Protokoll der Sitzung vom 19.06.2019

- Einen Moment, bitte, Herr Minister! - Ich darf um etwas Aufmerksamkeit bitten. - Danke, Herr Dr. Birkner.

Bitte, Herr Minister!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Wochen ist viel über das nun vom Bundestag beschlossene Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht diskutiert worden. Das ist richtig und wichtig; denn das Gesetz ist ein wichtiger Schritt im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik.

Gerade weil es ein so wichtiges Thema ist, sollte sich jede und jeder davor hüten, zu polemisieren und leichtfertig zuzuspitzen. Die Ereignisse der letzten Wochen haben deutlich gemacht, wohin das führen kann.

Wenn ich mir den Titel dieser Aktuellen Stunde anschaue, dann scheinen allerdings nicht alle diese Meinung zu teilen. Bevor ich in meiner Rede auf die Inhalte im Einzelnen eingehe, sage ich an die Kolleginnen und Kollegen und Freundinnen und Freunde von den Grünen gerichtet: Nicht jede Zuspitzung hilft der inhaltlichen Auseinandersetzung über eine notwendige Frage.

(Christian Meyer [GRÜNE]: Was war denn mit Herrn Schünemann? - Zuruf von Helge Limburg [GRÜNE])

Der Titel dieser Aktuellen Stunde war mit Sicherheit keine glückliche Wahl - so viel will ich mal sagen.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von der CDU)

Ich möchte die Inhalte dieses Gesetzes in den Vordergrund stellen.

Das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht ist ein Kompromiss. Es ist ein Kompromiss, mit dem ich leben kann. Ich bin allerdings der Auffassung, dass bei diesem Gesetzesvorhaben zu sehr auf das Tempo gedrückt wurde. Es wäre besser gewesen, noch ein wenig mehr Raum für Diskussionen zu lassen.

Umso wichtiger ist für mich Folgendes - darauf will ich sehr deutlich hinweisen, weil das in der Beschreibung dessen, was hier geschehen ist, gerne übersehen wird -: Schon unmittelbar nach Vorlage des ersten Referentenentwurfs haben wir, die A-Länder, Kritik und Änderungswünsche vorgetragen und auch durchbringen können. Es ist uns dadurch gelungen, den ursprünglichen Entwurf an wichtigen Punkten zu entschärfen. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass bei diesem Gesetz am Ende nicht überzogen wird. Gleichzeitig ist ein Gesetz entstanden, das in einigen Fragen zu Verbesserungen bei Abschiebungen führen kann. Ich nenne einige Beispiele:

Die ursprünglich geplante Regelung zu einer „Duldung light“ wurde sehr deutlich abgeschwächt; Marco Genthe hat darauf hingewiesen. Im Kern geht es jetzt darum, sich auf diejenigen zu konzentrieren, die durch Täuschung oder mangelnde Mitwirkung bei der Identitätsklärung oder Passbeschaffung ihre Abschiebung selbst verhindern. Unter die ursprüngliche Regelung wären beispielsweise auch all diejenigen Menschen gefallen, die irgendwann einmal falsche Angaben gemacht haben. Jetzt hingegen sind die Voraussetzungen, wann die Betroffenen wieder eine normale Duldung bekommen können, klar definiert. Es gibt also einen Weg zurück und damit letztlich auch Perspektiven für ein Bleiberecht. Die Betroffenen haben dann auch Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Integrationsmaßnahmen. Und genau das sind die Maßnahmen, die erforderlich sind, um ein Prekariat von Flüchtlingen zu verhindern, meine Damen und Herren! Es ist richtig, dass Ausländerinnen und Ausländer bisheriges Fehlverhalten bei der Identitätsklärung korrigieren können, indem sie Mitwirkungshandlungen nachholen. Das heißt, Sanktionen fallen weg, und sie haben wieder eine volle Duldung.

Zudem war im ersten Entwurf eine Art Beugehaft vorgesehen, die wir von Anfang an als unverhältnismäßig und ineffektiv zurückgewiesen haben. Stattdessen gibt es im Gesetz jetzt nur noch eine sogenannte Mitwirkungshaft. Diese Mitwirkungshaft kann überhaupt nur in sehr, sehr seltenen Einzelfällen zum Einsatz kommen, nämlich dann, wenn sich Personen ihrer Mitwirkungspflicht zur Identitätsklärung entziehen. Konkret soll die Mitwirkungshaft es z. B. ermöglichen, sie einer Expertenanhörung zuzuführen.

Zwei Bemerkungen zur Abschiebungshaft, wie es übrigens korrekt heißt: Sie ist erstens keine Strafhaft, und jeder, der fahrlässig etwas anders be

hauptet, verdreht die Wahrheit. Es ist keine Strafhaft, die hier vorgesehen ist, sondern es ist eine Abschiebungshaft. Und zweitens ist Niedersachsen von der Regelung, die der Bund getroffen hat, überhaupt nicht betroffen; denn wir haben 48 Abschiebungshaftplätze, die wir übrigens immer wieder und gerne auch Bundesländern zur Verfügung stellen, die keine eigenen Abschiebungshaftplätze haben. Ich weiß also gar nicht, wohin die Diskussion hier führen soll.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Die Dis- kussion soll verhindern, dass es zu einem rechtswidrigen Gesetz kommt!)

