Protokoll der Sitzung vom 27.03.2019

Die Diskussion um die Wahlrechtsausschlüsse zeigt ganz deutlich, dass die Barrieren in den Köpfen einiger noch schwieriger zu überwinden sind als so mancher Bordstein mit dem Rollstuhl. Das erleben wir auch in Niedersachsen, wo sich die Landesregierung monatelang nicht darauf einigen kann, wie sie das Bundesteilhabegesetz genau umsetzen wird. Auch zum Behindertengleichstellungsgesetz wird offenbar ein Gesetz geplant, in dem Bedenken die Hauptinhalte sind und in dem nicht die Vision entsteht, dass Inklusion wirklich etwas Gutes für alle Menschen ist.

Meine Damen und Herren, Inklusion ist ein Menschenrecht. Das ist nicht verhandelbar.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was wir hier in Niedersachsen brauchen, ist eine Landesregierung, die mit Mut und Entschlossenheit vorangeht, die dabei auch Barrieren überwindet und die der Inklusion eine Richtung gibt.

Sehr geehrte Frau Ministerin Reimann, wir haben Ihnen mit unserem Gesetzentwurf in diesem Fall gerne auf die Sprünge geholfen, auch Ihren eigenen Koalitionsvertrag zu erfüllen. Für die Zukunft erwarten wir aber ein bisschen mehr von Ihnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Piel. - Für die Fraktion der SPD hat sich der Kollege Bernd Lynack gemeldet. Herr Lynack, ich erteile Ihnen das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wontorra! Dass wir jetzt endlich dazu kommen, Menschen mit Behinderungen nicht mehr pauschal zu stigmatisieren und sie de facto von unserem Wahlrecht und unserer demokratischen Willensbildung auszuschließen, ist ein großer, vor allem aber längst überfälliger Schritt.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Bis heute haben wir es hingenommen, dass Menschen, die unter Betreuung stehen, per se von unserem Wahlrecht ausgeschlossen wurden. Allein in Niedersachsen konnten deshalb rund 10 000 Menschen nicht an der Wahl zu diesem Landtag teilnehmen. Anja Piel hat das vorhin ausgeführt.

Ein Wahlrechtsausschluss ist ein sehr schwerer Eingriff in die persönlichen Rechte eines jeden Menschen, schließen wir doch diese Personen vollends von unserer demokratischen Willensbildung aus. In einer parlamentarischen Demokratie wie der unsrigen sind aktives wie auch passives Wahlrecht Herzstück und Grundlage unseres Zusammenlebens. Zu Recht heißt es schließlich: Alle Macht geht vom Volke aus.

Um unsere allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen werden wir zu Recht von vielen Menschen und Nationen auf dieser Welt beneidet. Was dabei auf den ersten Blick nicht offenbar wird, ist: Auch bei uns gibt es noch einigen Verbesserungsbedarf. Der unrechtmäßige Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Behinderungen ist - wie vom Bundesverfassungsgericht bestätigt - ein Verstoß gegen den Grundsatz der allgemeinen Wahl.

Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt die seit Jahren im Raum stehende Kritik vieler Interessenverbände bestätigt. Nur weil Menschen eine dauerhafte Betreuung benötigen, besteht kein hinlänglicher Grund, ihnen ihre Rechte leichtfertig zu verwehren. Wir müssen auch bei Wahlen grundsätzlich dasselbe Recht für alle anwenden und dürfen Menschen mit einer Behinderung nicht auf diese reduzieren. Das verlangt nicht nur die UN-Behindertenrechtskonvention, das verlangen vor allem auch die Menschlichkeit und der Respekt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Es ist schlicht nicht zu erklären, dass Menschen pauschal die Fähigkeit abgesprochen wird, wählen zu können. Das führt zu skurrilen Situationen, dass sich beispielsweise eine junge politikinteressierte Frau mit Lernbehinderung und Sprachproblemen mit ihrer Betreuungsperson intensiv über Politik austauschen kann, aber nicht wählen darf, während jemand, der frühzeitig eine Vorsorgevollmacht für sich bestimmt hat und danach beispielsweise an Demenz erkrankt ist, immer noch sein Kreuzchen machen darf oder zumindest jemand für ihn ein Kreuzchen machen darf. Das ist absurd!

