Protokoll der Sitzung vom 06.10.2020

Deswegen möchte ich auch noch einmal auf die Gorleben-Fehler zurückkommen, die gemacht wurden - allen voran natürlich der Einstieg in die Atomkraftnutzung. Sie alle kennen den Ausspruch: „Man fliegt los, aber hat keine Landebahn.“

Konkret wurde es dann bei der Endlagersuche im Fall des AKW Brokdorf. Dort wurde, nachdem Atomkraftgegner geklagt hatten, plötzlich gerichtlich festgestellt: Das geht so nicht. Es gibt keinen Entsorgungsvorsorgenachweis. - Es wurde ein Baustopp verhängt. Das führte dazu, dass sofort und mit Hochdruck nach einem Endlager gesucht werden musste, weil dieses Schicksal natürlich auch anderen Atomkraftwerken drohte.

Es wurde also mit Hochdruck gesucht - mit zu viel Druck, wie die Akten, die ab 2019 von Greenpeace eingesehen worden sind, belegt haben. Man hat die Akten - hier in der Staatskanzlei beginnend - durchgearbeitet und festgestellt, dass Gorleben im ersten Auswahlverfahren des Bundes schon in der ersten Runde herausgefallen war - also im Prinzip genauso wie heute. Man hätte sich die ganze Geschichte eigentlich sparen können.

Dieses sogenannte KEWA-Verfahren des Bundes landete dann 1976 bei drei Standorten, allesamt in Niedersachsen. Dort wohnten einflussreiche Politiker der CDU-Fraktion: z. B. die Gebrüder Remmers und der spätere Innenminister Rudolf Seiters. Ernst Albrecht war als Ministerpräsident, der eine Minderheitenregierung anführte, auf jede Stimme im Landtag angewiesen. Auch an anderen Standorten - nicht nur im Emsland - entstand sehr viel Druck, z. B. in Nienburg und Celle.

Und so wurde eben beschlossen, ein niedersächsisches Auswahlverfahren durchzuführen: Wenn schon Niedersachsen, dann sollen die Niedersachsen lieber selbst entscheiden. - Das war, wie sich gezeigt hat, ein Fehler.

Im für Industrieansiedlungen zuständigen Wirtschaftsministerium wurde damals handschriftlich in eine Tabelle eingefügt: „nun: LK Lüchow-D.“ Einige Tage später wurden diese Tabellen professionalisiert: Mit Schreibmaschine getippt, tauchte nun der Standort Gorleben in Lüchow-Dannenberg auf. Bereits Anfang 1977 galt Gorleben sogar als Gewinner dieses Verfahrens.

Auf die Standortbenennung - Sie alle kennen das berühmte Foto - folgte die obertägige Erkundung. Sie endete aufgrund der vorgefundenen geologischen Mängel 1983 mit der Empfehlung: „Erkundung anderer Lagerstätten“. Spätestens hier hätte Schluss sein müssen. Doch nichts passierte. Es wurde weiterhin politischer Druck ausgeübt; das Fazit des Gutachtens wurde geändert, und die untertägige Erkundung begann. Dann wurden die Kriterien den negativen Erkundungsbefunden angepasst. Noch 2010 sagte das Niedersächsische Umweltministerium aber: Das war ein wissenschaftliches Auswahlverfahren.

Endlich kam dann im Bund der sogenannte Gorleben-Untersuchungsausschuss, und später kamen die Initiativen zum Standortauswahlgesetz. Am Montag nun wurde wirklich bestätigt, dass Gorleben eine ungünstige Geologie aufweist. Eine wahnsinnige Erleichterung für alle Aktiven vor Ort

und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer bundesweit!

An dieser Stelle möchte ich all jenen meinen tiefen Dank aussprechen, die jahrzehntelang ein enormes Durchhaltevermögen an den Tag gelegt haben. Ich glaube, es gibt in der bundesdeutschen Geschichte kein anderes Verfahren, bei dem man einen so langen Atem haben musste.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Ich möchte stellvertretend Wolfgang Ehmke und Martin Donat von der Bürgerinitiative LüchowDannenberg danken, die das jahrzehntelang vorangetrieben haben.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Andrea Schröder- Ehlers [SPD])

Erst diese Protestbewegung hat den Weg geebnet, damit die Parlamente überhaupt ein neues Verfahren auf den Weg bringen konnten. Namentlich möchte ich hier die Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (GRÜNE), Ursula Heinen-Esser (CDU) und Ute Vogt (SPD) nennen. Aber ein ausdrücklicher Dank geht auch an Stefan Wenzel, der in der Endlagerkommission wirklich hart gekämpft hat

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von der SPD)

und es mit seiner regionalen Abgeordneten nicht immer leicht hatte.

