Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

Meine Damen und Herren, in Schleswig-Holstein haben Sie in den letzten Jahren bei den im Raum stehenden Fragen inhaltlich wenig Konkretes gebracht. Die Frau Ministerpräsidentin hat am 11. Januar 2002 erklärt: Die Regierungschefin erwartet, dass die Konjunkturkurve bald wieder nach oben zeigt. - Eineinhalb Jahre später genau das Gegenteil.

Die Frau Sozialministerin hat am 21. Oktober 2000 erklärt: Heide Moser plant den Sozialstaat neu. - Gott sei Dank sind Sie keine Architektin geworden, denn dann wäre in drei Jahren überhaupt nichts passiert.

Die Diskussion um die Mehrwertsteuer - damit komme ich zum Abschluss - ist eine, die Sie jetzt aus dem Hut zaubern, um von Ihren Inhaltsdefiziten abzulenken. Die Frau Ministerpräsidentin hat im Deutschlandfunk am 23. Oktober 2002 auf die Frage, ob die Mehrwertsteuer ein Thema sei, erklärt: Im Moment redet keiner darüber, aber dass irgendeiner eines Tages wieder damit anfängt, kann man nicht ausschließen.

(Heiterkeit und Beifall bei CDU und FDP)

Herr Abgeordneter, bitte formulieren Sie Ihren letzten Satz.

(Zurufe)

Weil keiner angefangen hat, hat es die Ministerpräsidentin selbst getan.

Herr Abgeordneter, bitte formulieren Sie Ihren letzten Satz.

(Zurufe)

Ich darf den letzten Satz wiederholen: Weil keiner damit angefangen hat, hat sie es selbst getan.

(Beifall bei CDU und FDP)

Das Wort hat Frau Abgeordnete Heinold.

(Zurufe)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kalinka, das war ein ziemlich chaotischer Beitrag, bis zu den Standards der Kindertagesstätten, die Sie als CDU seit Jahren abschaffen und ganz in die eigene Verantwortung der Kommunen geben wollen.

(Zurufe von der CDU)

- Dann revidieren Sie das hier heute und sagen Sie, dass Sie für landesweite Standards sind, wie es sie bei den Kindertagesstätten gibt. - Bis hin zu Ihrer Aussage zur Zusammenfassung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Ich erinnere daran, dass die CDU Hartz II zugestimmt hat. Genau dort steht die Zusammenfassung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe drin. Jetzt, wo es Realität wird, haben Sie die Hose wieder voll und sagen: Oh, vielleicht lieber doch nicht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, erst einmal herzlichen Dank an unseren Koalitionspartner,

(Zurufe von der CDU)

dass es gelungen ist, einen Antrag in die heutige Landtagstagung einzubringen. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass sich der Schleswig-Holsteinische Landtag quer zu allen Beschlüssen, auch unserer Bundespartei, mit einer eigenen Reformidee positioniert. Noch besser wäre es natürlich gewesen, wenn auch CDU und FDP den Mut gefunden hätten, ihre offizielle Bundesparteilinie zu verlassen und mit einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen den Reformdruck auf Berlin zu verstärken.

(Beifall des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

(Monika Heinold)

Über die Notwendigkeit der Senkung der Lohnnebenkosten haben wir im Landtag schon oft miteinander diskutiert und wir sind da nicht weit auseinander. Auch Vertreterinnen und Vertreter der Opposition haben immer wieder die Notwendigkeit anerkannt, dass wir eine massive Umschichtung bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme brauchen. Deshalb machen wir mit dem heutigen Antrag absolut deutlich, dass es nicht um eine isolierte Erhöhung von Verbrauchsteuern, sondern um einen grundsätzlichen Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme geht.

Es ist bekannt, dass sich die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme überholt hat. Weniger Geburten, immer älter werdende Menschen und mehr medizinische Möglichkeiten führen dazu, dass die demographische Entwicklung und ein immer teurer werdendes Gesundheitssystem schon in den letzten Jahrzehnten zu einer dramatischen Entwicklung der Lohnnebenkosten geführt haben. Im Jahr 1957 betrugen die Lohnnebenkosten noch 23,8 %, 1970 waren es bereits 27 %, 2002, also im letzten Jahr, lagen wir bei 41,3 %.

