Protokoll der Sitzung vom 13.11.2019

Die derzeitigen Antworten auf diese Fragen lauten bislang:

Erstens: Du musst Dich an den Kosten des Sozialstaats beteiligen.

Zweitens: 75 %, weil es eben im Gesetz steht.

Drittens: Dann lernst Du eben, dass das Leben Geld kostet.

Meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, keine dieser Antworten ist nur ansatzweise geeignet, die Heranziehung Jugendlicher in Heimen oder Pflegefamilien zu rechtfertigen.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Martin Brandl, CDU)

Diese jungen Menschen haben sich ihr Schicksal zu keiner Zeit ausgesucht. Sie können für die Gewährung dieser Hilfe rein gar nichts. Viele werden in solche Situationen hineingeboren.

Wir dürfen nicht dem Irrglauben verfallen, dass die Leistungen des Staats für die Heimunterbringung oder die Unterbringung in einer Pflegefamilie zu irgendeiner Zeit den Idealzustand für diese jungen Menschen darstellen. Ich bin der festen Überzeugung, dass jedes Kind zunächst den innigen Wunsch hegt, zu Hause bei der eigenen Familie zu leben.

Ein kleines Kind kann natürlich noch nicht verstehen, warum es von zu Hause weg muss. Ein kleines Kind versteht auch nicht, dass der Staat ihm hier hilft, weil er helfen muss.

Das Leben im Heim, so sagte das eine der Anwesenden

in der Anhörung im Ausschuss, die selbst viele Jahre dort lebte, ist eben kein Urlaub, auch wenn unsere Heime und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort einen unglaublich guten Job machen.

Die Höhe des Kostenbeitrags mit 75 % ist darüber hinaus so immens hoch, dass ich niemanden, wirklich niemanden in meinem gesamten persönlichen und beruflichen Umfeld getroffen habe, der das für nachvollziehbar hält.

Nicht ohne Grund waren sich in dem Punkt alle Fachleute im Anhörverfahren des Ausschusses einig. Das einzige Argument, das so mancher Befürworter des Kostenbeitrags anführte, sind pädagogische, also erzieherische Wirkungen. Meine Damen und Herren, auch diese Argumentation kann nicht überzeugen. Wer glaubt, dass Kinder nur dann lernen, mit Geld umzugehen, wenn der Staat ihnen Geld abnimmt, denkt im Umkehrschluss, Kinder, die über ihr gesamtes Einkommen verfügen, können nicht mit Geld umgehen. Mit Verlaub, das ist eine lebensfremde These.

(Beifall bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kenne ausreichend Beispiele, in denen Azubis und junge Erwerbstätige in der Vergangenheit über ihr gesamtes Geld verfügten. Diese stehen heute nicht vor dem Insolvenzverwalter und wissen sehr wohl, wie das mit dem Geldausgeben so ist.

Und ja, natürlich gibt es Familien, in denen es üblich ist, als Sohn oder Tochter einen Obolus in die Familienkasse abzugeben. Es ist aber nur schwer zu akzeptieren, diese freiwillige Praxis in den Familien zum jugendhilferechtlichen Zwang zu transformieren, erst recht dann, wenn es häufig zum Beispiel Pflegefamilien sind, die – wie in meinem Fall – den Kostenbeitrag übernahmen, um mich zu entlasten.

Außerdem geht es in dem Antrag um die Stärkung der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung junger Menschen, nicht um den Einschnitt dieser. Kurzum, es gibt nicht ein stichhaltiges und nachweisbares Argument, an dem Kostenbeitrag festzuhalten, weder in Höhe von 75 % noch überhaupt.

(Beifall bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, als ich vor etwas mehr als sechs Monaten Abgeordneter des Landtags wurde, war mein Anspruch an Politik kein geringerer als der heute: Sorgen wir für Gerechtigkeit! – Ich bin daher sehr froh darüber, dass wir mit diesem Leitantrag aus rheinland-pfälzischer Sicht unseren gerechten Beitrag in die SGB VIII-Reform bringen können und wir, die Ampelkoalition gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der CDU, diesen gemeinsamen Weg im Interesse einer Vielzahl junger Menschen Deutschlands gehen können; denn ich denke, wenn diese Menschen eines nach ihrem schwierigen Start ins Leben verdient haben, dann ist es Gerechtigkeit.

Vielen Dank.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie vereinzelt bei der CDU)

Für die CDU-Fraktion spricht die Abgeordnete HuthHaage.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema, das wir heute in Form eines Antrags abschließend beraten, hat uns in den letzten Monaten intensiv beschäftigt. Es geht um die Frage – das ist eben schon sehr gut dargestellt worden –, ob Heim- und Pflegekinder gemäß § 94 SGB VIII bis zu 75 % ihres Nettoeinkommens an das Jugendamt abführen müssen oder sie davon befreit werden sollten.

