Protokoll der Sitzung vom 13.11.2019

Das ist außerordentlich wichtig; denn nach dem Ende der Jugendhilfemaßnahme heißt es für die jungen Erwachsenen, dann plötzlich auf eigenen Beinen zu stehen und ganz und gar selbstständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Deshalb sollte es das Anliegen des Gesetzgebers sein, die finanzielle Fallhöhe, welche sich nach dem Wegfall der Leistungen des Jugendamts ergibt, angemessen zu begrenzen.

Eine restlose Abschaffung des Kostenbeitrags wäre aber nicht nur pädagogisch unsinnig, sie wäre auch ungerecht; denn unabhängig von der Jugendhilfe ist es vollkommen normal, dass sich Kinder mit eigenem Einkommen im elterlichen Haushalt oder im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft finanziell einbringen, solange sie noch zu Hause wohnen. Heim- und Pflegekinder hier vollständig auszunehmen, würde eine lebensfremde Ausnahmesituation schaffen, die anderen gegenüber nur schwer zu begründen ist.

Meine Damen und Herren, die Neuregelung des § 94 SGB VIII stellt sich komplexer und vielschichtiger dar, als es der gemeinsame Antrag von CDU und Ampel glauben machen möchte. Der vorgeschlagene Weg, den Eigenbeitrag ersatzlos zu streichen, wird dieser Tatsache nicht gerecht. Für ein differenziertes Problem braucht es auch eine differenzierte Lösung, eine Lösung, die solidarisch und gerecht ist, die den Betroffenen finanzielle Anreize zur Ausbildungs- bzw. Arbeitsaufnahme lässt und junge Menschen auf dem Weg zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung unterstützt. Unser Alternativantrag berücksichtigt alle drei Aspekte gleichermaßen.

Erstens würde der Kostenbeitrag des Jugendamts nicht gänzlich abgeschafft, aber spürbar auf 25 % reduziert, zweitens der Eigenkommensfreibetrag für die Jugendlichen auf 50 % zuzüglich Taschengeld erhöht und drittens die restlichen 25 % des Nettoeinkommens auf einem Treuhandkonto angespart, um den Jugendlichen im Anschluss an die Jugendhilfemaßnahme zur Verfügung zu stehen und damit den Start in den neuen selbstbestimmten Lebensabschnitt zu erleichtern.

Meine Damen und Herren, das wäre eine vernünftige Lösung, die dem Rechnung tragen würde, was letztlich wichtig ist: junge Menschen zu befähigen, für die eigene Zukunft vorzusorgen, die Erfahrung zu machen, dass sich ein vorübergehender Verzicht lohnt, und nicht zuletzt auch das Bewusstsein, selbst etwas geleistet zu haben, worauf man stolz sein kann.

Der von der CDU unterstützte Ampelantrag dagegen gibt eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem. Wir lehnen ihn deshalb ab.

Vielen Dank.

(Beifall der AfD)

Für die FDP-Fraktion hat der Abgeordnete Thomas Roth das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden in diesem Haus sehr häufig über Eigenverantwortlichkeit, über Chancengerechtigkeit, über Selbstständigkeit. Das sind Grundsätze, die unsere gemeinsamen Ziele beschreiben.

Meine Damen und Herren, diese Grundsätze konkretisieren wir mit dem vorliegenden Entschließungsantrag und machen das Leben vieler junger Menschen eigenverantwortlicher, selbstständiger und gerechter. Heim- und Pflegekinder müssen nach § 94 SGB VIII 75 % ihrer Nettoeinnahmen an das Jugendamt zahlen. Zur Verdeutlichung: Ein junger Mensch macht eine Ausbildung und verdient 1.000 Euro im Monat. Aufgrund einer weder selbst verschuldeten noch gewollten Unterbringung in einer Pflegefamilie oder einem Heim muss der Auszubildende oder muss die Auszubildende 750 Euro des Ausbildungsgehalts wieder abgeben. Meine Damen und Herren, das stärkt weder die Eigenverantwortlichkeit noch eine Selbstständigkeit, noch kann man diese Regelung als gerecht bezeichnen.

(Beifall der FDP und bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Junge Menschen dürfen nicht dafür bestraft werden, sich ein Leben durch die Aufnahme eines Berufs aufzubauen oder durch einen Ferienjob ihr Taschengeld aufbessern zu wollen. Das ist weder sozial noch leistungsorientiert, sondern das genaue Gegenteil davon.

Es ist gut und richtig, wenn junge Menschen eine Ausbildung anfangen, Verantwortung übernehmen und ihre Chancen wahrnehmen. Doch der Kostenbeitrag raubt diesen Menschen die Motivation und vor allem den Anreiz zu arbeiten. So muss sich hier doch jeder die Frage stellen, ob man selbst noch motiviert wäre, wenn 75 % der Leistung monetär nicht gewürdigt würden.

