Protokoll der Sitzung vom 19.01.2011

Wie soll man ein solches Verhalten eigentlich nennen? Offensichtliche Falschinformation? Der Staatssekretär als Baron Münchhausen? Oder: Im Zweifel für die Agrarindustrie und gegen den Verbraucherschutz?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Und dann der vorläufige Pannenhöhepunkt am letzten Freitag, als sich die Bundesministerin übel getäuscht fühlte.

Nach über zwei Wochen - so sagt Herr Goldmann von der FDP - war aufgefallen, dass eine Agrargenossenschaft über 900 weitere Abnehmer verschwiegen hatte. Welche Betriebe da gedeckt wurden, weiß die Öffentlichkeit bis heute nicht. Erst am Folgetag wurden die Bundesregierung und die Öffentlichkeit informiert. Als Begründung dienten einen Tag lang leere Handyakkus, fehlende Telefonnummern und angebliche Unzuständigkeit, bis dann das Ministerium einräumte, die Informationen der Ministerin bewusst verschwiegen zu haben, wahrscheinlich, um die schöne Inszenierung nicht zu stören.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wer trägt für diese Skandale eigentlich die Verantwortung? - Der zuständige MöchtegernAgrarminister Sander weiß von nichts und spielt das dioxinfreie Unschuldslamm. Abgetaucht, unerreichbar, „kein Anschluss in Hannover“, schrieb die HAZ. Bis heute von ihm keine Erklärung oder Einlassung zu diesem weltweit Kreise ziehenden Lebensmittelskandal. NRW musste sogar den Ministerpräsidenten anrufen, um einen Zuständigen zu bekommen. Doch nicht etwa Sander rief zurück, sondern der Staatssekretär Ripke. Sander fühlte sich nicht zuständig.

(Heinz Rolfes [CDU]: So ein Unsinn!)

Nächste Woche aber, wenn Herr Sander zum Glück nicht mehr Agrarminister ist, tummelt er sich dann laut Terminkalender auf der Grünen Woche, spricht mit dem EU-Agrarkommissar, nicht aber mit dem Umweltkommissar, und macht wieder das, was er immer macht: Landwirtschaftsminister Nummer zwei und nicht etwa Umweltminister.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn es einen Skandal gibt, ist kein Minister da, wenn es keinen Skandal gibt, haben wir gleich zwei.

Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Das Verhalten des niedersächsischen Agrarministeriums im Dioxinskandal ist eine unendliche Kette von Pannen, Verharmlosungen und Vertuschungen, die aufgeklärt gehören. Betriebe werden vergessen, Lieferungen nicht gestoppt, Futtermühlen nicht durchsucht, Namen bis heute nicht veröffentlicht. Niedersachsen wird zum Skandalland Nummer eins. Noch heute wissen wir Verbraucherinnen und Verbraucher nicht, ob das Ei oder das Schnitzel, das wir in der Markthalle kaufen, aus einem gesperrten Betrieb kommt, und die unschuldigen Landwirte wissen nicht, wer für den Millionenschaden aufkommen soll; die Namen der Betriebe werden ja nicht genannt.

Als Konsequenz aus dem Skandal richten Sie runde Tische ein - aber nicht etwa mit den Verbrauchern, sondern mit der Futtermittelindustrie. Foodwatch sagte dazu: Das ist, als würde man mit Autodieben darüber verhandeln, wie die Diebstahlsicherung von Autos verbessert werden kann.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in der Agrarpolitik brauchen wir einen wirklichen Systemwechsel: Agrarwende 2.0. Der Verbraucher-, Tier- und Umweltschutz muss endlich Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen bekommen. Der Bioboom der Verbraucher zeigt, dass sie wissen, dass die industrialisierte Massentierhaltung und Billigproduktion die aktuelle Giftpanscherei begünstigen.

Zum Schluss noch eine leicht veränderte niedersächsische Bauernregel: Regiert im Stall die Industrie, / gibt’s Dioxin fürs Federvieh, / und kontrolliert die CDU, / dann geh’n schon mal zwei Augen zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN - Björn Thümler [CDU]: Das ist unerhört! Null Beweise! Null Substanz!)

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Frau Schröder-Ehlers. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Lindemann, auch von

mir herzlichen Glückwunsch zu Ihrer neuen Aufgabe! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und vor allem viel Kraft in Ihrem Amt. Ich denke, die werden Sie auch brauchen.

Die Situation ist ernst, meine Damen und Herren; sie ist sogar sehr ernst.

(Karl-Heinrich Langspecht [CDU]: Richtig!)

Die Probleme sind komplex.

(Karl-Heinrich Langspecht [CDU]: Auch das ist richtig!)