Ein Anhörverfahren hat gezeigt, wie vielschichtig und komplex das Thema ist. Es war gut und richtig, dass wir uns die Zeit genommen und diese Anhörung durchgeführt haben; denn es gab noch Beratungsbedarf. Es gab auch kritische Stimmen innerhalb der Fraktionen. Es wurde argumentiert, es sei ein Bruch in der Systematik, oder es wurde gesagt – Sie haben es angeführt –, die eigenen Kinder, wenn sie denn einmal so alt sind, müssen selbstverständlich auch etwas abführen.

Aber allen war von Anfang an klar, dass der Betrag von 75 % viel zu hoch ist und dringend überdacht werden muss. Uns war wichtig, Heim- und Pflegekinder, die oftmals unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, in ihrer sozialen und individuellen Entwicklung zu stärken und ihnen keine fiskalischen Steine in den Weg zu legen.

Wir waren uns auch einig, dass es aus pädagogischer und psychologischer Sicht sinnvoll ist, diese jungen Menschen zu ermutigen und nicht zu demotivieren. Ich habe das hier im Mai in der Sitzung bereits gesagt. Sie haben das sehr authentisch aus persönlicher Sicht dargestellt. Ich habe das auch aus volkswirtschaftlicher Sicht beleuchtet. Ich habe gesagt, wir haben ein großes Interesse daran, den jungen Menschen zu zeigen, dass es sich lohnt, eine Ausbildung zu machen, es sinnvoll ist zu lernen und es gelingen kann, auch aus eigener Kraft ein eigenverantwortliches, gutes Leben aufzubauen.

(Beifall der CDU und bei SPD und FDP)

Meine Damen und Herren, es galt abzuwägen zwischen der Beibehaltung eines reduzierten Beitrags und der völligen Abschaffung. Entsprechend wurden hier Argumente ausgetauscht. Diskutiert wurde auch die Frage, ob der Kostenbeitrag in einer anderen Form erhoben werden sollte, so in Form eines Festbetrags etwa in Form der Düsseldorfer Tabelle. Die Ausführungen der Sachverständigen haben aber ganz deutlich gemacht, dass es auch bei dieser Kostenbeteiligung nicht um finanzielle, sondern um pädagogische Aspekte ging.

Was die Herstellung vergleichbarer Lebensverhältnisse von Heranwachsenden mit einem traditionellen Familien

hintergrund einerseits und jungen Menschen aus Jugendhilfemaßnahmen andererseits angeht, gibt es keine verlässlichen empirischen Daten. Längst nicht alle Jugendlichen müssen etwas abgeben. Ich kann Ihnen auch sagen, in vielen Familien ist es eher noch so, dass Eltern und Großeltern weiterhin noch etwas dazugeben.

(Abg. Cornelia Willius-Senzer, FDP: Genau!)

Das muss man auch sagen. Gerade die Großeltern leisten sehr viel, und sie tun es gerne.

(Beifall der CDU und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir haben von rechtlichen Problemen gehört, nach denen eine Heranziehung der Jugendlichen gleich nach Lehrantritt auch juristisch anfechtbar sei. Wir haben auch gehört, dass es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, keine Maßstäbe, nach denen eine Reduzierung oder eine Abschaffung des Kostenbeitrags erfolgen sollte. Es fehlen also Referenzwerte, und es fehlen auch einheitliche Verfahren, um diese Referenzwerte festzulegen.

Hinzu kommt, dass die Beiträge – so hart sie auch für den einzelnen jungen Menschen sind – insgesamt marginal sind. Die Erhebung stellt für die Jugendämter oft einen hohen bürokratischen Beitrag dar. Aufwand und Ertrag stehen oftmals in keinem Verhältnis. Auch das muss gesagt werden.

Meine Damen und Herren, all das war für den Entscheidungsprozess hilfreich. Bevor ich zu unserem gemeinsamen Antrag noch etwas sage, möchte ich noch kurz etwas zur AfD sagen. Auch Sie haben sich intensiv mit der Thematik beschäftigt. Ich will es Ihnen zugutehalten, Sie haben auch pädagogische Aspekte für Ihren Antrag geltend gemacht. Ich denke aber, es ist einfach nicht zielführend. Es ist sehr bürokratisch. Sie sagen, 25 % sollen abgegeben werden, weitere 25 % sollen auf ein Treuhandkonto gehen. Ich sage, es kann im Einzelfall durchaus Sinn machen, dass man so etwas ausmacht. Aber das muss im Einzelfall ausgemacht werden. Es kann nicht sein, dass dies in einem Gesetz festgeschrieben wird. Das ist ein Misstrauen gegenüber diesen jungen Menschen. Ich glaube, das sollten wir nicht tun.

Wir haben uns dafür entschieden, einen gemeinsamen Weg zu gehen, weil wir fest davon überzeugt sind, dass es ein wichtiges Signal ist, das den jungen Menschen beim Start in ein selbstbestimmtes Leben hilft, und weil wir auch glauben, dass wir mit einem starken gemeinsamen Antrag Rheinland-Pfalz ein Gewicht geben.

