Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was die heutige Debatte vor allem braucht, sind Sensibilität und professionelle Sachlichkeit.
Der Umgang mit sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen benötigt vor allen Dingen diese Sensibilität. Da gibt es nicht die schnelle Pauschallösung, ein Thema mit vielen Facetten, die Beachtung finden müssen, ein Verhalten, für das es nicht die eine richtige Erklärung gibt. Es bringt überhaupt nichts, laufende Ermittlungsverfahren zu kommentieren, während die Aufklärungsarbeit läuft, ebenso wenig, sich zu Kommentaren hinreißen zu lassen, bevor der Sachverhalt geklärt ist.
Auch Institutionen wie die Kirche sind der staatlichen strafrechtlichen Kontrolle zugänglich, es gibt dort keine rechtsfreien Räume. Ebenso steht die Inobhutnahme durch Jugendämter unter strengen Voraussetzungen.
Meine Damen und Herren, wir reden über Kinder, wir reden über kleine Menschen bis 14 Jahre, wir reden über diejenigen, die auf unser Vorbild, auf unser gelebtes Miteinander, auf unsere Grenzen
angewiesen sind, die sich in vielen Bereichen orientieren und für die wir da sein müssen. Es gilt, solche Vorgänge klar zu benennen und keine Scheu in der Aufklärung zu zeigen. Dies geht - und das sage ich in aller Deutlichkeit - nur mit Sachlichkeit. Emotionen sind hier der falsche Ratgeber. Wenn das Bauchgefühl den Kopf kontrolliert, dann geraten Zahlen, Daten und Fakten im Zweifel in den Hintergrund, und dann kann die Lösung schnell neben dem Problem liegen. Nicht einfach draufhauen und kritisieren, sondern grundsätzlich erst einmal das Problem ergründen.
Meine Damen und Herren, die Forderung, Täter konsequent zu bestrafen, ist gut und richtig. Sie benötigt jedoch zunächst einen Blick in das Gesetz. Wir haben ein System, das die Strafbarkeit von sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, von Kindern, von Jugendlichen kennt, was Strafbarkeiten im Bereich der Kinderpornografie und Jugendpornografie vorsieht. Solche Filme sind Missbrauchsabbildungen, Missbrauchsfotografien, und das ist verboten. Jeder einzelne Fall ist ein Fall zu viel, ist nämlich mindestens ein Kind.
Der Ruf nach strengeren Gesetzen greift hier zu kurz. Wir müssen zunächst die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die bestehenden Gesetze konsequent und schnell angewendet werden können. Dafür brauchen wir neben einer gut ausgestatteten Justiz aber auch den Blick auf die Gesellschaft.
Wir alle sind gefragt hinzusehen. Damit meine ich aber keineswegs Denunziantentum. Ich meine den offenen Blick auf die nähere Umgebung, ich meine, dort, wo Veränderungen auffallen, Zivilcourage zu zeigen, die Beachtung von Grenzen zu fördern. Ich meine, dass unsere Kinder nein sagen dürfen und auch nein sagen müssen. Sie müssen lernen, Gut von Böse, Schlecht von Richtig zu unterscheiden. Und das lernen unsere Kinder durch ihre Bezugspersonen sowohl in den Betreuungseinrichtungen als auch in den Familien.
Meine Damen und Herren, unser Grundgesetz schützt die Familie und den Elternwillen, der mit Recht hochgehalten wird. Der Staat hat hier vorausgesetzt, dass Erziehungsberechtigte - damit meine ich nicht ausschließlich Eltern - grundsätzlich das Wohl des Nachwuchses im Auge haben. Wenn dies aber nicht der Fall ist, dann greift der Schutzauftrag des Staates, dann greift der Staat
Ich habe in der letzten Woche intensive Gespräche mit der Jugendhilfestation meines Wahlkreises geführt. Auch dort gibt es Berichte von Säuglingen, die nachts aus Wohnungen geholt werden, von Kindern, die aus der Schule geplant nicht nach Hause gehen, sondern von einem Netzwerk abgefangen werden, von Lehrern, Erziehern, Beratungsstellen, von Menschen, die sich dort der Hilfe zur Verfügung stellen.
Damit bin ich wieder bei den Stichworten „Kommunikation“ und „Vernetzung“. Diese Themen müssen viel offensiver in unser Bewusstsein gebracht werden. Und ja, wir müssen uns eingestehen, dass es in unserer Gesellschaft Bereiche wie Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch gibt. Auch hierbei muss unser Gedankengang ansetzen. Der Ruf nach ständig neuen Regelungen, nach immer schärferen Gesetzen ist hier verfehlt. Wir müssen uns um die zügige und konsequente Umsetzung unserer bestehenden Regelungen bemühen,
mit einem gesicherten Austausch zwischen den Institutionen und mit einem ganzheitlichen Blick auf das Umfeld.
