Protokoll der Sitzung vom 14.09.2007

Dieser Kinderschutzgesundheitsbericht für Schleswig-Holstein ist nicht nur eine gesundheitspolitische Mahnung, sondern er ist eine sozialpolitische Herausforderung. Deswegen sollten wir ihn diskutieren und über ihn sprechen.

(Werner Kalinka)

(Beifall)

Ich danke Ihnen, Herr Abgeordneter, und erteile für die SPD-Fraktion Frau Abgeordneter Siegrid Tenor-Alschausky das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Robert-Koch-Institut hat uns im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitsberichts Daten, Fakten und Bewertungen zur Verfügung gestellt, die wir - wir haben es gerade erlebt - in fünf Minuten nicht ausführlich erörtern können.

(Werner Kalinka [CDU]: Man sollte mal et- was großzügiger mit der Zeit sein!)

Das gute Ergebnis zu Beginn: Der größte Teil der Kinder und Jugendlichen wächst bei uns gesund und unbelastet auf. Natürlich sind auch bei uns der Umgang mit Alkohol und Tabak, das Ernährungsverhalten und der Konsum illegaler Drogen ein Thema. Damit haben wir uns ja auch in der Vergangenheit wiederholt hier in diesem Hohen Haus beschäftigt; meine Vorredner und auch Frau Ministerin sind auf dieses Thema eingegangen.

Die Ergebnisse der uns jetzt vorliegenden Untersuchungen bestätigen die vermuteten Einschätzungen und wir sollten uns weiterhin mit den Auswirkungen von Präventionsangeboten, aber auch dem Nichtraucherschutzgesetz beschäftigen.

Ich möchte jetzt auf die Ergebnisse zum Thema Früherkennungsuntersuchungen eingehen. Das Ziel, dass alle Kinder an den Untersuchungen teilnehmen, haben wir noch nicht erreicht. Die Teilnahme sinkt bei Kindern aus Familien mit niedrigem Sozialstatus kontinuierlich. Sie nehmen die U8 - das sind die Untersuchungen für die 4-Jährigen nur noch zu 86 %, die U9 zu 77 % in Anspruch und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund nehmen nur zu 40 % an allen Terminen teil. 9 % von ihnen haben sogar an keiner Früherkennungsuntersuchung ab der U3, welche häufig noch im Krankenhaus erfolgt, teilgenommen. Wir haben im Entwurf eines Kinderschutzgesetzes Vorschläge gemacht, um zu einer höheren Teilnahmequote zu gelangen.

Bei den Einschulungsuntersuchungen 2004 wurde festgestellt, dass acht von 100 Kindern bereits Unfälle erlitten hatten, vor allem zu Hause oder in der näheren Umgebung. Die Schul- und Schulwegeunfälle lagen 2005 in Schleswig-Holstein deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Programme zur Un

fallprävention und zum Schutz beim Sport und Fahrradfahren sollten wir überprüfen und gegebenenfalls ausweiten. Insofern bin ich Ihnen, Frau Ministerin, sehr dankbar für Ihre Ankündigung, dass Sie gemeinsam mit der Bildungsministerin aktiv werden wollen.

(Beifall bei der SPD)

Zwar liegt die Rate für Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen um 3 % unter dem Bundesdurchschnitt. Auffällig sind allerdings die erhöhten Neuerkrankungsraten für kindliche Leukämien in der Region Elbmarsch-Geesthacht. Trotz vielfältiger Untersuchungen konnte die Ursache für dieses Cluster noch nicht gefunden werden. Es bedarf weiterhin aller Anstrengungen, die Ursachen zu finden.

(Beifall bei SPD und CDU)

Betroffen gemacht haben mich die Aussagen zu Schmerzen. 76 % der Befragten gaben an, in den letzten drei Monaten unter Schmerzen - besonders Kopfschmerzen - gelitten zu haben. Das müssen wir gemeinsam mit Ärzten und Krankenkassen erörtern. Denn der Griff zur Schmerztablette schon bei jungen Menschen muss die Ausnahme bleiben.

Der Bericht setzt sich erfreulicherweise auch mit der Selbsteinschätzung der Betroffenen zu ihrem körperlichen und emotionalen Wohlbefinden auseinander. Der überwiegende Teil der Kinder und Jugendlichen beantwortete die Fragen nach dem körperlichen Wohlbefinden eher positiv. Etwa die Hälfte der Befragten gab an, in der letzten Woche über viel Kraft und Ausdauer verfügt zu haben. Jeder Fünfte der 11- bis 18-Jährigen hatte aber selten oder noch nie viel Kraft und Ausdauer. Jungen berichten häufiger über körperliches Wohlbefinden als Mädchen. Ältere Kinder und Jugendliche machen weniger positive Angaben als jüngere.