Eine weitere Anmerkung: In Niedersachsen wurde und wird auch in Zukunft keine Familie in Abschiebungshaft genommen - anders als in anderen Bundesländern. Auch das will ich noch einmal deutlich sagen, meine Damen und Herren.

(Zustimmung bei der SPD - Helge Limburg [GRÜNE]: Jetzt widerspre- chen Sie Herrn Schünemann!)

Ich will hier nur daran erinnern, dass ich schon seit meinem Amtsantritt im Jahr 2013 immer von den zwei Seiten der Flüchtlingspolitik gesprochen habe. Das können Sie nachlesen; auch Herr Limburg kann das nachlesen. Auf der einen Seite ist es notwendig, richtig und geboten, denjenigen, die einen Schutzanspruch haben, die vor Krieg, Gewalt und Verfolgung fliehen, den nötigen Schutz und eine Bleibeperspektive zu bieten. Dazu gehören natürlich auch intensive Bemühungen um Integration. Aber auf der anderen Seite - auch das habe ich als Minister schon seit 2013 gesagt - müssen wir auch diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, in ihre Heimatländer zurückführen. Das gilt übrigens erst recht für diejenigen, die schwere Straftaten begangen haben.

Das sind die eindeutigen Anforderungen, die der Rechtsstaat an uns stellt und denen wir gerecht werden müssen, meine Damen und Herren. Diese Aufgabe müssen wir wahrnehmen, und zwar so humanitär wie möglich und so konsequent wie nötig. Das hat schlicht und einfach auch etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun.

Viele der nun beschlossenen Regelungen greifen an den Stellen, an denen es deutliche Schwierigkeiten gibt. Dazu gehört, dass Abschiebungen immer wieder daran scheitern, dass die Betroffenen nicht angetroffen wurden, ihre Papiere nicht vorhanden waren oder sie nicht ausreichend oder gar nicht bei ihrer Identitätsklärung mitgeholfen

haben. Das Gesetz sieht nun klare Regelungen vor. Es wurden beispielsweise gesetzliche Mitwirkungspflichten bei der Identitätsklärung und der Passbeschaffung weiter konkretisiert. Künftig wird dadurch - anders als bisher - klar und rechtssicher unterschieden zwischen denen, die bewusst ihre Identität verschleiern, und denen, die unverschuldet in dieser Situation sind. Das ist dann eine Frage der Fairness.

Natürlich gibt es auch Punkte, die ich mir im Ergebnis anders gewünscht hätte, oder die mir, um es deutlich zu sagen, nicht gefallen. Die Einstellung von Leistungen nach zwei Wochen an Ausländerinnen und Ausländer, die in anderen EUMitgliedstaaten eine Schutzanerkennung haben, ist hierfür ein Beispiel. Frau Schröder-Köpf hat es komplett richtig dargestellt. Nach zwei Wochen bekommen diese Menschen keine Leistungen mehr, nur noch in Härtefällen. Das ist die klare gesetzliche Regelung. Ich halte sie für falsch. Ich halte sie auch für verfassungsrechtlich sehr bedenklich, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Christian Meyer [GRÜNE]: Da soll Schünemann mal seine Un- wahrheit zurücknehmen!)

Ich will aber auch darauf hinweisen - weil hier der Eindruck erweckt wird, wir blieben untätig -: Wir haben im Innenausschuss des Bundesrats einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, der aber leider keine Mehrheit gefunden hat. Seien Sie sicher: Ich werde jetzt dafür eintreten, dass bei der verwaltungspraktischen Anwendung der Spielraum genutzt wird, der zur Verfügung steht.

Meine Damen und Herren, das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht ist nur ein Element dieses Gesetzespakets. Mit diesem Paket bin ich insgesamt einigermaßen zufrieden, und das nicht nur, weil wir in vielen Punkten eine Verbesserung des Vollzugs bei Rückführungen erreichen können, gleichzeitig aber auch faire und verlässliche Bedingungen schaffen, die in Deutschland um Aufnahme bitten.

Erstmals, meine Damen und Herren, in der Geschichte Deutschlands gibt es ein echtes Einwanderungsgesetz. Das ist ein Meilenstein der Migrationspolitik. Es ist höchste Zeit, dass sich durch dieses Gesetz die politischen Ansichten der Realität anpassen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist das klare gesetzliche Bekenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und Einwanderung aktiv steuern und gestalten muss. Wir schaffen viele wichtige Regelungen für die Menschen, die zu uns kommen wollen, um zu arbeiten. Das ist ein wichtiger und aus sozialdemokratischer Sicht längst überfälliger Schritt.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, natürlich ist es legitim, wenn Sie als Opposition dieses Gesetz und die Dinge insgesamt anders sehen als die Landesregierung.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Das ist aber generös! - Anja Piel [GRÜNE]: Das brauchen Sie uns nicht zu sagen! - Gegenruf von Wiard Siebels [SPD]: Und wenn er das nicht sagt, ist wieder Alarm!)