Es ist höchste Zeit, heute endlich diese Wahlrechtsänderung auf den Weg bringen, damit bereits bei

den anstehenden Wahlen am 26. Mai 2019 alle diejenigen wählen können, die das auch wollen.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Fraktionen für die gute und vor allem konstruktive Zusammenarbeit und insbesondere für die schnelle Beratung und Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedanken. Es war richtig und wichtig, dass wir uns in den Beratungen auf eine Beschlussfassung nach Verkündung des Urteils aus Karlsruhe verständigt haben, um für die Betroffenen ein Höchstmaß an Rechtssicherheit zu erzielen.

Zum Schluss sage ich Danke all denjenigen, die sich seit Jahren für die Rechte für Menschen mit Behinderungen eingesetzt und auf die Änderung des Wahlrechts gedrungen haben. Stellvertretend danke ich unserer Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen, Petra Wontorra. Frau Wontorra, haben Sie recht herzlichen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz!

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Ich freue mich sehr, dass wir gleich einen längst überfälligen Beschluss für ein Mehr an Teilhabe an unserer Demokratie im Sinne einer gelebten Inklusion, im Sinne unserer Verfassung, im Sinne der Menschlichkeit und des Respekts und des Zusammenhalts in unserem Land fassen werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie Zustim- mung bei der CDU und bei den GRÜ- NEN - Unruhe)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Lynack. - Jetzt ist die CDU-Fraktion an der Reihe. Es spricht Herr Abgeordneter Sebastian Lechner, dem ich jetzt das Wort erteile, aber nur, wenn Ruhe einkehrt. Im Saal ist eben ein bisschen zu viel Unruhe gewesen.

Bitte sehr!

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist auch für die CDU-Fraktion ein sehr schönes Zeichen, dass wir heute, zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention, für alle Menschen, die unter Betreuung in allen Angelegenheiten stehen, aber auch für alle Menschen, die eine Straftat im Zustand der Schuldun

fähigkeit begangen haben und in die Psychiatrie eingeliefert worden sind, den pauschalen Wahlrechtsausschluss abschaffen. Das ist ein wunderbares Zeichen und eine gute Sache.

(Beifall bei der CDU und Zustimmung von Anja Piel [GRÜNE])

Das bedeutet jedoch nicht die Einführung des inklusiven Wahlrechts; denn die meisten Menschen mit Behinderung dürfen heute schon wählen und können gewählt werden. Der Wahlrechtsausschluss betrifft über 10 000 Menschen. Für diese Menschen ist es wirklich ein tolles Zeichen der Inklusion und der Integration.

Wir als SPD und CDU setzen hier konsequent unseren Koalitionsvertrag um, in dem das nämlich schon steht. Deswegen danke ich unserem Koalitionspartner. Dass wir heute dieses Zeichen setzen können, ist eine gute und gerechte Sache.

(Beifall bei der CDU und Zustimmung bei der SPD)

Es war aber auch richtig, auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu warten. Denn das Bundesverfassungsgericht hat uns nicht nur in diesem Urteil, sondern auch in anderen Urteilen beauftragt, einen Ausgleich zu finden zwischen der Sicherung des allgemeinen Wahlrechtsgrundsatzes, dass möglichst alle wählen können, und der Sicherung einer ordnungsgemäßen Wahl. Damit ist gemeint, dass nur diejenigen an der Wahl teilnehmen dürfen, die zumindest die Einsichtsfähigkeit haben, am Kommunikationsprozess in einer Demokratie teilnehmen zu können. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht Wahlrechtsausschlüsse nicht pauschal für illegitim erklärt, sondern gesagt, dass sie nicht gleichheitswidrig sein dürfen.

Das Problem bestand insbesondere in dem Erforderlichkeitsgrundsatz im Betreuungsrecht. Das bedeutet: Wenn ich einen Betreuungsbeschluss erlasse, muss dieser auch erforderlich sein. Nun gab es Menschen, bei denen die Familie die Betreuung übernommen hat, und es gab Menschen, bei denen die Familie die Betreuung nicht übernehmen konnte. In dem einen Fall war es erforderlich, einen Betreuungsbeschluss zu erlassen, in dem anderen Fall war es das nicht. In dem einen Fall ging das Wahlrecht verloren, in dem anderen Fall nicht. Daran sieht man schon: Das ist eine offenbare Gleichheitswidrigkeit. Es ist gut, dass wir sie heute abschaffen.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Jetzt könnte man argumentieren: Man hätte sich auch die Mühe machen können, eine neue Regelung zu konzipieren, um die Wahlrechtsausschlüsse verfassungsgemäß zu gestalten. - Dafür hat uns das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil jedoch einige Anforderungen auf den Weg gegeben. Wenn man Typisierungen vornimmt, müssen die damit verbundenen Härten und Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten zu vermeiden sein, es muss eine verhältnismäßig kleine Zahl an Menschen betroffen sein, und das Ausmaß der Ungleichbehandlung darf nur klein sein.

Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, ob man das anwenden kann oder nicht. Man muss fairerweise feststellen: Die persönlichen Situationen, in denen sich die Betroffenen befinden, sind hinsichtlich ihres Betreuungsbedarfs sowie ihres physischen und psychischen Zustands so unterschiedlich, dass man keine gesetzliche Typisierung treffen kann.

Insofern ist es richtig, die Wahlrechtsausschlüsse nur noch auf die Entscheidung des Richters zu begrenzen. Der Richter wird in Zukunft aufgerufen sein, im Rahmen eines Betreuungsbeschlusses auch über das aktive und passive Wahlrecht zu entscheiden. Der Richter kann eine Einzelfallentscheidung treffen und beurteilen, ob der zu Betreuende wahlrechtsfähig ist oder nicht. Das ist eine individualisierte Entscheidung. Das ist der richtige rechtliche Weg. Insofern ist es gut und angemessen, dass wir ihn heute gehen.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD sowie Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir müssen aber auch darauf achten - auch das ist Auftrag aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts -, dass Missbrauch ausgeschlossen ist. Wir alle miteinander wollen, dass diejenigen, denen wir heute das Wahlrecht zugestehen, es auch praktisch ausüben können.

Aus diesem Grund sollten wir uns überlegen, wie die praktische Ausübung des Wahlrechts in Zukunft sein soll, und eventuell auch im Rahmen der Wahlordnung sicher- und klarstellen, was eine zulässige Wahlassistenz ist und was eine unzulässige Stellvertreterwahl ist. Die CDU-Fraktion ist der Meinung, dass wir auch im Strafrecht - und zwar in § 107 a StGB - eine Konkretisierung vornehmen sollten. Damit wollen wir dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts gerecht werden, Missbrauch zu vermeiden. So bedarf es einer Konkretisierung, wonach im Fall einer Wahlrechtsassistenz die Verfälschung von Wahlrechtsstimmen ganz klar ein

strafrechtlicher Verstoß ist. Das kann eine abschreckende Wirkung haben, die aus unserer Sicht notwendig und richtig ist.

(Beifall bei der CDU)

Man könnte jetzt einwenden: Warum habt ihr nicht gewartet, bis dieser Grundsatz kodifiziert und sichergestellt ist? - Wir haben deswegen nicht gewartet, weil für uns völlig klar ist, dass die allermeisten Betreuer oder Dritte sehr verantwortungsvoll mit ihrer Wahlassistenz umgehen werden und die Grenzen zur unzulässigen Stellvertreterwahl nicht übertreten werden. Insofern war es uns in der Abwägung viel wichtiger, diese Wahlrechtsreform zügig umzusetzen, weil nämlich am 26. Mai eine Wahl ansteht - über 100 kommunale Hauptverwaltungsbeamte werden gewählt - und wir den Betroffenen das Recht geben wollten, dann schon zu wählen. Deswegen haben wir uns einen wirklich schnellen Prozess ausgedacht. Die Ausschüsse haben parallel getagt, wir haben uns innerhalb von zwei Wochen mit der Bundesebene abgestimmt, wir haben den GBD eine Vorlage vorbereiten lassen, wir haben das Urteil gewürdigt und ausgewertet und am Ende, so denke ich, eine gute und sorgfältige Beschlussempfehlung erarbeitet.

Insofern sind wir meiner Meinung nach auf dem richtigen Weg. Am 26. Mai werden viele Menschen erstmals wählen können. Das ist ein guter Tag für die Demokratie. Mögen sie ihr Wahlrecht gern, eigenständig und verantwortungsvoll ausüben!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Lechner. - Jetzt wäre Herr Kollege Jan-Christoph Oetjen, FDP-Fraktion, an der Reihe. Bitte sehr!

(Jan-Christoph Oetjen [FDP]: Bin ich auch an der Reihe?)

- Sie realisieren es inzwischen durch Anwesenheit am Rednerpult, und jetzt geht es los.

Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen, verehrte Kollegen! Nicht über uns, sondern mit uns! Das fordern Menschen mit Behinderung oft ein. Heute ist der Tag, an dem wir das wahrmachen. 10 000 Menschen - Anja Piel hat es gesagt - werden Erstwähler und können mitentscheiden, können mit uns und nicht gegen uns

entscheiden. Ich bin froh, dass dieser Grundsatz in Niedersachsen schon zu den Wahlen am 26. Mai Wirklichkeit wird.