Protokoll der Sitzung vom 15.10.2015

Mündlicher Bericht der Landesregierung

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Ich sehe, das ist nicht der Fall.

Vor Eintritt in die Beratung gebe ich folgende Hinweise zum Ablauf: Ich werde zunächst die Ausschussberichte zu den Tagesordnungspunkten 36,

Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - 100. Sitzung - Donnerstag, 15. Oktober 2015 8421

(Präsident Klaus Schlie)

Innen- und Rechtsausschuss, und 37, Europaausschuss, aufrufen. Anschließend werde ich über die Berichtsanträge zu der laufenden Tagung abstimmen lassen. Anschließend wird die Beratung mit der Worterteilung an den Herrn Ministerpräsidenten eröffnet. Daran schließt sich eine Grundsatzdebatte auf der Grundlage des Antrags der Fraktion der CDU an. Es wird dabei berücksichtigt, dass alle Fraktionen und die Abgeordneten des SSW vor der Mittagspause das Wort erhalten. Heute Nachmittag wird die Beratung fortgesetzt. Zunächst wird die CDU-Fraktion als stärkste Fraktion das Wort erhalten. Zu einem späteren Zeitpunkt wird die Worterteilung an den Herrn Innenminister vorgesehen.

Ich erteile zunächst zu Tagesordnungspunkt 36 das Wort der Frau Berichterstatterin des Innen- und Rechtsausschusses. Die Abgeordnete Barbara Ostmeier ist erkrankt. Das macht Frau Lange in ihrer Vertretung. - Bitte schön.

Herr Präsident, ich verweise auf die Vorlagen.

Ich danke Ihnen, Frau Berichterstatterin. - Ich sehe, Wortmeldungen zum Bericht liegen nicht vor.

Ich erteile dann das Wort zu Tagesordnungspunkt 37 dem Berichterstatter des Europaausschusses, dem Abgeordneten Peter Lehnert.

Herr Präsident, ich verweise auf die Vorlage.

Ich danke Ihnen, Herr Berichterstatter. - Wortmeldungen zum Bericht liegen nicht vor.

Mit den Anträgen Drucksachen 18/3419 und 18/ 3422 werden Berichte in dieser Tagung erbeten. Ich lasse zunächst darüber abstimmen, ob die Berichte in dieser Tagung gegeben werden sollen. Ich bitte Sie um Ihr Handzeichen, wenn Sie dafür sind. - Ich sehe, das ist einstimmig.

Ich erteile nunmehr dem Herrn Ministerpräsidenten Torsten Albig das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich danke für die einführenden Worte, Herr Präsident, mit denen Sie noch einmal auf die in der

Tat sehr bedeutende Rede des Herrn Bundespräsidenten anlässlich der Feierlichkeiten des 3. Oktober in der Alten Oper in Frankfurt hingewiesen haben. Er hat genau wie die Frau Bundeskanzlerin und wir hier in der Debatte zu der Regierungserklärung in der letzten Landtagstagung die Größe der Aufgabe, vor der wir stehen, beschrieben, die - so sagt er, und so sagen viele, und das ist richtig - die größte Herausforderung Deutschlands seit der Wiedervereinigung ist. Darüber hinaus stellt diese Aufgabe eine der größten Herausforderungen unseres Kontinents in seiner jüngeren Geschichte dar.

Er hat die Größe dieser Herausforderung beschrieben. Er hat aber auch beschrieben, dass wir bei der Bewältigung dieser Herausforderung an Punkte gelangen können, wo das Gefühl immer größer wird, dass wir an Grenzen unserer Leistungsfähigkeit, unserer Handlungsfähigkeit geraten, wo wir merken, dass wir nicht schnell genug sind, dass die Art und Weise, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen, nicht sofort dazu führt, dass Menschen genau spüren, so, wie wir das miteinander tun, wird es einen guten Ausgang nehmen.

Wir erleben das in all den Gesprächen, die wir ja alle vor Ort führen, in all den Begegnungen in Erstaufnahmeeinrichtungen, in den Kommunen, die sich vorbildlich um die kümmern, die zu uns kommen. Wir erleben, wenn wir mit den Ehrenamtlichen reden, sei es vom Roten Kreuz, sei es von der AWO oder mit denen, die sich in Flüchtlingsinitiativen auf den Weg machen, an Bahnhöfen stehen, dass sie uns berichten, bald nicht mehr zu können, wenn jeden Tag 300, 400 Flüchtlinge ihrer Hilfe bedürfen, man immer wieder neu ansetzen muss, immer wieder Antworten geben muss. In der Tat ist das eine historisch große Aufgabe.