Meine Damen und Herren, aus unserer Sicht müssen wir das bestehende Netzwerk so optimieren, dass ein Kind bei Auffälligkeiten in den Blick genommen wird. Ein Austausch zwischen den beteiligten Stellen, ohne dass Informationen verlustig gehen, muss sichergestellt sein, und wir müssen schonungslos Aufklärung betreiben. Hinzu kommt, dass wir uns, wenn die Gefahrenlage neutralisiert ist, um die Täter kümmern, dass wir die Haftanstalten so ausgestalten, dass wir Therapiemöglichkeiten, aber auch Sicherungsverwahrung mit allen erforderlichen Mitteln ausgestalten und Geld für Personal sowie auch für die entsprechenden Räume zur Verfügung stellen. Auf diesem Weg sind wir.
Meine Damen und Herren, das Thema ist sensibel. Wir haben es im Blick und sind grundsätzlich auf dem richtigen Weg, aber nichtsdestotrotz darf es nicht in Vergessenheit geraten.
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Fraktionsvorsitzende Piel. Bitte sehr!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu den schrecklichen Vorfällen in Lügde werden täglich neue Details bekannt. Sie machen uns fassungslos. Das Leid der betroffenen Kinder und Jugendlichen existiert aber schon viel länger. Wo sie Obhut suchten, war keine zu finden, wo sie Fürsorge hätten erfahren sollen, wurde ihnen Gewalt angetan, und wo sie Hilfe nötig gehabt hätten, wurde ihr Leid übersehen.
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass dieser Fall jetzt umfassend aufgeklärt wird, dass Täter gefunden, verurteilt und konsequent bestraft werden und dass die Opfer schnell und unbürokratisch die Hilfe erfahren, die sie brauchen.
Die Gewalt in Lügde hätte in diesem Ausmaß verhindert werden können, und sie hätte verhindert werden müssen. Es ist unsere Verantwortung, alles dafür zu tun, dass Kinder und Jugendliche in Zukunft solche Gewalt nicht erfahren müssen. Auch wenn wir erst am Anfang der Erkenntnisse stehen, zeichnen sich doch bereits schwere Versäumnisse bei den Behörden ab: in NordrheinWestfalen, aber einige davon eben auch in Niedersachsen.
Meine Damen und Herren, laut der Polizeilichen Kriminalstatistik gab es im Jahr 2017 knapp 2 000 aktenkundige Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Das sind nur die bekannten Fälle. Sicher gibt es noch viel mehr Kinder und Jugendliche, die Opfer solcher Gewalt werden. Oft ähneln sich die Muster bei solchen Fällen. Viele betroffene Kinder vertrauen sich niemandem an, aus Scham und Angst, aber auch weil sie nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Auch wenn es keine Verdeckung individueller Schuld zugunsten irgendwelcher kollektiven Verantwortung geben darf, reagieren Menschen im Umfeld oft zu spät oder schrecken davor zurück, einen so schlimmen Verdacht zu äußern. In Kitas und Schulen gibt es eine gewisse Sensibilität, aber auch in diesen Einrichtungen ist manchmal unklar, an wen man sich wenden kann, wenn es nur Hinweise gibt oder ein ungutes Gefühl besteht.
Die Täter und Profiteure tun viel, um bei Kinderpornografie unentdeckt zu bleiben. Das scheint in Lügde der Fall gewesen zu sein. Leider ist zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht auszuschließen, dass es in den Institutionen Menschen gab, die zumindest dabei halfen, Dinge unentdeckt zu lassen.
Meine Damen und Herren, wo können wir also ansetzen, und wie können wir dieses schlimme Schweigen brechen? In Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen gibt es viele Experten für Kinderschutz. Hier wie da gibt es Kinderschutzzentren, Runde Tische und Anlaufstellen für Opfer und ihre Angehörigen. Aufgabe muss es jetzt aber sein, die bestehenden Strukturen gemeinsam unter die Lupe zu nehmen und auf mögliche Schwachstellen und Verbesserungspotenziale hin zu überprüfen. Das betrifft auch die Arbeit in den Jugendämtern und die Zusammenarbeit mit den Behörden.
Ich erwarte von dieser Landesregierung - allen voran von Sozialministerin Reimann -, dass sie sich dabei an die Spitze der Bewegung setzt. Es verbietet sich, mit dem Finger auf NordrheinWestfalen zu zeigen, und - erlauben Sie mir den Einschub - es verbietet sich auch, an dieser Stelle zu versuchen, parteipolitischen Nutzen aus Zuweisungen zu ziehen. Damit missbraucht man die Opfer ein zweites Mal.