Da helfen keinen einfachen und schnellen Antworten, Herr Lindemann.

(Reinhold Coenen [CDU]: Das wissen wir!)

Wenn man das Vertrauen der Menschen wiedergewinnen will, bedarf es wirklich tiefgreifender Veränderungen. Und da bin ich schon enttäuscht von dem, was ich heute Morgen gehört habe. Nach all den Vorschusslorbeeren hätte ich da deutlich mehr erwartet, Herr Lindemann.

Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie einem überkommenen Bild von Landwirtschaft anhängen. Ich sage Ihnen: Ein munteres „Weiter so!“ hilft nicht und reicht auch überhaupt nicht aus.

(Zustimmung bei der SPD - Zuruf von Hans-Heinrich Ehlen [CDU])

Die wiederkehrenden Skandale bei den Lebensmitteln und den Futtermitteln haben uns doch alle tief verunsichert, und mit jedem weiteren Skandal, Herr Ehlen, nimmt die Verunsicherung zu. Das muss aufhören. Wir brauchen eine grundsätzliche Kehrtwende. Sonst bleibt Niedersachsen das Skandalland Nummer eins.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen mehr Ökolandwirtschaft. Wir brauchen vor allem aber mehr Sicherheit und Qualität bei allen Lebensmitteln, die hier produziert werden, ganz egal, ob ökologisch oder konventionell. Da gibt es viele Vorschläge, viele Beschlüsse, viele Punkte-Pläne. Das ist gut. Viel wichtiger aber ist das, was hinten rauskommt, und daran werden wir Sie messen, Herr Lindemann.

Frau Schröder-Ehlers, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Schönecke?

Nein, ich möchte fortfahren.

Das heißt: Wir brauchen erstens eine umfassende Aufklärung des Skandals. Heute konnten wir den Medien ja entnehmen, dass das ML vermutet, dass nicht erst seit März gepantscht wird, sondern schon länger. Es ist also noch viel zu tun. Es muss umfangreich aufgeklärt werden.

Zweitens brauchen wir personelle Konsequenzen. Wir haben heute Morgen gut zugehört, Herr Lindemann: Sie haben sie angekündigt. Wir sind jetzt gespannt darauf, was sich tut.

Drittens brauchen wir ein Kontrollsystem mit mehr Personal beim Land und bei den Kommunen. All die Kürzungen, die dort in den letzten Jahren vorgenommen worden sind, müssen wieder zurückgeführt werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit wir eine Wende erreichen, müssen wir den gnadenlosen Preisdruck stoppen. Wir müssen dem Landwirt klare Rahmenbedingungen geben, unter denen er produzieren kann und die ihn auch wirklich vor Dumping schützen.

Was soll denn ein Landwirt tun, wenn er von Discountern Preise diktiert bekommt, die manchmal nicht einmal seine Kosten decken? Wie lange können denn die von Ihnen und von uns so gewünschten mittelständischen Betriebe in Niedersachsen noch existieren?

Wir hatten einmal 300 000 Betriebe in Niedersachsen. Vor zehn Jahren waren es noch 63 000 Betriebe. Heute sind es nur noch 45 000 Betriebe. Die Fachleute sagen, in wenigen Jahren haben wir noch ungefähr 15 000 Betriebe in Niedersachsen. - Das ist die Entwicklung, und jeder Skandal trägt dazu bei, dass sie sich beschleunigt. Unsere Strukturen sind ausgereizt. Das System ist anfällig und teilweise schon krank. Die Landwirte leiden und geben auf. Der Tierschutz bleibt auf der Strecke. Der Medikamenteneinsatz steigt, der Verbraucherschutz ist in den Sonntagsreden zu finden.

(Ingrid Klopp [CDU]: Das stimmt so nicht!)

Das darf so nicht bleiben, meine Damen und Herren. Dazu steht viel zu viel auf dem Spiel.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir müssen die Abwärtsspirale stoppen und in unserem Land eine Qualitätsoffensive starten.

Niedersachsen muss das Agrarland bleiben mit guten Produkten „Made in Niedersachsen“. Das muss unser Ziel sein. Daran, Herr Lindemann, werden wir Sie messen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Der nächste Beitrag kommt von Frau König von der Fraktion DIE LINKE. Ich erteile Ihnen das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Dieser Tagesordnungspunkt kann ganz einfach unter drei Begriffen zusammengefasst werden: Pleiten, Pech und Pannen.

(Zustimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, der Titel allerdings ist infrage zu stellen. Niedersachsen wird nicht zum Skandalland Nummer eins, Niedersachsen ist das Skandalland Nummer eins. Wer ist dafür verantwortlich? - Die Regierungsspitze, zuerst Herr Wulff und jetzt Herr McAllister.