaften anzuweisen, keine sofortige Freilassungen vorzunehmen und für den Fall, dass aufgrund einer richterlichen Entscheidung eine Freilassung angeordnet wird, den Rechtsmittelweg entsprechend auszuschöpfen.