Ich hoffe und wünsche, dass wir als Rheinland-Pfalz die Beratungen im Bund positiv im Sinne der jungen Menschen beeinflussen. Dafür auch herzlichen Dank den Kollegen, die das so wunderbar mitgetragen haben.

Vielen Dank.

(Beifall der CDU und bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die AfD-Fraktion erteile ich dem Abgeordneten Michael Frisch das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist richtig und wichtig, dass wir heute über dieses Thema diskutieren. Gerade Heim- und Pflegekinder haben angesichts ihrer ohnehin schwierigen Situation einen Anspruch auf finanzielle Rahmenbedingungen, die ihnen eine gute und möglichst selbstbestimmte Entwicklung ermöglichen.

Die bisherige Regelung des § 94 SGB VIII genügt diesem Anspruch zweifellos nicht. Dass es die Betroffenen als zutiefst ungerecht empfinden, drei Viertel ihres sauer verdienten Geldes wieder abgeben zu müssen, ist absolut nachvollziehbar. Damit wird weder die Motivation junger Menschen gefördert, noch ihrer Leistung eine angemessene Wertschätzung entgegengebracht.

Bedenkt man zudem, dass der von ihnen zu leistende, in der Relation zum Einkommen hohe Kostenbeitrag für die Kommunen lediglich mit geringfügigen Einnahmen verbunden ist, dann wird deutlich, dass hier grundsätzlich Handlungsbedarf besteht.

Allerdings dürfen wir auch nicht vergessen, dass bei Heimund Pflegekindern der Jugendhilfeträger und somit die Solidargemeinschaft für sämtliche Kosten von Unterbringung, Versorgung und Betreuung aufkommt. Zusätzlich wird den Jugendlichen ein nicht geringes, im Laufe der Zeit anwachsendes Taschengeld bezahlt, über das sie frei verfügen können. Erst wenn sie selbst Einkommen aus einer Ausbildung oder einer Erwerbstätigkeit erzielen, müssen sie einen Eigenbeitrag zu ihrem Lebensunterhalt beisteuern, welcher derzeit 75 % des Nettoeinkommens ausmacht.

Dass dieser Kostenbeitrag eindeutig zu hoch ist, darüber sind wir uns mit allen Fraktionen einig. Aber während die Ampelparteien und trotz der ursprünglich im Ausschuss vorgetragenen Bedenken jetzt auch die CDU von einem Extrem ins andere fallen und eine vollständige und ersatzlose Streichung fordern, halten wir eine solche Komplettabschaffung nicht für sinnvoll. Wir glauben vielmehr, dass ein solidarischer Kostenbeitrag durchaus wertvolle pädagogische Funktionen erfüllt,

(Abg. Martin Haller, SPD: Das war mir klar!)

die nicht vernachlässigt werden sollten. Diesen Gedanken haben bei der Anhörung im Ausschuss auch die kommunalen Vertreter ausdrücklich betont. So stellte die Leiterin des Jugendamts im Donnersbergkreis, Heike Frey, fest – ich zitiere –: „Sie“ – jene Jugendlichen – „stehen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. In dieser Zeit müssen sie sich die abschließenden Kenntnisse und Fähigkeiten für eine eigenverantwortliche Zukunftsgestaltung aneignen. In dieser Situation auf einen Kostenbeitrag vollständig zu verzichten, wäre ein Bärendienst an den Heranwachsenden. Das würde die jungen Menschen in dieser Phase einer entsprechenden Lebenserfahrung berauben, mehr noch, es würde tatsächlich die trügerische Illusion wecken, über finanzielle Mittel in unrealistischer Höhe frei verfügen

zu können. Die Gefahr eines – mit Blick auf die Zukunft gesehen – unangemessenen Lebensstils mit entsprechenden vertraglichen Verpflichtungen liegt dann nahe.“

Aus meiner langjährigen pädagogischen Erfahrung als Lehrer an einer berufsbildenden Schule kann ich diese praxisnahe Einschätzung nur bestätigen. Junge Menschen, insbesondere solche mit belasteten Biografien, tun sich oft schwer damit, Sparsamkeit und Nachhaltigkeit im Umgang mit ihren Finanzen zu üben. Sie hier alleinzulassen, bedeutet für viele schlichtweg eine Überforderung. Unterstützung von außen ist daher keine Einschränkung ihrer Selbstbestimmung, sondern verhilft ihnen im Gegenteil gerade erst zur Entwicklung der notwendigen Eigenverantwortung.

Das ist außerordentlich wichtig; denn nach dem Ende der Jugendhilfemaßnahme heißt es für die jungen Erwachsenen, dann plötzlich auf eigenen Beinen zu stehen und ganz und gar selbstständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Deshalb sollte es das Anliegen des Gesetzgebers sein, die finanzielle Fallhöhe, welche sich nach dem Wegfall der Leistungen des Jugendamts ergibt, angemessen zu begrenzen.