Natürlich hat zu dieser dramatischen Entwicklung auch die Deutsche Einheit geführt, die Herr Kohl über die Sozialkassen mitfinanziert hat. Faktisch belasten diese hohen Lohnnebenkosten den Faktor Arbeit. Damit sind die Dienstleistungen für Verbraucherinnen und Verbraucher kaum noch bezahlbar geworden. Schauen Sie doch einmal auf Ihre Handwerkerrechnung!

Die Tendenz der Steigerung der Lohnnebenkosten geht weiter nach oben. Der Altenquotient zeigt anschaulich die Konsequenzen unserer sich wandelnden Gesellschaftsstruktur. Aktuelle Prognosen belegen, dass im Jahr 2050 ein Arbeitnehmer vier Rentner ernähren muss. Allein durch Sparmaßnahmen und Strukturmaßnahmen innerhalb der Sicherungssysteme werden wir das nicht bewältigen können.

Deshalb brauchen wir dringend Reformen innerhalb der sozialen Sicherungssysteme. Wir haben ja die Grundlagen dafür gelegt. Wir haben genau das beschlossen, Herr Kalinka, was Sie angemahnt haben, indem es Kürzungen von Leistungen gibt und indem es mehr Eigenverantwortung gibt. Das hat Rot-Grün beschlossen. Aber wir brauchen auch eine stärker steuerfinanzierte Komponente. Herr Kalinka, wir liegen ja nicht weit auseinander; schauen Sie doch bitte einmal in Ihren eigenen Antrag. Auf Seite zwei im vorletzten Absatz steht genau das, was wir heute beantragen. Dort heißt es nämlich:

„Nach einer solchen Strukturreform“

- die Strukturreform wollen wir alle gemeinsam -

„ist grundlegend zu prüfen, welcher Teil der Aufwendungen für die soziale Sicherung von allen Mitgliedern der Gesellschaft aufgebracht werden soll beziehungsweise welche Versicherungsleistungen von den Beitragszahlern aufzubringen sind.“

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Das heißt, auch Sie sagen, dass wir Sparmaßnahmen innerhalb der Sicherungssysteme brauchen, dass aber auch ein Teil steuerfinanziert werden muss. Wenn Sie das so formulieren, lassen Sie uns doch bitte zu einem gemeinsamen Antrag kommen!

(Martin Kayenburg [CDU]: Ja, Sie können gern mit unterschreiben!)

Zurzeit gleichen die Lohnnebenkosten von über 40 % eher einer Strafsteuer sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer. Arbeitgeber, die Arbeitsplätze schaffen, finanzieren außerdem versicherungsfremde Leistungen der Sozialkassen, also Aufgaben der gesamten Gesellschaft. Arbeitnehmer, die einen regulären Arbeitsplatz annehmen, beteiligen sich überproportional an der Finanzierung unseres Sozialstaates. Andere Gruppen in der Gesellschaft zahlen gar nichts in die Sozialkassen ein, beispielsweise Freiberufler, Beamte, Selbstständige. Gerät aber einer von ihnen in eine soziale Notlage, greifen selbstverständlich unsere sozialen Sicherungssysteme. Dieses Beispiel zeigt, dass wir eine Bürgerversicherung brauchen, und wir freuen uns, dass wir dort die Zustimmung von Herrn Seehofer haben, der das gestern noch einmal sehr deutlich und weitsichtig dargestellt hat.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir treten also ein für eine grundsätzliche Reform der sozialen Sicherungssysteme, indem die Lohnnebenkosten drastisch reduziert werden und im Gegenzug dann auch - das muss man ehrlich benennen - die Verbrauchsteuern erhöht werden. Diese deutliche Entlastung des Faktors Arbeit ist Erfolg versprechender als der Versuch, scheibchenweise am System herumzubasteln.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Garg, Sie enttäuschen mich, wenn Sie sagen, das Modell Dänemark wollen Sie nicht. Dänemark hat 5 % Arbeitslose, wir haben 10 % Arbeitslose. Und da sagen Sie: Nein, Dänemark ist ein schlechtes Modell. Das ist schlecht argumentiert.

