Protokoll der Sitzung vom 12.09.2007

Ich bekenne mich ausdrücklich aus zu Folgendem, auch wenn es in der augenblicklichen Diskussion nicht so populär sein mag: Ich bin nach wie vor Anhänger der These: Wer arbeitet, der muss auch mehr im Portemonnaie haben als der Empfänger staatlicher Transferleistungen.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Nun kommen wir zu dem eigentlichen Punkt. Das ist das, was mich an Ihrem Antrag eigentlich am meisten stört. Wenn der Antrag im Ausschuss landen sollte, dann denken wir dort vielleicht noch einmal gemeinsam darüber nach. Ich würde gern wissen, was Sie wirklich wollen. In der Überschrift Ihres Antrages schreiben Sie: Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums. Gut, dazu habe ich gerade gesagt, dass ich dies für problematisch halte, denn dies birgt die Unterstellung, das SGB II werde dem nicht gerecht werden. Dann heben Sie ganz besonders die Situation von Kindern - also das Thema Kinderarmut - hervor. Wenn Sie Kinderarmut wirkungsvoll bekämpfen wollen, dann würde ich an Ihrer Stelle aber nicht - durch die Hintertür und über eine Generalkritik - an den Hartz-IV-Regelungen beziehungsweise an den Regelungen im Sozialgesetzbuch II festhalten.

Wenn wir wirklich über Kinderarmut und darüber, wie man ihr begegnen will, reden wollen, dann frage ich Sie, warum Sie nicht beispielsweise das Konzept einer eigenständigen Kindergrundsicherung ins Gespräch bringen. Sie haben den DPWV genannt. Politisch mag man dazu stehen, wie man will. Mit Sicherheit besteht hier auch noch viel Diskussionsbedarf. Das wäre aber eine ehrliche Antwort auf die Frage, wie man Kinderarmut wirkungsvoll bekämpfen kann. Ich halte nichts davon, dem Haushaltsvorstand einer SGB-II-Gemeinschaft mehr Geld zu geben und dann so zu tun, als ob damit automatisch Kinderarmut bekämpft werden könnte. Wir müssen sicherstellen, dass die Leistungen, die zusätzlich gewährt werden, auch tatsächlich bei den Kindern ankommen. Das tun Sie mit einer bloßen Erhöhung der Geldleistung nicht, auch wenn das sehr populär klingt. Ich denke, gerade über den letzten Punkt müssen wir im Ausschuss noch einmal sehr intensiv nachdenken. Eigentlich können Sie das auch nicht wollen.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei CDU, SPD und SSW)

(Dr. Heiner Garg)

Für die Gruppe des SSW erteile ich Herrn Abgeordneten Lars Harms das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor wir über das soziokulturelle Existenzminimum reden, sollten wir uns vor Augen führen, dass der Regelsatz von Hartz IV nicht einmal zum Essen reicht. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund hat einmal nachgerechnet. Vertreter sind zum Einkaufen gefahren und haben Preise sowie Mengen verglichen. Die Studie rechnet akribisch vor, dass der Tagessatz in HartzIV-Haushalten nicht ausreicht, um Kinder gesund zu ernähren.

Das Ziel wird dabei nicht etwa knapp verfehlt, sondern dramatisch. Etwa 40 % fehlen Hartz-IV-Haushalten im Portemonnaie, um die empfohlene optimierte Mischkost einzukaufen. Darum landen weder frisches Obst noch Gemüse der Saison noch ein Stück frisches Fleisch im Einkaufswagen von Hartz-IV-Empfängern. Das ist bei Kindern, die sich schließlich im Wachstum befinden und die Anlagen ihres ganzen Lebens legen, besonders dramatisch. Ein Jugendlicher in der Pubertät hat einen enormen Nahrungsbedarf, um seine eigene Entwicklung wirklich meistern zu können. Selbst wer nur beim Discounter einkauft, muss durchschnittlich 4,68 € täglich hinblättern, um den Appetit eines Teenagers mit ausgewogener Kost zu stillen. Mit dem Budget eines Hartz-IV-Empfängers ist das nicht zu schaffen. Der Gesetzgeber sieht hier nämlich nur 3,42 € pro Tag vor. Das rund 27 % zu wenig. Die Sätze berücksichtigen dabei überhaupt keine Unterschiede im Ernährungsbedarf eines Siebtklässlers und dem eines Kindergartenkindes. Beide müssen sich mit 2,57 € pro Tag begnügen. Diese Summe gilt, bis die Kinder 13 Jahre alt geworden sind.

