Protokoll der Sitzung vom 30.06.2020

Danke schön, Herr Kollege Wichmann. - Ich rufe als nächsten Redner Dr. Marco Genthe von der FDP-Fraktion auf. Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der sexuelle Missbrauch eines Kindes ist sicher das schlimmste Verbrechen, das ein Mensch einem anderen Menschen überhaupt nur antun kann. Die Betroffenen sind fast immer für ihr ganzes Leben

gezeichnet und kaum in der Lage, eine erfüllte und vertrauensvolle Beziehung zu einem anderen Menschen aufzunehmen.

Es ist daher ganz sicher richtig, dass in den letzten 20 Jahren die Strafbarkeit dieser Taten stetig erhöht worden ist. Aber es wurden nicht nur die Strafen erhöht, sondern auch die Tatbestände erweitert. Hierbei ist es dann auch wichtig, relativ neue Phänomene wie die sexuelle Belästigung über das Internet in die Gesetzeslage mit einzuarbeiten.

Die FDP-Fraktion hat bereits einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht, der die Landesregierung auffordert, hinsichtlich der Strafbarkeit über den Bundesrat dann auch initiativ zu werden. Zu diesem Antrag hat es bereits eine Unterrichtung durch die Landesregierung im Rechtsausschuss gegeben.

Auch die Bundestagsfraktion der CDU hat inzwischen ein sehr interessantes Positionspapier dazu vorgelegt.

Meine Damen und Herren, die Erhöhung des Strafrahmens des § 176 Abs. 3 StGB im Falle des besonders schweren Falles des sexuellen Missbrauchs, die Erhöhung des Strafrahmens des § 176 a Abs. 2 und 3 StGB im Falle des schweren sexuellen Missbrauchs und die Erhöhung des Strafrahmens für den Besitz von Kinderpornografie gemäß § 184 b Abs. 3 StGB sind sicher richtig und notwendig. Das, meine Damen und Herren, darf aber nicht alles sein. - Der Kollege Schünemann ist hauptsächlich an diesem Punkt stehengeblieben.

Ein potenzieller Täter schaut eben nicht in das Bundesgesetzblatt, ob sich da in der letzten Zeit irgendetwas getan hat, bevor er seine Tat begeht. Es reicht daher nicht, sich auf solche Gesetzesverschärfungen zu beschränken.

(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Potenzielle Täter müssen von möglichen Strafen abgeschreckt werden. Es muss auch die Tatausführung erschwert werden. Und das Risiko, entdeckt zu werden, muss möglichst hoch sein.

Aus diesem Grund geht unser Antrag auch deutlich über Gesetzesverschärfungen hinaus. Die Verurteilung von Tätern scheitert fast nie an den Gesetzen, sondern an der Praxis. Deshalb muss die Personalsituation bei den Staatsanwaltschaften und bei der Polizei, die sich mit der Verfolgung des Missbrauchs von Kindern befassen, deutlich verbessern werden.

Es müssen Lösungen für Situationen gefunden werden, in denen irrsinnig große Datenmengen vorliegen, die nicht rechtzeitig ausgewertet werden können. Solche Situationen dürfen nicht dazu führen, dass Straftaten verjähren oder Täter abtauchen. Insoweit begrüßen wir sehr die Fortschritte, die in Niedersachsen im Innenministerium gemacht worden sind, um die automatische Sichtung dieser Daten voranzutreiben.

Zudem müssen Netzwerke geschaffen werden, um den Austausch zwischen Kinderärzten, Jugendämtern, Schulen und anderen wesentlich besser zu organisieren. Mögliche Taten dürfen nicht verdeckt bleiben.

Am besten ist es jedoch, wenn es gar nicht erst zu einer Tatausführung kommt. Deshalb liegt der dritte Schwerpunkt unseres Entschließungsantrags bei der Prävention. Ein gesundes Selbstbewusstsein und das Wissen, wo man sich im Zweifel Hilfe holen kann, ist ein wichtiger Schutz für Kinder. Ziel muss es sein, die Gesamtpersönlichkeit der Kinder zu stärken und sie dabei zu unterstützen, Grenzüberschreitungen wahrzunehmen und dann auch zu benennen.

Meine Damen und Herren, wir haben uns in diesem Landtag schon mehrfach mit dieser Thematik auseinandergesetzt, und wir werden das im Laufe dieser Plenumswoche - hinsichtlich der Verjährung - ja auch noch einmal tun. Es wird Zeit, dass endlich konkrete Ergebnisse entstehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Genthe. - Es folgt jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kollegin Susanne Menge. Frau Menge, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Hilft es in der Debatte um Kindesmissbrauch und Kindesgebrauch - den Begriff „Kindesgebrauch“ benutze ich absichtlich; denn wer ein Kind im Internet anbietet und es damit auf ein Objekt zur Benutzung reduziert, gebraucht und missbraucht es zur Befriedigung sexueller und wirtschaftlicher Interessen -, das scharfe Schwert der Strafe zu nutzen, und löst dieses scharfe Schwert alle Probleme, die sich in der Gesellschaft

abbilden - z. B. aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen? Ganz sicher müssen wir auch auf die kulturelle Basis gucken, wie wir mit unseren Kindern umgehen und wie wir sie wertschätzen.