Grundlage für eine solche Reform ist Skandinavien. Aber auch Sie werden verfolgt haben, der „Spiegel“

(Monika Heinold)

hat ein Gutachten in Auftrag gegeben beim DIW. Dieses Gutachten - Sie werden jetzt nicht sagen, das DIW sei eine unseriöse Institution - „Arbeit für viele“ ist ein Modell, das sich an der Schweiz, aber auch an Dänemark orientiert. Hier wird ausgerechnet, dass der Faktor Arbeit deutlich entlastet werden kann, dass soziale Sicherungssysteme steuerfinanziert, anders finanziert werden können und dass wir nach diesem Modell die Lohnnebenkosten von 42 % auf 5,5 % senken können.

Ich finde, dass wir so einen Vorschlag ernsthafter miteinander diskutieren müssen, als Sie das heute Morgen in Ihrem Redebeitrag getan haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei SSW - Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Wir werden dies in Deutschland aber nur hinbekommen, wenn wir gemeinsam und konsensorientiert darangehen, denn wenn CDU und FDP aus dieser Reformdebatte eine Angstdebatte und eine Steuererhöhungsdebatte machen, dann werden wir die Umsteuerung nicht schaffen.

(Zurufe von der CDU)

Bundeskanzler Kohl prägte das Wort vom Reformstau. Bundeskanzler Schröder probiert das Modell „learning by doing“ und stößt mit seinem Ansinnen auf heftige Kritik, obwohl es sich vergleichsweise nur um kleine Reformen handelt. Was uns fehlt, ist ein mutiges Gesamtkonzept, welches das Image Deutschlands, reformunfähig zu sein und Arbeitsplätze unbezahlbar zu machen, durchbricht.

Das Handwerk macht es uns vor und beginnt umzudenken. Auf einer Veranstaltung der Handwerkskammer Flensburg wurde mit Zahlen dafür geworben, Steuern zu erhöhen, um Arbeitsplätze billiger zu machen. „Nicht die Steuerbelastung, bei der Deutschland im unteren Drittel im europäischen Vergleich liegt, ist unser Problem, sondern es sind die Lohnnebenkosten, welche die Arbeitsplätze derart teuer machen. Deshalb plädiert das Handwerk für höhere Steuern und sinkende Sozialabgaben.“ So ehrlich lautet die Botschaft der Veranstaltung.

Das zeigt aber auch, dass die FDP inzwischen total wirtschaftsfremd ist. Der FDP-Kreisvorsitzende Joachim Behm, den ich ansonsten sehr schätze, nimmt diese Reformdebatte, um eine Kurzmeldung für die Zeitung zu produzieren mit der schönen Überschrift: „Mehrwertsteuer nicht erhöhen“, denn das wäre ein fatales Signal für die Wirtschaft. Gehen Sie einmal hin zur Wirtschaft, gehen Sie zum Handwerk und fragen Sie, ob diese nicht eine drastische Senkung der

Lohnnebenkosten wollen, die im Gegenzug mit Verbrauchsteuern finanziert wird! Das Modell der FDP ist ein anderes. Ich habe das nachgelesen. Die FDP sagt: Steuern runter, Lohnnebenkosten runter, Ausgaben für Bildung und innere Sicherheit hoch, und dann bekommt noch jeder Bürger und jede Bürgerin 500 € geschenkt, um die Konjunktur anzukurbeln. Ein schönes gelbes Märchen.

Vielleicht - das hatten wir heute gehofft - überzeugen wir ja zumindest die CDU, die mit Seehofer gute Ansätze gemacht hat. Stimmen Sie doch unserem Antrag zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU! Ihr Fraktionsvorsitzender Martin Kayenburg hatte schon am 17. Mai in den „Kieler Nachrichten“ angedeutet, dass angesichts der finanziellen Not für die CDU-Fraktion selbst die Mehrwertsteuer nicht mehr tabu ist. Es sei zu fragen, so Kayenburg, ob sie im europäischen Kontext noch angemessen ist. Da ist es doch überzeugender, Herr Kayenburg, die Mehrwertsteuer nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern zu nehmen, wie Sie das angedacht haben, sondern die Mehrwertsteuer zur Senkung der Lohnnebenkosten zu verwenden.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])