Doch was passiert, wenn eine Fehlentscheidung wie die eben dargestellte gegen die Bürgerinnen und Bürger durchgedrückt werden soll? Zu welchen Mitteln ist der Staat bereit zu greifen? Welche Eigendynamik entwickelt sich?

Robert Jungk warnte schon zu Beginn der Atomkraftnutzung vor einem Atomstaat. Er hatte recht. Das Offensichtlichste, was auch die Jüngeren unter uns kennen, waren die 13 Castortransporte, mit denen 113 Castoren schon mal nach Gorleben gefahren wurden, obwohl es ja nur ein „Erkundungsbergwerk“ war.

Wir als grüne Landtagsfraktion waren in unterschiedlicher Zusammensetzung immer wieder vor Ort und haben die Polizeieinsätze kritisch beobachtet. Einige von uns haben dort den Staat von einer bislang ungekannten Seite kennengelernt. Ich möchte an Ralf Briese erinnern, unseren damaligen innenpolitischen Sprecher, der inzwischen

leider verstorben ist. Er ging mit einer gesunden Grundskepsis dorthin; er wollte gucken, ob das alles so stimmt mit diesen Erfahrungsberichten. Auch er musste, obwohl unbeteiligt, die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes am eigenen Leib erfahren. Er bekam Pfefferspray ab und einen sehr heftigen Tritt gegen das Knie - für ihn als Sportler sehr schwierig.

Noch einige andere Beispiele aus meinem persönlichen Umfeld: Ich hatte eine Mitbewohnerin, die nach einer Sitzblockade so mit Schlagstöcken malträtiert wurde, dass sie noch zwei Wochen später im Schwimmbad angesprochen worden ist, ob sie nicht eine Beratungsstelle gegen häusliche Gewalt aufsuchen möchte - so groß waren die blauen Flecken.

Mit erschreckender Regelmäßigkeit zählten die Bürgerinitiativen bei jedem Castortransport über 100 Verletzte - und da ging es nicht nur um blaue Flecken, da waren auch Schädelbrüche dabei.

Der schlimmste Vorfall, den ich persönlich beobachtet habe, war 2009 auf dem zweiten Gorleben-Treck nach Berlin - in Morsleben wurde demonstriert -, als ein junger Bursche von der sachsen-anhaltinischen Polizei eine Pistole zog und sie aus nächster Nähe auf den Kopf eines Landwirts aus Lüchow-Dannenberg richtete, der dort friedlich demonstriert hatte. Sie können sich vorstellen, dass uns allen in dieser Situation der Atem stockte. Ich vermute, dass dieser Landwirt danach nicht mehr so häufig zu Protestveranstaltungen gegangen ist.

Das Land Niedersachsen als Genehmigungsbehörde, aber auch zuständig für die Einsatzleitung bei allen Transporten, kann letztendlich froh sein, dass wir kein amerikanisches Rechtssystem haben, das enorme finanzielle Schadensersatzleistungen für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger ermöglicht. Dann könnten wir gleich den nächsten Nachtragshaushalt beschließen.

Nach der Laufzeitverlängerung für AKW haben sich auch sehr viele Polizistinnen und Polizisten zunehmend kritisch geäußert und gesagt: Wir müssen den Kopf für politische Fehlentscheidungen hinhalten. - Und sie hatten recht damit.

An der Stelle kann man sich auch einmal fragen, was am Montag wohl in den Beamtinnen und Beamten vorgegangen ist, als sie amtlich bestätigt bekommen haben, dass sie bei den Castorttransporten quasi auf der falschen Seite gestanden haben.

Man muss an dieser Stelle also nicht nur den Umgang des Staates mit den protestierenden Bürgerinnen und Bürgern kritisieren, sondern auch den Umgang mit den eigenen Polizeibeamten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber es ging noch weiter: Unabhängig von den Castortransporten wurden kritische Bürgerinnen und Bürger sowie Journalisten vor Ort vom Verfassungsschutz beobachtet. Erst vor zwei Wochen gab es einen Bericht über einen inzwischen mit Preisen ausgezeichneten Journalisten, der aufgrund dieser Beobachtungen niemals eine Festanstellung bei der Zeitung bekommen hat - 40 Jahre lang nicht. Oder: Die hoch qualifizierte, inzwischen pensionierte Lehrerin, fragt sich heute immer noch, ob sie eigentlich deswegen nie Schulleiterin geworden ist, weil sie sich immer sehr im GorlebenWiderstand engagiert hat.