Die Folgen der falschen Ernährung sind schlimm. Wer als Kind nur Nudeln, Toastbrot und Industrieware isst, wird höchstwahrscheinlich als Erwachsener unter chronischen Erkrankungen leiden. Diabetes, Arteriosklerose werden, abgesehen von den anderen Folgen von falscher Ernährung und Übergewicht, in Deutschland zu Armutserkrankungen werden. Sie werden uns irgendwann auch einmal in der Gesundheitsvorsorge ein Problem bereiten, weil das richtig Geld kostet. Das merken wir nur heute nicht, sondern erst in zehn, 20 oder 30 Jahren.

Ich möchte hier noch einmal darauf hinweisen: Kinder aus Hartz-IV-Haushalten können bei den bestehenden Sätzen nicht ausgewogen ernährt wer

den. Damit ist das absolute Existenzminimum unterschritten.

Jetzt reden wir über das soziokulturelle Minimum. Die Grünen beklagen meines Erachtens völlig zu Recht, dass Hartz-IV-Empfänger vom sozialen Leben ausgeschlossen sind. Bevor wir aber über detaillierte Nachbesserungen streiten, sollten wir den Hintergrund der Debatte nicht aus dem Auge verlieren.

Hartz IV hat mit Zustimmung des damaligen Regierungspartners, der Grünen nämlich, das Armutsrisiko in unserem Lande kräftig nach unten gedrückt. Das sollte im Rahmen einer sogenannten Arbeitsmarktreform die Menschen unter Druck setzen, und man nannte das „fordern“. Was dabei herausgekommen ist, beschäftigt uns in unschöner Regelmäßigkeit. Menschen, die Hartz IV erhalten, kommen mit ihrem Geld nicht aus, weil die Sätze zu niedrig sind. Allerorten spürt man die Auswirkungen dieser verfehlten Politik, die wir gleich in der Debatte über die Mindestlöhne auch wieder hören werden.

Die sogenannten Reformen haben Arbeitslosen ihre Würde genommen. Die Leidtragenden sind dabei vor allem die Kinder. Sie geraten in eine Abwärtsspirale. Ob Nachhilfestunden, Büchereikarte oder ein orthopädisch geformter Schulranzen, alles das und noch viel mehr kann sich ein Kind aus einer Hartz-IV-Familie nicht leisten.

Der SSW sieht eine neue Runde von Hartz-IV-Reförmchen skeptisch. Auch eine Erhöhung der Sätze für Kinder oder für die Teilnahme am soziokulturellen Leben der gesamten Familie sind letztlich nichts anderes als Pflaster auf einem damals rotgrünen Gesetz, das von Grund auf falsch war. Es ist eine notwendige Reparatur, aber eigentlich gehört der kaputte Wagen Hartz IV fachgerecht entsorgt zugunsten einer sozialgerechten Politik, und das sollte unser aller Bestreben sein.

Dabei sollten wir dann auch das aufnehmen, was der Kollege Baasch gesagt hat: Armut hat auch etwas mit Kinderbetreuung und mit Bildungschancen zu tun. Deswegen glauben wir, dass der Antrag zwar wohlmeinend ist, aber zu kurz springt. Wir plädieren auch dafür, das Ganze noch einmal im Ausschuss zu beraten.

(Beifall der Abgeordneten Anke Spooren- donk [SSW])

Meine Damen und Herren, bevor ich weitere Wortmeldungen aufrufe, will ich geschäftsleitend darauf hinweisen: Wenn der nächste Tagesordnungspunkt

Mindestlohn noch in dieser Tagung angesprochen werden soll, dann muss er heute abgehandelt werden, weil Minister Döring wegen der Föderalismuskommission morgen und übermorgen nicht hier ist. Das bitte ich bei allfälligen Beiträgen nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung zu berücksichtigen.

Nach dieser Vorschrift erteile ich nun der Frau Abgeordneten Angelika Birk das Wort.

Ich will es kurz machen. Ich stelle Folgendes fest: Die Reden des SPD-Parteivorsitzenden sind offensichtlich nur auf dem Parteitag wichtig. Aber die Sommerdebatte zu der Fragestellung, ob ALG-IIEinkünfte ausreichend sind, eine Debatte, die ja bundesweit von der SPD getragen wurde, spielt hier bei der SPD keine Rolle. Die CDU hat nachdenkliche Töne vernehmen lassen. Das haben wir sehr wohl registriert.