(Vizepräsidentin Petra Emmerich- Kopatsch übernimmt den Vorsitz)

Der Missbrauchsbeauftragte des Bundes, Rörig, fordert eine Sonderkommission des Bundes, in die er unbedingt auch den Betroffenenrat einbeziehen möchte. Er fordert die Einführung des „minderschweren Falls“ in das Strafrecht und macht damit deutlich, dass wir längst nicht auf dem Niveau sind, dass wir allem, was wir in dieses schwierige Thema einbeziehen müssen, mit einer Straferhöhung begegnen können. Auch ich bezweifele, dass das möglich ist.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und von Dr. Marco Genthe [FDP])

Europol spricht von 100 000 Fällen von sexuellem Missbrauch im Monat. Im März sei diese Zahl auf 1 Million angestiegen. Und wenn sie im Mai wieder sinkt, dann heißt das doch, dass wir uns die Bewertung erlauben dürfen, dass sie Corona-bedingt angestiegen ist. Das wäre in der Auseinandersetzung mit Missbrauchsfällen ein Signal an uns.

Wir haben offenbar ein Problem mit gesellschaftlichen Bedingungen, mit unserer Sexualität, mit der Fürsorge für Schutzbefohlene und vielleicht auch mit der Aufgabe von Eltern, Kinder zu begleiten und zu beschützen. Ein Kind kann Grenzen nicht als selbstverständlich akzeptieren und sein Erwachsensein und seine Sexualität nicht erleben, wenn es die ekelerregende Erfahrung machen musste, dass sein Körper benutzt wurde - zumeist von den eigenen Eltern - und dass das Machtverhältnis ihm gegenüber schamlos zu seinem Schaden ausgenutzt wurde - und das, um eine sexuelle Befriedigung zu erreichen und um erotische Fantasien zu befriedigen.

Ein Kind in unserer Gesellschaft hat in dem Moment Anspruch auf Krisenintervention, es hat Anspruch darauf, dass wir den Ermittlungsdruck erhöhen und dass wir Prävention leisten. Es hat Anspruch darauf, dass Kinderärzte Rechtssicherheit zum Schutz des Kindes, das sie untersuchen, erlangen: Wenn sie vermuten oder erkennen, dass Missbrauch vorliegt, müssen sie handeln dürfen.

(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Kitas, Schulen, aber auch Sportvereine brauchen Schutzkonzepte und wieder einmal besonders geschultes Personal. Dazu gehört auch - das bitte ich einmal zu überlegen -, für den Grundschulunterricht ab der 4. Klasse die UN-Kinderrechtskonvention als verbindlichen Bestandteil einzuführen. Jugendämter und Polizei müssen entsprechend ausgestattet sein - das ist oft und in anderen Zusammenhängen immer wieder betont worden -, damit sie erfolgreich Ermittlungsarbeit leisten und Schutz bieten können.

Sexualisierte Gewalt hat sich durch die Nutzung digitaler Möglichkeiten offenbar noch einmal stark potenziert. Wir, liebe GroKo, sind bereit, gemeinsam mit Ihnen konkrete Forderungen auszuarbeiten. Wir möchten mit Ihnen über Verjährungsfristen, über Strafen, über Prävention, über Krisenintervention, über internationale Kooperation sprechen. Alles das gehört dazu. Lassen Sie uns deshalb bitte schnellstens einen Sonderausschuss zum Schutz vor sexuellem Missbrauch einrichten - denn dorthin gehört die Diskussion -, damit wir handlungsfähig werden!

Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Danke schön, Kollegin Menge. - Jetzt erhält Frau Osigus für die SPD-Fraktion das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestern Morgen, 9.15 Uhr: Ich telefoniere mit einer Rechtsmedizinerin der Kinderschutzambulanz. Unser Thema: Sexuelle Gewalt gegen Kinder. Sie spricht von Eindringen und Einführen in den Körper und von der Qualität, die ein Tupfer haben muss, um Blut- oder Spermaspuren zu sichern. Sie spricht von Puppen, mit denen man sich Vorgänge beschreiben lassen kann. Sie spricht von 25 Jahren Erfahrung, von leichten und von schweren Fällen. Sie spricht von Körpern von Babys und von Kleinkindern.