Lebensgeschichten wurden durch diesen Großkonflikt verändert. Spitzel wurden in Wohngemeinschaften eingeschleust. Menschen wurde mit drakonischen Strafen für Verwandte gedroht, damit sie diese Spitzeldienste machen. Methoden, die viele von uns nur in der DDR vermuten würden! Mehrere Verfahren wegen angeblicher Bildung einer terroristischen Vereinigung wurden angestrengt, regelrechte Fallen gestellt, um vermeintliche Beweise zu haben. Man kann sagen: Ein ganzer Landkreis wurde kriminalisiert. Das sind die unweigerlichen Folgen, wenn eine politische Fehlentscheidung von solcher Tragweite durchgedrückt werden soll.

Fehler ziehen Fehler nach sich. Und deswegen brauchen wir in diesem neuen Suchverfahren nicht nur unser Bekenntnis, dass es diesmal anders zugehen muss; wir brauchen auch - wie angesprochen - Nachbesserungen im Verfahren und eine Novelle des Geologiedatengesetzes. Denn nur absolute Transparenz kann Manipulationen verhindern, und das brauchen wir.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Frau Kollegin Staudte, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bothe zu?

Dann, bitte, fahren Sie fort!

Wir alle müssen uns in unseren Parteien und Fraktionen dafür einsetzen, dass es keine politische Einflussnahme mehr geben darf. Die Wissenschaft muss gehört werden; der Bundestag, der die Vorschläge der Wissenschaft per Gesetz bestätigen muss, muss frei sein von Einflussnahme und Ränkespielen. Ich hoffe dabei sehr auf uns alle, gerade in Niedersachsen mit unseren Erfahrungen. Mit dem Antrag, den wir ins Verfahren gebracht haben, haben wir wirklich gut vorgelegt.

Wenn man den Zeitraum betrachtet, für den der Müll sicher eingelagert werden soll - eine Million Jahre! -, dann muss man doch feststellen, dass lokale Aspekte eigentlich gar keine Rolle mehr spielen. Wenn der Zeitplan zur Einlagerung der Castoren eingehalten wird, dann bin ich 75. Wenn, dann geht es um unsere Kinder und Kindeskinder. Es geht um über 25 000 Generationen - wenn man diese eine Million Jahre betrachtet. Da können wir doch nicht lokal denken. Wir wissen doch nicht, wo unsere Kinder einmal leben werden. Vielleicht werden die Kinder und Kindeskinder von Herrn Söder sogar einmal in Niedersachsen leben. Die Geschichte ist ja manchmal sehr ironisch.

Das bedeutet, wir alle müssen das größte Interesse daran haben, dass der bestmögliche Standort gefunden wird - egal wo.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Noch ein Satz zum Abschluss zu dem anderen großen Thema, der Klimakrise. Hier können wir uns keine weiteren 40 Jahre leisten. Diese Fehler lassen sich nicht mit drei Jahren Aktenstudium und einer Bundespressekonferenz heilen. Auch hier müssen wir an einem Strang ziehen und vom Reden ins Handeln kommen.

Danke schön.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung von Andrea Schrö- der-Ehlers [SPD])

Vielen Dank, Frau Kollegin Staudte. - Es folgt nun für die SPD-Fraktion Herr Abgeordneter Bosse. Sie haben das Wort. Bitte!

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal vielen Dank für die Re

gierungserklärung und auch für die deutlichen Worte.

Liebe Miriam Staudte, denjenigen, die gekämpft haben und die jetzt recht bekommen haben, zu danken, ist richtig. Ich persönlich halte es aber nicht für richtig, in die Mottenkiste zu greifen und Geschichten und Darstellungen aus den 70erJahren vorzutragen, gespickt mit Schuldvorwürfen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Helge Limburg [GRÜNE]: Leider wa- ren es auch die 80er-, 90er- und 2000er-Jahre! - Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: 2012 auch!)

Ich denke: Fehlentscheidungen wurden getroffen. Das ist allen bewusst, das ist allen bekannt, aber das muss, bitte schön, auch der Vergangenheit angehören.

(Christian Meyer [GRÜNE]: Die SPD war mit dabei!)

Es gilt, nach vorne zu schauen bei diesem doch langen, langen Suchprozess - und zwar gemeinsam nach vorne zu schauen.

Ich denke, dieser ganze Suchprozess - Minister Lies hat es vorgetragen - wird wesentlich länger dauern als die Halbwertzeit von mehreren Regierungen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Manch einer wird dabei fragen: Warum das alles? Der Atomausstieg ist nun beschlossene Sache, und spätestens Ende 2022 wird das letzte Atomkraftwerk in Deutschland abgeschaltet werden. Die vor längerer Zeit bereits abgeschalteten AKWs werden bereits zurückgebaut, und letzten Endes ist für mehrere auch die Stilllegung bereits beantragt. Mit der Einsetzung der Endlagersuchkommission wurden die Grundlagen für eine standortoffene Suche innerhalb Deutschlands nach einem geeigneten Endlager für hoch radioaktive Abfälle gelegt. Und von diesen Abfällen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es reichlich.