- Ach, seien Sie doch nicht so empfindlich! Ich bin doch ganz ruhig mit Ihnen.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Ich sage aber noch einmal: Auch Abschiebungen gehören zu einer verantwortungsvollen Politik, ob uns das gefällt oder nicht. Wir müssen gewährleisten, dass die Akzeptanz für eine humanitäre Flüchtlingspolitik, wie wir sie gemeinsam verstehen, erhalten bleibt.

(Zuruf von Anja Piel [GRÜNE])

Das, liebe Frau Piel, sehen übrigens auch viele Ihrer Parteikollegen so, zumindest diejenigen, die in anderen Ländern Regierungsverantwortung tragen. Sogar Ihre Bundesvorsitzende Annalena Baerbock hat eingeräumt, dass geltendes Recht angewandt und auch bei Rückführungen der Rechtsstaat durchgesetzt werden müsse. Auch das grün regierte Baden-Württemberg folgt dieser Linie.

(Anja Piel [GRÜNE]: Das ist doch gar nicht strittig! Das ist nicht der Punkt, Herr Pistorius! - Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Erst Ende des letzten Jahres hat die Ministerpräsidentenkonferenz einstimmig einen Beschluss zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik gefasst. Mit diesem Beschluss hat sich auch der grüne Ministerpräsident Kretschmann für eine deutliche Verschärfung des Ausweisungsrechts und eine konsequente Anwendung von Leistungskürzungen sowie für erweiterte Möglichkeiten zur Klärung und

Feststellung der Identität ausgesprochen. Auch in Hessen sind die in Regierungsverantwortung stehenden Grünen in dieser Hinsicht ziemlich unmissverständlich. Auch hier gilt offenbar: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, je nach dem, auf welchem Stuhl man in einem Parlament Platz nimmt.

Das zeigt doch, wie komplex und vielschichtig das Thema ist! Beim Thema Flüchtlingspolitik ist niemandem geholfen, wenn wir in dieser wichtigen Frage pauschalieren, polemisieren und dringende Handlungsbedarfe ignorieren. Nicht der Politik nützt das, nicht den vielen Menschen, die sich für Flüchtlinge und Asylbewerber einsetzen, und erst recht nicht den Menschen, die zu uns kommen.

Lassen Sie uns deshalb bitte weiter an der Sache arbeiten! Lassen Sie uns weiter nach den Vorgaben handeln, die der Rechtsstaat macht, so wie wir es seit Jahren in Niedersachsen tun. Davon werden wir - so viel kann ich sagen - auch in Zukunft keinen Millimeter abweichen. Niedersachsen wird seiner humanitären Linie in der Flüchtlingspolitik weiter treu bleiben und sich weiter an dem Prinzip der Ausgewogenheit und der Besonnenheit orientieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister Pistorius. - Noch einmal um das Wort gebeten, nach § 71 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung, hat Herr Kollege Onay. Herr Minister Pistorius hat um fünf Minuten überzogen. Die gleiche Redezeit erhalten auch Sie. Bitte!

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte erst einmal fest, dass sich Herr Kollege Schünemann den Satz des Kollegen Schäfer-Gümbel zu Eigen gemacht hat, der einen Bezug zwischen Grünen und AfD hergestellt hat. Das werden wir für die weitere Diskussion in Erinnerung behalten.

Aber ich greife auch gerne Ihren Hinweis zum Populismus auf. Sie haben uns hier Populismus vorgeworfen.

(Jens Nacke [CDU]: Wir besprechen das dann im Ältestenrat! - Gegenruf von Helge Limburg [GRÜNE]: Hör mal zu, Jens!)

Denselben Vorwurf müssten Sie dann im Grunde auch der Menschenrechtskommissarin des Europarats machen; denn auch sie hat sich in die Debatte im Bundestag eingeschaltet, und zwar mit der Sorge, dass die Meinungsfreiheit und die soziale Bindung der Menschen massiv bedroht sind. Sie hat genau dieselben Kritikpunkte angebracht, die auch ich hier angebracht habe.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zu der Kritik an der Regelung zu den Sozialleistungen, die Frau Schröder-Köpf hier noch einmal sehr gut dargestellt hat - nämlich das Herabsetzen auf null -, möchte ich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 hinweisen, das ich eben schon erwähnt habe: Das Existenzminimum lässt sich nicht migrationspolitisch relativieren, meine sehr geehrten Damen und Herren. Aber genau das geschieht eben mit diesem Gesetz!