Meine Damen und Herren, wenn am Ende eines solchen Prozesses Schwachstellen sichtbar werden, dann erwarte ich von dieser Landesregierung, dass sie weder Kosten noch Mühen scheut, um Kinder besser zu schützen. Einerlei, wie man die Expertise aus Polizei, Justiz, Jugendämtern und Kinderschutz zusammenbringt, es muss passieren. Frau Ministerin Havliza hat schon vorgelegt und gestern die Kommission zur Prävention von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gegründet. Ich bitte aber ebenfalls darum - das betrifft übrigens auch die Gespräche mit den Kirchen -, an dieser Stelle auch die Opfer zu Wort kommen zu lassen. Sie müssen ihren Beitrag leisten können, wenn sie das möchten.
Hilfsangebote bringen nämlich nichts, wenn sie nicht angenommen werden. Kinder und Jugendliche müssen wissen, an wen sie sich wenden können, und wir müssen wissen, wie wir das sicherstellen können. In Schleswig-Holstein hat man eine
Anlaufstelle gemeinsam mit jungen Leuten und gemeinsam mit Opfern sexualisierter Gewalt organisiert. Die haben dazu beigetragen, dass man die Angebote so macht, dass sie auch angenommen werden, wenn jemand Hilfe braucht.
Meine Damen und Herren, auch Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, brauchen Unterstützung. Sie müssen in die Lage versetzt werden, Anzeichen von Gewalt gegen Kinder früh zu erkennen. Viele pädagogische Fachkräfte sind bereits geschult worden, aber die Prävention von Gewalt gegen Kinder muss in allen Einrichtungen strukturell verankert werden, nicht nur in Schulen und Kitas, sondern auch in Vereinen.
Auch wenn es an dieser Stelle eine individuelle Schuld ist, tragen wir letztlich alle dafür Verantwortung, was mit Kindern und Jugendlichen geschieht. Keine Verurteilung und keine Strafe werden das Unrecht wiedergutmachen können, das den Opfern in Lügde widerfahren ist. Kein Versagen, kein Wegschauen ist durch irgendeine Entschuldigung zurückzuholen. Aus diesen Fällen zu lernen, was wir besser machen können, ist das Mindeste, was wir tun können.
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion Herr Kollege Dr. Genthe. Bitte, Herr Kollege!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der sexuelle Missbrauch eines Kindes gehört sicherlich zu den schlimmsten Verbrechen, die ein Mensch einem anderen Menschen antun kann. Die Betroffenen sind fast immer für ihr Leben gezeichnet und in der Folge kaum in der Lage, eine erfüllende und vertrauensvolle Beziehung zu einem anderen Menschen aufzubauen. Es ist daher richtig, dass in den vergangenen 20 Jahren die Strafbarkeit mehrfach verschärft wurde. Dabei wurden nicht die Strafen erhöht, sondern auch die Tatbestände erweitert. Jetzt wird es darauf ankommen, auch
Die FDP-Fraktion hat einen Entschließungsantrag eingebracht, mit dem die Landesregierung u. a. aufgefordert werden soll, sich im Bundesrat für eine Erhöhung des Strafrahmens einzusetzen. Zu diesem Antrag hat es bereits eine Unterrichtung im Rechtsausschuss gegeben. Nunmehr hat auch die Bundestagsfraktion der CDU/CSU ein sehr interessantes Positionspapier zu diesem Thema veröffentlicht.
Meine Damen und Herren, die Anzahl solcher Straftaten ist in den letzten Jahren im Prinzip gleich geblieben. Aber viele Bürger wurden zu Recht durch die aktuellen Vorkommnisse aufgeschreckt und auf dieses Thema aufmerksam. Zu diesen Vorkommnissen gehört der schon angesprochene Vorfall im Landkreis Hameln-Pyrmont. Da fragt man sich wirklich, was in diesem Landkreis los ist. Was ist in diesem Jugendamt, und was ist auch bei den dortigen Ermittlungsbehörden falsch gelaufen? - Mich jedenfalls lässt das völlig fassungslos zurück.
Die Politik reagiert auf solche Vorkommnisse gerne mit Gesetzesverschärfungen. Die Erhöhung des Strafrahmens des § 176 Abs. 3 StGB im Falle des besonders schweren Falles des sexuellen Missbrauchs von Kindern, die Erhöhung des Strafrahmens des § 176 a Abs. 2 und 3 StGB im Falle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und die Erhöhung des Strafrahmens des § 184 b Abs. 3 StGB im Falle des Besitzes von Kinderpornografie sind richtig und notwendig - aber das darf nicht alles sein, meine Damen und Herren. Ein potenzieller Täter schaut nämlich nicht erst ins Bundesgesetzblatt, bevor er seine Tat begeht. Es reicht daher nicht, sich auf Gesetzesverschärfungen zu beschränken. Potenzielle Täter müssen von möglichen Straftaten abgeschreckt werden. Es muss aber auch die Tatausführung erschwert werden, und das Risiko, entdeckt zu werden, muss möglichst hoch sein.