Ich möchte ganz deutlich sagen: Unser Antrag hat zwei Teile. Er zielt nicht ausschließlich auf eine allgemeine Erhöhung des Existenzminimums, obwohl das unerlässlich ist, sondern er zielt auch ganz genau darauf, was in den Kommunen vor Ort passieren muss. Natürlich ist die strukturelle Verbesserung eines Bildungs- und Kulturangebotes zentral für das Wohlergehen von Kindern. Nur, wie schon mehrfach ausgeführt und auch heute noch einmal wiederholt, wenn diese Dinge, ob sie nun kommunal, von Vereinen, von bezuschussten Wohlfahrtsverbänden oder auch in der Schule angeboten werden, Geld kosten, dann schließen wir gerade die Kinder aus, um die es uns am allermeisten in dieser Frage geht.

Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Kindertagesstätten gemeldet haben, dass Kinder auch aus Kostengründen abgemeldet wurden, obwohl wir eine Sozialstaffel haben. Deswegen kann ich nur noch einmal nachhaltig an Sie appellieren: Gucken Sie sich den Antrag genau an. Wir sind für Verbesserungsvorschläge offen. Ich hoffe auf eine sachlichere Debatte im Ausschuss.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Landesregierung hat der Minister für Justiz, Arbeit und Europa, Herr Uwe Döring, das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, das aufgrund der Zeitnot, die wir ja haben, ein bisschen zu straffen. Es ist sicherlich richtig, Deutschland wird immer reicher, trotzdem haben wir Probleme, die insbesondere Menschen treffen, die den Lebensunterhalt über staatliche Transferleistungen sichern müssen. Besonders betroffen sind davon ohne Zweifel Kinder und Jugendliche. Das kann niemanden kalt lassen. Deswegen finde ich es richtig, dass wir hier darüber debattieren. Ich meine allerdings auch, der Antrag der Fraktion der Grünen hilft uns nicht weiter. Es gibt unbestreitbar Kostensteigerungen auch bei Lebensmitteln, durch die Mehrwertsteuer, höhere Gesundheitskosten. Aber diese Steigerungen treffen alle, die den Euro zweimal umdrehen müssen, auch Beschäftigte im Niedriglohnsektor, auch Bezieher niedriger Renten.

Wir haben bislang aus guten Gründen darauf verzichtet, Sozialleistungen an Preisindizes oder Inflationsraten zu koppeln. Das wäre letztlich eine selbsttreibende Inflation. Wichtiger ist es, dass wir die Anpassung von Regelsätzen an allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklungen koppeln. Damit können die Bezieher von Sozialleistungen an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilhaben, aber das Lohnabstandsgebot wird beachtet. Ich meine, das ist richtig so, und das muss auch so sein.

Mit Blick auf die höheren Regelsätze hat Bundesarbeitsminister Müntefering bereits erklärt, dass das jetzt überprüft wird. Man kann sich ja darüber streiten, ob ein Regelsatz in der richtigen Höhe festgesetzt ist oder nicht. Das wird jetzt überprüft und festgelegt. Ich halte auch nichts davon, dass man das in so großen Abständen macht. Das muss man wahrscheinlicher in kürzeren Abständen machen. Aber der Mechanismus muss so sein, dass man sich an den Bereich der Einkommensentwicklung und nicht an Preisindizes anpasst.

Es gibt in der Diskussion den Zusammenhang: Müssen wir nicht, wenn wir über die Erhöhung von Regelsätzen reden, auch über Mindestlöhne nachdenken? Darüber werden wir gleich reden. Denn eines ist auch klar: Wir dürfen nicht in eine Entwicklung hineinkommen, die dazu führt, dass es einen nicht gewollten staatlichen Kombilohn gibt.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darauf müssen wir in der Diskussion achten. - Ich weiß nicht, ob Sie meine nächsten Beiträge auch noch beklatschen, aber üben Sie schon mal. Das ist in Ordnung.