Das Land Rheinland-Pfalz hat viele Projekte, die junge Menschen in die Ausbildung und die Arbeitsmärkte bringen sollen. Diese Projekte, die den Einstieg in die Ausbildung oder Arbeit begleiten, werden mit diesem bisherigen Kostenbeitrag ebenso konterkariert.

Anhand des gerade genannten Beispiels zeigt sich zudem, wie hoch die Belastung des Einzelnen ist. In einer Kleinen Anfrage im März dieses Jahres haben wir, Steven Wink und ich, nach den tatsächlichen Einnahmen der Jugendämter durch den Kostenbeitrag gefragt. Dabei haben

wir feststellen können, dass die Beiträge für die Jugendämter marginal sind, die Belastung für Pflegekinder aber immens hoch. Zudem zeigte sich, dass die Reduzierung der Kostenbeiträge aufgrund von sozialen und kulturellen Tätigkeiten entweder gar nicht oder nur in Einzelfällen erfolgt. Jugendämter besitzen hierfür auch keine einheitlichen Kriterien für die Tätigkeit, die unter „sozial“ oder „kulturell“ gefasst werden.

Es kommt zu einem hohen Bürokratieaufwand, der dann auch noch zu einer unterschiedlichen Bewertung der Tätigkeit führt. Das kann man nicht gerecht nennen.

(Beifall bei der FDP und der Abg. Markus Stein, SPD, und Dr. Bernhard Braun, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aufgrund dessen haben wir uns als Ampelkoalition entschieden, diesen Antrag zu stellen und die vollständige Abschaffung des Kostenbeitrags zu fordern. Nach einer intensiven Anhörung mit eindrücklichen Schilderungen der betroffenen Personen hat sich diese Forderung noch verstärkt. Wir Freien Demokraten fordern, dass diese Kostenbeiträge endgültig gestrichen werden.

Die Ampelkoalition, zusammen mit der CDU, wird sich dafür einsetzen. Ich bin froh und dankbar über diese breite parlamentarische Unterstützung. Gemeinsam senden wir ein starkes Signal an den Bund und konkretisieren Eigenverantwortlichkeit, Selbstständigkeit und Chancengerechtigkeit in diesem Bereich.

Haben Sie vielen Dank.

(Beifall der FDP, der SPD, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU – Abg. Alexander Schweitzer, SPD: Sehr gut! Gut gemacht!)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht der Abgeordnete Köbler.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sprechen über ein Thema, das unser Gerechtigkeitsempfinden sehr stark tangiert, dass Kinder, junge Menschen, die außerhalb ihrer Familien in Heimen oder Pflegefamilien aufwachsen, es sowieso schon nicht so einfach haben wie möglicherweise andere und dann, wenn sie sozusagen das erste Geld verdienen oder in einen Beruf starten, die Erfahrung machen, dass sie das Geld, was sie verdient haben, zu drei Vierteln wieder abgeben müssen. Das ist nicht gerecht, das ist kontraproduktiv. Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass diese Regelung abgeschafft wird.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und vereinzelt bei der SPD)

Wir haben deswegen diese Initiative in Rheinland-Pfalz gestartet. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen der CDU, dass sie sich unserer Initiative

angeschlossen haben.

Es ist so, dass, wenn diese Menschen den Start ins Leben wagen, die ersten Schritte hinaus aus dem Heim gehen, es nicht sein kann, dass staatliche Regelungen diese Schritte noch schwerer machen. Es ist auch kontraproduktiv; denn wir wollen, dass diese jungen Menschen auf eigenen Beinen stehen, sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ins Arbeitsleben gehen, eine Ausbildung machen. Wir sollten deshalb Hürden und Schranken abbauen und motivieren und mit einer solchen Regelung nicht demotivieren.

Ich bin Organisationen wie Careleaver sehr dankbar, die sich hier bei uns im Land, aber auch bundesweit für diese Gruppe Menschen einsetzen. Ich bin auch dankbar, dass diese Initiative Anklang findet beispielsweise im gewerkschaftlichen Zusammenhang und jetzt auch die IG Metall Jugend das Thema angesprochen hat. Ich glaube, es ist wichtig zu zeigen, dass nicht nur Politik, sondern auch Gesellschaft und Gewerkschaften an einem Strang ziehen.

(Abg. Alexander Schweitzer, SPD: Ja! Sehr richtig! – Abg. Cornelia Willius-Senzer, FDP: Genau! Sehr gut!)

