Beispiele wie diese und die damit einhergehenden Diskussionen finden sich überall in Schleswig-Holsteins Gemeinden und Städten.
Der Flensburger Historiker Gerhard Paul hat in einem, wie ich finde, äußerst lesenswerten Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ - es liegt etwas länger zurück - im Februar 2001 in einem historischen Längsschnitt die Reichweite dieses Einflusses von über die Nazizeit hinaus währenden Kontinuitäten auf und in Schleswig-Holstein deutlich gemacht.
In seinem Artikel „Flensburger Kameraden“ zeigt er ansatzweise auf, wie sich gerade im Bereich des schleswig-holsteinischen Landesdienstes, nament
lich in der Polizei und in der Justiz, aber in sehr spezifischer Weise auch im Bildungsbereich, namentlich in der Lehrerausbildung und im Geschichtsunterricht, diese Einflussnahme konkret gestaltete und wie lange diese Einflussnahme weiter wirkte.
Meine Damen und Herren, die Fraktionen des Landtags haben sich mit ihrem Antrag einhellig das Ziel gesetzt, diese auf vielen, fast nahtlos fortgesetzten NS-Karrieren beruhenden Strukturen in Regierung, Parlament, Parteien, Verbänden und anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens untersuchen und gewichten zu lassen, um deren Einfluss auf das politische Klima in Schleswig-Holstein jener Jahre zu diskutieren. Es ist ein guter, sinnvoller und gemeinsamer Antrag im Sinne aller Demokraten.
Ich glaube, diese zu erarbeitende wissenschaftliche Studie und die folgende und hoffentlich breite öffentliche Diskussion über deren Ergebnisse helfen unseren und den jüngeren Generationen sowie denen, die nach uns kommen, besser zu verstehen, warum Schleswig-Holstein nach 1945 über Jahrzehnte in Teilen des politisch-gesellschaftlichen Lebens ein doch sehr spezielles Eigendasein geführt hat.
Es geht hier nicht mehr um eine Debatte, bei der die rechtliche, moralische oder politische Zuordnung von Schuld und Verantwortung im Zentrum steht. Auch das ist schon hervorgehoben worden. Nein, es geht um das Erfassen und Verstehen von Zusammenhängen. Es geht um die Aufarbeitung und die Analyse des Aufbaus der jungen Demokratie in Schleswig-Holstein nach 1945. Und es geht um unsere Selbstvergewisserung durch den souveränen Umgang mit diesem über viele Jahre verdrängten Teil der schleswig-holsteinischen Nachkriegsgeschichte.
In diesen Zusammenhang gehört auch das umfassende Gedenkstättenkonzept, das die Landesregierung derzeit mit den Trägern und Verantwortlichen der Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein erarbeitet,
wobei es auch um die Entstehungs- und spätere Wiederentdeckungsgeschichte dieser Gedenkstättenarbeit geht. Die heftigen Reaktionen und Diskussionen um den Umgang mit den wiederentdeckten Erinnerungsorten wie etwa den KZ-Außenlagern Kaltenkirchen oder Husum-Schwesing in den 1980er-Jahren sind Ausdruck dieser lang nachhaltenden Wirkungsgeschichte. Darum ist es umso
Es geht aber auch darum, die Mechanismen von Macht, Machtmissbrauch und Verbrechen deutlich und bewusst zu machen. Und es geht um die schwierige und mitunter unerwünschte bis unterdrückte Auseinandersetzung über den Umgang mit der Nazizeit und der daraus resultierenden Verantwortung in vielen Jahren unserer Landesgeschichte nach 1945.
Diese Reflexion der politischen, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegsjahre ist aber kein zeitlich begrenzter und sich allein auf Schleswig-Holstein beziehender Prozess. Wir treffen auch heute noch im gesellschaftlichen Alltag auf Relikte aus der Nazi-Vergangenheit, deren stetige Aktualität für uns nicht sofort mit jener Zeit und den nachfolgenden Jahren in Verbindung gebracht werden. Ich verweise auf die von meinem Ministerium angestoßene Debatte um eine Bundesratsinitiative zur Bereinigung von Vorschriften im Strafrecht von Nazi-Gedankengut, das den Weg in unsere Demokratie überdauert hat.
So ist etwa § 211 StGB, der das Delikt Mord definiert, in seinem Wortlaut eindeutig von der NaziIdeologie geprägt. Das kann man wortwörtlich nachweisen. Der damalige Staatssekretär des Reichsjustizministeriums, Roland Freisler, ist, wie wir wissen, nicht nur von dort aus bekannt, sondern auch durch das, was er im Volksgerichtshof gemacht und verschuldet hat. Also, dieser Paragraf ist eindeutig Nazi-Ideologie. Für mich ist das geradezu ein klassisches Beispiel für die überdauernde Wirkungsgeschichte.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu unserer Vergangenheit gehören die Jahre der Nazi-Diktatur und der Nachhall auch in Schleswig-Holstein. Eine Gesellschaft darf sich nicht darauf reduzieren, Opfer oder Täter zu identifizieren. Sie hat auch immer den Boden mitbereitet und für den Kontext gesorgt, in dem sich Verfolgung und Mord ereignet haben.
In den Nachkriegsjahren ist man den damit verknüpften Fragen gezielt und auch gern ausgewichen. Das kann man vielleicht psychologisch erklären; aber aus dem Rückblick heute sehen wir, wie wichtig es ist, die Gesellschaft als Ganzes in den Blick zu nehmen - in der Vergangenheit wie in der Zukunft.
Auch dafür steht dieser Antrag. Ich bin froh darüber, dass wir ihn heute in diesem Haus miteinander diskutiert haben. Er geht uns alle an. Dafür danke ich auch allen herzlich.