Auch die Fragen nach dem emotionalen Wohlbefinden wurde von der Mehrheit der Befragten positiv bewertet. Aber: 5,7 % berichteten, manchmal, oft oder immer Angst gehabt zu haben. 8,5 % gaben an, sich manchmal, oft oder gar immer allein gefühlt zu haben. 17,2 % der befragten Kinder und Jugendlichen gaben an, im Befragungszeitraum selten, nie oder nur manchmal gelacht oder Spaß gehabt zu haben. Dies ist ein Ergebnis, das uns alle so denke ich - nachdenklich stimmen sollte.

Der Bericht geht auch auf gruppenspezifische Präventionsmaßnahmen ein. Gerade weil - wie schon erwähnt - der Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund zu bestimmten Angeboten auf Schwierigkeiten stößt, ist es umso wichtiger, die Zugangsschwelle für sie dadurch abzusenken, dass

(Werner Kalinka)

sie zum Beispiel von Migrantinnen und Migranten als „interkulturelle Gesundheitslotsen“ angesprochen werden können.

Ebenso möchte ich das Programm zur Gewaltprävention hervorheben. Ein Teil des seelischen Leidens von Kindern und Jugendlichen hat seinen Hintergrund nicht in erster Linie in der Familie, sondern darin, dass sie in der Schule ausgegrenzt und gemobbt werden. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass körperliche Misshandlungen auch schwere seelische Schädigungen zur Folge haben.

Mein Fazit: Der Kinder- und Jugendgesundheitsbericht ist eine hervorragende Grundlage für unsere künftige Kinder- und Jugendpolitik. Vielen Kindern und Jugendlichen - aber eben leider nicht allen geht es in Schleswig-Holstein gut. Wir haben auf dem Weg zu einer kinder- und jugendfreundlichen Gesellschaft schon manches erreicht, dürfen aber mit unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Insbesondere die Kinder und Jugendlichen, deren Eltern nicht oder nur eingeschränkt für ein gesundes Aufwachsen sorgen können, bedürfen unserer Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Ich bitte um Überweisung des Berichts an den Sozialausschuss und zur Mitberatung an den Innen- und Rechtsausschuss sowie den Bildungsausschuss.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich möchte aus aktuellem Anlass noch einmal darauf hinweisen, dass das Präsidium nach den im Ältestenrat von den Fraktionen vereinbarten Redezeiten zu agieren hat.

Das Wort für die FDP-Fraktion erteile ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Heiner Garg.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren reden wir auch in diesem Haus darüber, wie bei Kindern und Jugendlichen gesundheitliche Störungen und Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt werden können. Insofern kann ich die leise Verbittertheit verstehen, die sowohl Kollege Kalinka als auch Kollegin Birk vorhin in einem Zwischenruf geäußert haben, nämlich darüber, wie man mit entsprechenden Initiativen umgeht. Einmal war es eine Unionsinitiative aus der letzten Legislaturperiode, dann waren es Initiativen der Fraktion der Grünen aus dieser Legislaturperiode.

Es gab bisher keine umfassende, wissenschaftlich ausgewertete Datenbasis. Das ist jetzt anders. Jetzt

erhält Schleswig-Holstein als einziges Bundesland eine repräsentative Aussage über die Gesundheitssituation von Kindern und Jugendlichen in der Altersgruppe zwischen 11 und 17 Jahren. Darüber freue ich mich ausdrücklich. Eine solche spezielle Erhebung ist sinnvoll. 11- bis 17-Jährige werden von den schulärztlichen Untersuchungen überhaupt nicht mehr erfasst. Kinder und Jugendliche dieser Altersgruppe suchen nur noch anlassbezogen den Arzt auf, beispielsweise wenn sie sich verletzt haben oder ernsthaft erkrankt sind.

Pubertätsbedingt befinden sich Kinder und Jugendliche in einer Umbruchphase, die zu einem völlig veränderten Gesundheitsverhalten führen kann. Das sind alles Argumente, die für eine gezielte Untersuchung dieser Altersgruppe sprechen.

Trotzdem werfe ich an dieser Stelle die Frage auf, warum die Altersgruppen von null bis elf Jahren nicht nach demselben Muster untersucht worden sind. Ich räume ein, dass Sie, Herr Kollege Kalinka, in der vorigen Legislaturperiode gefordert haben, dass man die Kinder und Jugendlichen von 0 bis 17 Jahren erfassen sollte. Aber ich weiß, dass das auch eine Frage des Preises ist. Eine Erhebung für alle Altersgruppen hätte zusätzliche Kosten von rund 1,2 Millionen € verursacht. Gerade nach dem Beitrag der Kollegin Heinold, die sehr deutlich auf die sozialpolitischen Auswirkungen und die sozialen Folgekosten aufmerksam gemacht hat, muss ich sagen: Diese 1,2 Millionen € wären durchaus eine Investition gewesen, die sich gelohnt hätte.

Eine wesentliche Erkenntnis der Studie ist, dass der soziale Status der Kinder und Jugendlichen in einem ganz engen Zusammenhang mit den Gesundheitsrisiken steht. Das haben auch die Vorredner ausgeführt. Die festgestellten Risiken für Übergewicht, Essstörungen, mangelnde Gelenkigkeit oder psychische Probleme trägt vor allem der Nachwuchs aus sozial benachteiligten Elternhäusern. Festgestellt wurde das bei allen.