Richtig ist - auch das hat der Herr Bundespräsident gesagt -, dies meint vor allem die, meine Damen und Herren, die dort sind, wo Hilfe verlangt wird. Es meint vor allem die, die sich in unserer Gesellschaft auf den Weg machen, Antworten zu geben. Denen geht langsam die Luft aus. Es meint vor allem die, wenn ich nach Boostedt und in andere kleine Orte schaue, wo Erstaufnahmen stattfinden und wo entgegen dem, was wir ursprünglich einmal zugesagt haben - und zwar nicht, weil wir das einfach daher gesagt haben, sondern weil es unser fester Wille war - nämlich die Anzahl auf 500 zu begrenzen, nun 2.000 ankommen. Es wird gesagt, in meinem kleinen Ort führt das zu Diskussionen und möglicherweise zu Verwerfungen, die wir nicht mehr halten können. Diese haben allen Grund, mit uns ernsthaft zu debattieren und uns zu fragen: Tut

(Präsident Klaus Schlie)

ihr als Staat, als Bundesrepublik, als Europa, als Land genug, um uns zu helfen? Wir müssen miteinander darüber beraten, was wir noch tun können.

Es meint aber nicht - das ist mir ganz wichtig, und das hat auch der Herr Bundespräsident gesagt -, dass unsere Gesellschaft, weder die deutsche noch die europäische, an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen ist. Es meint nicht, dass, wenn 2,8 Millionen Menschen 50.000 eine Heimat geben sollen, wenn auf 1.000, die hier leben, in diesem Jahr 18 dazukommen, sich damit der Zustand unseres Landes fundamental verändert. Das meint nicht - das hat der Herr Bundespräsident genauso wie die Frau Bundeskanzlerin sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, wofür ich zutiefst dankbar bin -, dass diese Entwicklung eine ist, vor der wir uns als Gesellschaft ängstigen müssten, weil sie die Gesellschaft auf eine Art und Weise verformt oder verändert, dass wir sie nicht wiedererkennen würden. Wenn 18 auf 1.000 kommen, dann bleibt die Gesellschaft die, die sie vorher war. Und wenn sie es gut macht, dann wird sie eine noch humanere, eine, die neue Impulse bekommt, aber keine, die sich in ihrem Kern verändert.

Wir müssen dringend das aufnehmen, was der Herr Bundespräsident und die Frau Bundeskanzlerin vor wenigen Minuten in ihrer Regierungserklärung und wir an ganz vielen Stellen sagen und denken. Wir müssen dringend verhindern, dass wir eine Debatte führen, die so tut, als würde hier in unserem Land gerade der Islamische Staat gegründet, weil 20 Menschen aus Syrien kommen, die auf 1.000 treffen, die schon in Schleswig-Holstein sind. Das ist für die, die bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit und oft darüber hinaus helfen, eine Herausforderung, das verändert aber nicht unsere Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir die Debatte nicht auf diesen Punkt verkürzen, meine Damen und Herren, weil wir uns dann in eine verkehrte Richtung bewegen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Es kann doch keine Frage sein - und das wird auch nicht ernsthaft bestritten, weder von Frau Merkel und vom Herrn Bundespräsidenten noch von mir und von anderen, die an dieser Debatte beteiligt sind -, dass wir es besser machen könnten, hätten wir eine planbare Zuwanderung. Es kann nicht ernsthaft bestritten werden, dass es besser wäre, wenn wir in der Lage wären, das Signal auch in die Flüchtlingslager in Jordanien, im Libanon und in der Türkei zu senden, dass wir jedes Jahr geordnet 400.000, 500.000 Menschen nach Deutschland

bringen und die Strukturen dafür in aller Ruhe aufbauen werden. Das wäre besser für all das, was wir auch aus humanitären Gründen tun. Das wäre es! Alle, die an dieser Debatte beteiligt sind und sie mit Realitätssinn beobachten, sagen, das, was im Augenblick geschieht, ist nicht das, was wir können. Es gibt ein solches europäisches funktionierendes Instrument gerade nicht. An keiner Stelle gibt es das.