Meine Damen und Herren, ich denke, der Antrag ist über das eigentliche Thema hinaus ein starkes Signal in Richtung Gerechtigkeit. Lassen Sie uns daran arbeiten, diesen absurden Beitrag abzuschaffen. Schaffen wir Chancen für diese jungen Menschen, ein selbstständiges und verantwortungsvolles Leben zu führen. Es ist am Ende auch eine Verwaltungsvereinfachung.

Deswegen ist es sehr bedauerlich, dass der Deutsche Bundestag noch nicht so weit ist. Aber ich glaube, wenn wir hier mit allen demokratischen und vernünftigen Fraktionen ein starkes Zeichen setzen, dann ist es auch ein starkes Zeichen für Berlin, dass wir diese unsinnige und ungerechte Regel abschaffen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei SPD und FDP)

Die fraktionslose Abgeordnete Bublies-Leifert hat jetzt das Wort.

Herr Präsident, werte Kollegen! Heute diskutieren wir über zwei Anträge im Umgang mit Heim- und Pflegekindern. Was können wir tun, diese in ein selbstbestimmtes Leben zu entlassen und ihnen auch die notwendigen finanziellen Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben zukommen zu lassen?

Die Regierungsfraktionen sowie die CDU gehen mit ihrem Antrag meines Erachtens genau in die richtige Richtung, Kinder und Jugendliche dürfen nicht länger dafür bestraft werden, dass sie, aus welchen Gründen auch immer, in einem Heim, in einer Wohngruppe oder in einer ande

ren Einrichtung des Staates gelandet sind. Sie werden oft schon insbesondere gerade deswegen unter Gleichaltrigen benachteiligt und haben oft sogar mit Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen. Hier noch eine monetäre Bestrafung in Form von Zwangszahlungen vom Lehrgeld an das Jugendamt draufzusatteln, was leider bisher gängige Praxis ist, grenzt an Unmenschlichkeit.

Dieser Antrag ist ein guter Anfang, um dieses Unrecht schnellstmöglich zu beenden. Nach meinem Dafürhalten jedoch müsste eigentlich auch das ganze bisher vereinnahmte Geld den Kindern und Jugendlichen der letzten Jahre rückwirkend erstattet werden, zumindest ein symbolischer Betrag.

Wenn wir Familien stärken wollen, müssen wir auch die Kinder stärken, weil diese auch zukünftige Eltern sind. Eine souveräne Gesellschaft erkennt man daran, wie respektvoll sie mit den schwächsten Gliedern der Gemeinschaft, mit den Kindern und auch den Rentnern, umgeht. Hier besteht leider derzeit einiger Nachholbedarf.

Ich danke Ihnen.

Für die Landesregierung hat Staatsministerin Spiegel das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der Plenumssitzung im Mai dieses Jahres hatte es Staatssekretärin Dr. Rohleder bereits gesagt, und die Anhörung im Fachausschuss hat mich in meiner Auffassung noch einmal bestärkt: Der Beitrag von Heim- und Pflegekindern für die Kosten der Kinder- und Jugendhilfe muss abgeschafft werden. Das ist meine feste Überzeugung, und dafür werde ich mich auch auf Bundesebene einsetzen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP, bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Im Jahr 2020 wird die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes kommen. Das ist dann die passende Gelegenheit dafür, das auch auf Bundesebene voranzutreiben.

Ich möchte hier noch einmal § 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zitieren: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Damit haben Politik und Gesellschaft die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jedes Kind und jeder Jugendliche möglichst gleiche Chancen auf Entwicklung seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeiten bekommt. Das ist ein grundlegendes Ziel und ein wichtiges Gebot, übrigens nicht nur im Kinder- und Jugendhilfegesetz, sondern auch in der UN-Kinderrechtskonvention.

Deshalb hat die Politik die Verantwortung für alle Kinder, gute Bedingungen des Aufwachsens sicherzustellen, und

dies ganz unabhängig davon, ob die Kinder in der eigenen Familie, in einem Heim oder in einer Pflegefamilie aufwachsen.

Auch wenn Kinder in ihrer Pflegefamilie liebevoll aufgenommen sind, ist die Vorgeschichte und der Wechsel der Bezugspersonen oftmals ein erschwerter Start. Die Vertreterin des Bundesnetzwerkes der Careleaver e.V. und selbst betroffen hat dazu in der Ausschussanhörung eindrücklich formuliert – ich zitiere –: „Heim ist keine Jugendherberge, und wir machen dort keinen Urlaub.“

Diese Kinder müssen nicht nur einen frühen Bindungsabbruch und den Verlust von Vertrauenspersonen erleben, diese Kinder haben nicht selten auch schwere körperliche und emotionale Vernachlässigungen bis hin zu Missbrauch und zu Misshandlungen erlebt. Die derzeitige Regelung zum Kostenbeitrag gefährdet aus meiner Sicht eine gerechte Chance auf ein selbstständiges und verantwortungsvolles Leben.