Die Frage ist: Was folgt aus dieser Erkenntnis? Was machen wir mit dieser Erkenntnis?

(Beifall bei der FDP)

Wenn Kinder gerade in einem frühen Entwicklungsstadium erreicht werden sollen, dann wäre vor allem eine repräsentative Auswertung in der Altersgruppe von null bis sechs Jahren sinnvoll, um noch differenzierte Präventionsmaßnahmen speziell für diese Altersgruppe zu entwickeln.

Die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen, also bei Kindern im Alter von sechs Jahren, zeigen beispielsweise, dass 11,3 % der Mädchen und

(Siegrid Tenor-Alschausky)

10,8 % der Jungen übergewichtig oder sogar adipös sind. Wohlgemerkt: bereits in diesem Alter! Es wäre sinnvoll, diese Kinder und deren Eltern bereits vor der Eingangsschuluntersuchung zu erreichen. Es genügt nicht mehr, Modellprojekte in einzelnen Regionen mit entsprechenden Zusatzmodulen zu testen.

Aus der Studie - da bin ich ganz bei Ihnen, Frau Kollegin Heinold - ergeben sich ganz klare Handlungsaufträge.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Welche Konsequenzen aus den Ergebnissen werden wir ziehen müssen, und durch welche sozial-, jugend- und gesundheitspolitischen Instrumente können wir die festgestellten Defizite beseitigen? Dies sollte die Landesregierung in dem Bericht darlegen.

Die in dem Bericht der Landesregierung dargestellten Konsequenzen und Aktivitäten zeigen, dass es auf Landesebene eine Reihe von Angeboten gibt. Aber ich sage auch: Viele dieser Angebote und Maßnahmen stehen immer noch zu sehr für sich nebeneinander. Ich bin deswegen der Überzeugung, dass wir ein landesweites Konzept brauchen, das alle Maßnahmen mehr bündelt und noch mehr aufeinander abstimmt, als es bislang der Fall ist.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Studie macht deutlich, dass in einigen Bereichen auf Landesebene bisher noch das Problembewusstsein fehlt, zum Beispiel beim Medikamentengebrauch und -missbrauch. Die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche bereits früh zu Medikamenten greifen, ist alarmierend und war in dem Ausmaß mit Sicherheit nicht unbedingt zu erwarten.

Die Studie hat ihren Zweck erfüllt, wenn aus diesen Erkenntnissen Konsequenzen gezogen werden. Ich erwarte, dass wir im Sozialausschuss über mögliche Maßnahmen miteinander sprechen. Ich erwarte von der Landesregierung aber auch die Entwicklung eines Gesamtkonzepts, in dem die in der Studie aufgezeigten Problembereiche gemeinsam mit den Kommunen, Verbänden und Eltern abgearbeitet werden.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erteile für den SSW dem Herrn Abgeordneten Lars Harms das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Gesundheit unserer Kinder ist lange eine Sache für Kinderärzte gewesen. Wenn es über Kinderkrankheiten und Vorsorgeuntersuchungen hinausging, sind die Kinder gesundheitspolitisch häufig wie kleine Erwachsene behandelt worden. Das zeigt auch die Tatsache, dass wir mit dem KiGGS-Bericht des Robert-Koch-Instituts zum ersten Mal ausführliche, belastbare Daten zur Gesundheit dieser Altersgruppe in Schleswig-Holstein überhaupt bekommen haben.

Der Bericht liefert einen reichen Datenfundus für die vielfältigen Ansätze der Gesundheitspolitik in Schleswig-Holstein. Darüber und über mögliche Maßnahmen werden wir sicher noch häufiger im Ausschuss sprechen, nicht nur aus Anlass dieses Berichts.

Hier und jetzt möchte ich aber einen Punkt herausgreifen, der mir besonders ins Auge gefallen ist. Es ist längst gesundheitspolitisches Alltagswissen, dass es einen Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und dem Gesundheitszustand gibt. Mit diesem Bericht erfahren wir aber nochmals in harten Zahlen, wie groß die Kluft zwischen den verschiedenen sozialen Schichten in Schleswig-Holstein wirklich ist und wie sehr die Kinder davon betroffen sind. Sprösslinge aus Familien mit einem niedrigen Sozialstatus sind besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt.

Im Vergleich zu Kindern aus einem Elternhaus mit hohem sozialen Status rauchen sie häufiger, ernähren sich ungesünder, sind im Alter von 11 bis 14 Jahren viermal so häufig übergewichtig, haben mehr psychische Probleme, sehen dreimal so viel fern, betreiben doppelt so häufig keinen Sport, putzen sich weniger häufig täglich die Zähne, haben doppelt so häufig Gewalterfahrungen und werden seltener zu den U1- bis U9-Früherkennungsuntersuchungen gebracht.