Ich denke, wir sollten es ernst nehmen, wenn die Bundeskanzlerin Gespräche auch auf internationaler Ebene führt. Wir sollten sie dabei unterstützen und nicht zuwiderhandeln. Dieser Wunsch, der vielleicht auch am Ende europäischer Debatten steht, ist einer, an den zu glauben und ihn auch Stück für Stück umzusetzen wir nicht nachlassen dürfen. Er braucht europäische und internationale Solidarität. Die haben wir im Augenblick nicht.

Allerdings ist mit ganz breitem Stift zu unterstreichen, was die Bundeskanzlerin gesagt hat: Da kann es dann nicht gelten, dass wir so tun, als gehe uns das Leid der Menschen nichts an. Wenn die anderen in Europa sich nicht so verhalten wie wir, dann haben wir eine deutsche Verantwortung. Über die muss man dann aufgrund seines Wertekanons streiten. Aber da bin ich auch zu streiten bereit. Denn es kann nicht sein, dass wir so tun, als wären unsere Grenzen Außengrenzen, und sagen: Pech gehabt, wenn Du der 401. bist, der zu uns kommt. - Das kann nicht die deutsche Antwort sein. Wir müssen darum ringen und uns mühen, eine europäische Regelung zu bekommen. Ich denke, die Bundesregierung tut das mit allen Möglichkeiten, die sie hat. Aber es ist eben schwer. Wir müssen darum ringen, dass sich die Situation in den Herkunftsländern verändert. Wir müssen darum ringen - dazu gibt es auch Instrumente -, dass das UNHCR-Programm für Ernährung wieder aufgestockt wird und nicht gekürzt bleibt,

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW, vereinzelt CDU und PIRATEN)

dass sich die Lage in den Lagern verbessert. Das, meine Damen und Herren, ist wohl der zentrale Schlüssel auch dafür, dass sich nicht eine noch größere Bewegung auf den Weg macht. Umgekehrt kann es der zentrale Schlüssel dafür sein, wieder ein Gefühl von Ruhe vor Ort zu geben.

Wenn wir uns mit Verteilszenarien europäisch aufstellen, können wir auch Antworten finden, wie wir an den Außengrenzen Europas Verteilungen so verbindlich vornehmen, dass sie eine gemeinsame Last für Europa schaffen und sie nicht nur auf deutschen

(Ministerpräsident Torsten Albig)

und schwedischen und manchmal österreichischen Schultern liegt. Aber das sind mühsame Wege. Ich warne uns davor, dass wir diese Debatte auf den Schultern derjenigen austragen, die jetzt an unseren Grenzen stehen, jetzt zu uns kommen und Zuflucht suchen. Denn sie können am wenigsten für diese Debatte, meine Damen und Herren.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Das zu benennen meint nicht - ich weiß, dass mir das auch immer wieder vorgeworfen wird -, Realität zu verkennen. Nein, es ist das Gegenteil. Es ist das Anerkennen von Realität, die eben auf mehreren Ebenen stattfindet. Ich sehe die Realität bei der Annahme durch das Rote Kreuz. Ich sehe die Realität in Boostedt. Ich sehe die Realität hier unten bei den Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Schweden sind. Ich sehe sie, bin dort und erlebe das.

Aber ich sehe eben auch, dass die Antworten in einer Debatte, die sich immer um Grenzsicherung bemüht und auf die wir im Augenblick viel politische Zeit verwenden, mit diesen Menschen gar nichts zu tun haben, meine Damen und Herren,