(Präsident Martin Kayenburg)

Ich möchte einen klaren Satz dazu sagen: Aus guten Gründen ist man von den Einzelleistungen weggekommen. Ich möchte nicht, dass wir eine Abkehr von der Pauschalierung bekommen. Die ist übrigens nicht nur deshalb gemacht worden, weil man Bürokratie abbauen wollte, sondern sie ist auch deswegen gemacht worden - das mag jetzt wieder unangenehm klingen -, um zu eigenverantwortlichem Haushalten zu ermuntern, wie es jedem Beschäftigten abverlangt wird. Die Sozialpolitik, die nicht nur alimentiert, sondern aus Armut und Arbeitslosigkeit befreien will, muss auch die Fähigkeit verbessern, ein selbstbestimmtes Leben ohne Abhängigkeit vom Staat zu führen.

Allerdings - das räume ich ein - kann Pauschalierung zu Härten führen. Deswegen gibt es beispielsweise zinslose Darlehen. Es gibt die Sonderleistungen, die Herr Garg schon erwähnt hat. Ich will sie nicht alle noch einmal aufzählen. Man kann sich trefflich darüber streiten, ob man bei Kindern nicht noch über die eine oder andere Situation nachdenken muss. Ich bin aber aus den genannten Gründen dagegen, leichtfertig den bewusst eingeschlagenen Weg der Pauschalierung gänzlich zu verlassen. Ich verteidige die These: Angebote helfen besser als Alimentation. Wir alle wollen Kinderarmut bekämpfen, aber wir müssen uns auch sehr klar die Frage stellen - Herr Garg hat das schon angesprochen -, ob denn Kindern mit mehr Transferzahlungen am besten geholfen ist, denn leider, muss man sagen, kommt dieses Geld oft gar nicht bei den Kindern an.

(Beifall bei SPD und FDP)

Um die Kinder zu fördern, müssen wir mehr darüber nachdenken, ob wir nicht gute öffentliche Strukturen haben müssen, ob wir nicht beim Ausbau von bezahlbarer Kinderbetreuung, bei Ganztagsschulen mit Schulspeisung einiges tun müssten. Welche Probleme haben wir denn, weil die Familien das gar nicht gelernt haben? Die Kinder kommen morgens hungrig in die Schule. Ich meine, es ist sinnvoll, nicht mehr Geld zu geben, sondern die Einrichtungen zu schaffen. Da habe ich Einfluss darauf, wie die Ernährung zu erfolgen hat. Es kann sonst auch sein, dass das Geld bei McDonalds landet und nicht bei gesunder Ernährung. Das heißt, man muss diese Strukturen mit überprüfen. Man muss auch an kostenfreie Angebote denken. Da sind die Kommunen gefordert. Dazu können die Grünen - das ist eben ja schon gesagt worden - auch etwas beitragen in den Bereichen, in denen sie Mehrheiten mit bilden.

Die praktische Unterstützung der Eltern bei der Bewältigung dieser Aufgaben ist, so denke ich,

auch eine wichtige Aufgabe. Um es noch einmal zu sagen: Mir ist es wichtiger, öffentliches Geld in gute Strukturen zu geben, als mehr Geld in die Hand zu geben.

(Beifall bei SPD, CDU, FDP und SSW)

Ich denke, das muss Priorität haben. Dann können wir auch nachhaltig helfen, mehr Kinder und ihre Familien aus diesem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Armut und Resignation zu holen.

Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen. Ich habe vorhin draußen mit ver.di diskutiert. Dabei ging es um den Mindestlohn bei Postlern, der jetzt tariflich vereinbart ist und in den Westländern bei 9 € liegt. Sie haben mir vorgerechnet: 9 € brutto, verheiratet, zwei Kinder, eine durchschnittliche Wohnung. Damit haben Sie Mühe, netto auf den gleichen Satz zu kommen, den Sie als Hartz-IV-Empfänger haben.

(Beifall bei SPD, CDU, FDP und SSW)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Es ist beantragt worden, den Antrag Drucksache 16/1564 dem Sozialausschuss zu überweisen. Wer so beschließen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Das ist einstimmig so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:

Umfassende verbindliche Mindestlohnregelung

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/1565

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Karl-Martin Hentschel.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu meiner Rede komme, möchte ich noch eine Bemerkung machen, die mit der Debatte insgesamt, aber auch mit dem zu tun hat, was wir eben besprochen haben.

Ich glaube, dass - mittlerweile sagen das auch viele Wirtschaftswissenschaftler - die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt durchaus auch etwas mit Hartz IV und mit den Sozialreformen der letzten Bundesregierung zu tun haben. Das hat heute Morgen selbst