Wem jetzt latent übel ist, dem sei gesagt, dass dies nur die Fälle sind, die bekannt sind: 16 000 Fälle im Jahr 2019!

Und der oder die Täter? - Für sexuelle Gewalt liegt die Mindeststrafe je nach Schwere bei drei Monaten. Als Vergehen kann das Verfahren gegen Auflagen eingestellt werden. Strafbefehlsverfahren

können schriftlich geahndet werden. Sexuelle Gewalt steht damit in einer Reihe mit Diebstahl oder mit Beleidigung. Der Täter: hinterher frei - das Opfer: ein Leben lang mit seiner psychischen Belastung verhaftet.

Das, sehr geehrte Damen und Herren, entspricht nicht dem Rechtsempfinden meiner Fraktion, der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag.

(Beifall bei der SPD)

Sexuelle Gewalt ist kein Kavaliersdelikt, kein Ausrutscher. Es gibt kein „bisschen Gewalt“, und es gibt auch kein „bisschen missbraucht“. Und natürlich gehört das Strafmaß erhöht! Nur, zur Wahrheit gehört noch mehr: Ohne Strafverfolgung keine Strafe! Und eines der Haupthindernisse für eine Strafverfolgung ist die Verjährung. Daher gehört auch sie abgeschafft. Wer härtere Strafen fordert, muss auch die langfristige Verfolgung ermöglichen.

(Beifall bei der SPD)

Als ich mich vor gut einem Jahr aufgemacht habe, um die Verjährung bei sexuellem Kindesmissbrauchs abzuschaffen, habe ich mir nicht vorstellen können, dass es auch nur eine einzige Stimme dagegen geben würde: Opferschutz, Verbesserung der Aussagekraft von Führungszeugnissen, Stärkung der Kinderrechte, abschreckende Wirkung - alles Bausteine zu einem wertvollen Vorhaben.

Heute bin ich schlauer. Durch manch einen in den Reihen unseres Koalitionspartners und auch durch die bisherige Argumentation der Justizministerin durfte ich sämtliche Bedenken gegen dieses Vorhaben kennenlernen. Auch dafür bin ich dankbar. Trotzdem bin ich bei meiner festen Überzeugung geblieben. Allen Täterschutzargumenten zum Trotz steht die SPD-Fraktion geschlossen dahinter. Wir senden das deutliche Signal: Abschaffung der Verjährung im Bereich sexueller Gewalt gegenüber Minderjährigen, Erhöhung von Strafen und Bestrafung von Mitwissern!

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, dieses Signal muss deutlich nach Berlin gehen, und auch dafür muss die Justizpolitik in Niedersachsen ihre Hausaufgaben machen. All denjenigen, die mich angegriffen haben, die mir in sozialen Netzwerken drohen und vorwerfen, ich würde ihre Art der Sexualität in Verruf bringen, sei gesagt: Alle diese Neigungen zu Lasten von Kindern sind inakzeptabel! Wir werden

auf diesem Weg bleiben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Wir fordern Opferschutz vor Täterschutz. Wir wollen über Generationen hinweg sexuelle Gewalt verhindern. Wir wollen Schutz, Prävention und therapeutische Angebote. Wir wollen ein schützendes Netz über diejenigen spannen, die unsere Hilfe brauchen, und nicht überziehen gegenüber denjenigen, die in sicheren Strukturen Kinder großziehen. Wir wollen über vollständige Führungszeugnisse wissen, wer auf unsere Kinder aufpasst. Wir wollen, dass der pädophil orientierte Vater auch als Großvater noch belangt werden kann. Wir wollen Taten ein Leben lang verfolgen, so wie die Opfer seelisch verfolgt sind.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es gibt kein, aber auch gar kein Argument dafür, dass Erwachsene sich an den Schwächsten unserer Gesellschaft vergreifen.

Ach ja, und das System: Das würde doch das System durcheinanderbringen; Wertungswidersprüche würden offengelegt. - Meine Damen und Herren, natürlich kann man fragen: Und was ist mit den Säureopfern, was mit den Vergewaltigungen im Erwachsenenalter? Das kann man völlig zu Recht fragen. Nur, wer das als Unrecht empfindet, der kann doch auch politisch Veränderungen auf den Weg bringen.

Gleiches gilt im Übrigen für Beweisprobleme. Natürlich ist es schwierig, eine Tat nach vielen Jahren zu rekapitulieren. Nur, das Problem haben wir doch auch schon vor Eintritt der Verjährung, wenn es keine DNA-Spuren gibt. Und, um auf das beliebte Beispiel Mord zurückzukommen: Ohne Zeuge, ohne Leiche ist die Aufklärung Jahrzehnte später natürlich schwierig. Trotzdem wird ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, und zwar völlig zu Recht.