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

weil von 100 Menschen, die heute zu uns kommen, 93 unbestritten Bürgerkriegsflüchtlinge sind und unbestritten nach der Genfer Flüchtlingskonvention völkerrechtlich ein Recht darauf haben, dass wir uns um sie kümmern. Auch das ist Realität. Beides anzuerkennen ist wichtig: die beladenen Schultern der Bürgerinnen und Bürger zu sehen, aber eben auch eine völkerrechtliche Herausforderung, vor der wir uns nicht einfach wegducken können.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wir werden heute Abend und morgen in Berlin noch schwierige Debatten darüber haben, ob das, was die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin am 24. September 2015 vereinbart haben, morgen ins Werk gesetzt werden kann. Wir haben eine Vereinbarung getroffen, und zumindest die Länder müssten einmal feststellen, dass es nicht in jedem Punkt so im Gesetz steht, wie wir es vereinbart haben. Das ist für uns schon ein großer Angang, so will ich es einmal sagen, wenn 16 Länder mit der Bundeskanzlerin etwas vereinbaren und sich das nicht so in den Gesetzentwürfen des Bundesinnenministers und dann auch in den Beschlusslagen des Deutschen Bundestages wiederfindet.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist für uns alle ein großer Angang. Denn wenn wir Vereinbarungen treffen, dann gilt unser Wort. Aber wir gingen auch davon aus, dass das Wort der Bundesregierung genauso gilt und nicht etwas anderes beschrieben wird.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wir hatten uns nicht darauf geeinigt, dass es zu einer ankündigungslosen Abschiebung kommen soll. Wir haben uns nicht darauf geeinigt. Das ist rechtlich extrem problematisch. So etwas in einem Paket zu finden, verlangt und fordert einem wirklich alles ab. Heute Abend werden es keine leichten Gespräche zwischen den Ländern sein, weder auf der A-Seite noch auf der B-Seite und auch nicht auf der immer größeren gemischten Seite.

Aber Schleswig-Holstein wird am Ende mithelfen, dass das erfolgt, was wir am 24. September 2015 als Signal geben wollten, dass wir unsere Hausaufgaben in Deutschland machen, dass wir auch in der Art und Weise, wie wir Menschen wieder zurückführen, aufeinander zugehen - auch in den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Problemlage. Wenn es nicht noch zu schwerwiegenden Veränderungen in der Debattenlage heute im Deutschen Bundestag kommt, dann wird Schleswig-Holstein die Hand reichen und sagen: Wir wollen, dass wir eine Antwort geben und dass die Menschen das auch sehen.

Das heißt, es wird Erleichterungen geben. Wir werden Leistungskürzungen vorsehen - das fällt uns wahnsinnig schwer -, aber erst dann, wenn vollziehbare Abschiebungsanordnungen vorliegen. Wir werden Sachleistungen anstelle von Geldleistungen haben, was wir nicht unbedingt für klug halten. Die Vereinbarung und die Formulierung, die wir getroffen haben, machen es aber möglich. Dort, wo die Formulierungen dem nicht entsprechen, werden es morgen zumindest die Ministerpräsidenten der SPD- und grünengeführten Länder sehr deutlich machen.

Ein Punkt, der für uns nicht verhandelbar ist - darauf haben wir bei den Gesprächen Wert gelegt und werden es auch nicht loslassen -, ist, dass wir zwar akzeptieren können, dass es sichere Herkunftsstaaten gibt, dass wir aber sehen, dass es auch in sicheren Herkunftsstaaten verfolgte Menschen geben kann, für die es nicht sicher ist, in diesen Herkunftsstaaten zu leben. Diese Menschen haben wir bewusst unter den Schutz unserer Verfassung gestellt. Für diese Menschen - das wird morgen die zentrale Forderung des Ministerpräsidenten von

(Ministerpräsident Torsten Albig)

Schleswig-Holstein sein - muss die Zusage der Bundesregierung gelten, dass wir uns in den Herkunftsländern um die Roma so kümmern, dass diese Zustände von Verfolgung im jetzigen Europa eingedämmt und zurückgedrängt werden. Wir dürfen vor dieser Herausforderung nicht fliehen und so tun, als gebe es sie nicht. Es gibt sie, meine Damen und Herren.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Migration ist - auch das macht mir in der Debatte Sorge - kein Thema von drei oder sechs Wochen oder von drei Monaten. Es ist ein Thema, das uns nicht mehr loslassen wird. Europa muss sich darauf einstellen - auch das ist Realität und gehört zum Aussprechen von Realität -, dass dies nicht mehr enden wird. Wir werden erleben, dass Klimaflüchtlinge nach Europa kommen, wir werden erleben, dass es andere Kriegsgründe gibt, die andere Menschen völkerrechtlich dazu berechtigen, sich auf den Weg zu machen und ihr Leben und ihre Integrität zu schützen. Wir werden das erleben.