Die Landesregierung hat die vereinbarte Redezeit um vier Minuten überzogen. Wenn davon Gebrauch gemacht werden soll – bitte, Herr Dr. Bernstein, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es steht dieser Debatte gut an, wenn man, auch bei einer Äußerung, die einen zu einer Entgegnung reizt, nicht sofort aufspringt, sondern einen kleinen Moment darüber nachdenkt. Deswegen möchte ich noch kurz eine Einschätzung zu der Stellungnahme, Herr Kollege Stegner, abgeben, die Sie gegenüber dem Kollegen Klug abgegeben haben.
Wir sind uns alle einig, dass die SPD natürlich eine besondere Rolle in der deutschen Parteiengeschichte einnimmt, weil sie eine ungebrochene Kontinuität aus der Vorkriegszeit gegenüber allen anderen Parteien hat. Ob man aber - so habe ich den Kollegen Klug verstanden - allein daraus ableiten kann, dass SPD-geführte, dominierte Bundesländer sich per se anders verhalten hätten als beispielsweise bürgerlich geführte Bundesländer, das wäre eine interessante Fragestellung innerhalb dieser Untersuchung.
Ich darf im Zuge dieser Debatte darauf hinweisen, dass die Überlegungen, die zur Gründung gerade der Unionsparteien geführt haben, aus dem christlichen Widerstand, aus der Arbeiterschaft genauso wie bis hin zum militärischen Widerstand kommen. Das ist die geistige Wurzel.
Wenn man daraus zu der Schlussfolgerung kommt, dass es per se Unterschiede bei der einen oder anderen parteipolitischen Führungsrolle gegeben habe, dann möchte ich daran ein Fragezeichen machen. Was sehr wohl Gegenstand der Untersuchung sein sollte, ist meiner Meinung nach die Frage, ob die
gesellschaftliche Einbettung, Herkunft, Verknüpfung der jeweiligen Mitgliedschaften unterschiedliche Herangehensweisen an den Umgang mit vorbelasteten Persönlichkeiten aus der nationalsozialistischen Zeit mit sich gebracht haben.
Ich könnte mir vorstellen, dass das auch für die Studie in Schleswig-Holstein eine Erkenntnis bringende Frage wäre, die meiner Meinung nach etwas tiefer geht als die bloße Unterscheidung: hier die einen, da die anderen.
Habe ich Ihren Beitrag eben so verstanden, dass Sie sagen wollten, Sie hätten nicht die Wurzel der Gründung der Union und anderer bürgerlicher Parteien, sondern eine Wurzel beschrieben?
Wir sind uns doch sicherlich einig, dass das nur eine der Wurzeln gewesen ist, wohingegen die SPD als Partei verboten wurde, verfolgt gewesen ist und wiederbegründet wurde. Viele der Wiederbegründer der Partei gehörten zu den Verfolgten. Insofern will ich gar nicht bestreiten, dass Sie eine Wurzel beschreiben.
An der Frage, ob das sozusagen die prägende Gründung der bürgerlichen Parteien in Deutschland gewesen ist, sind Zweifel angebracht. Als Historiker würde ich jedenfalls sagen, das könnte man durchaus bezweifeln. Aber wenn Sie aus „die“ „eine“ machen, sind wir uns wahrscheinlich einig.
Ihre Darstellung teile ich nicht. Denn eine Wurzel einer Partei mache ich nicht an Köpfen fest. Das kann man aber machen. Ich frage mich bei der Wurzel einer Partei, was das geistige Leitbild ist, an dem sich die Partei insbesondere bei ihrer Gründung orientiert.
Die Idee der Christlich Demokratischen Union genauso wie die Idee der Christlich-Sozialen Union ist es, die konfessionelle Spaltung zu überwinden, um eine handlungsfähige und schlagkräftige bürgerliche Mehrheit bilden zu können - im Unterschied zu Weimar. Dieser Gedanke speist sich aus vielen verschiedenen Quellen und gerade auch aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Widerstands.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt zu einem weiteren, jetzt Vierminutenbeitrag Herr Abgeordneter Jürgen Weber das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit wird nicht ausreichen, um die Fragen auszudiskutieren, die jetzt gerade angeschnitten worden sind, zumal es über die Gründungsgeschichte der CDU in Schleswig-Holstein drei bis vier neue Veröffentlichungen gibt. Unter diesen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist auch eine Dissertation, die sich damit befasst hat. Über die Ergebnisse will ich nicht referieren, obwohl ich sie gelesen habe.
Ich will vielmehr auf den Kern zurückkommen; das hat mit der Diskussion zu tun, warum wir diese Studie machen müssen. Denn es gibt viele Dinge, die wir eben nicht wissen. Dabei greife ich auch die Beiträge von Stegner und Bernstein gern auf. Ich nenne ein Beispiel: Natürlich ist es keine Neuigkeit - das sage ich nicht zur Skandalisierung, sondern diese Tatsache ist seit zig Jahren bekannt -, dass der Chef der Staatskanzlei in den Jahren 1950 bis 1958 ein ehemaliger SS-Sturmbannführer sowie ein ehemaliger aktiver Nationalsozialist war, der nach dem Krieg einer demokratischen Partei beigetreten ist und diese Funktion ausgeübt hat.
Interessant ist nicht dieser Fakt, der nicht neu ist, obwohl er schon einiges über die Personalpolitik in Schleswig-Holstein nach 1950 aussagt, sondern das Interessante ist doch: Wie waren die Wirkmechanismen? Was hat das konkret für Personalpolitik der Ministerien bedeutet? Was hat es konkret bedeutet - das wissen wir -, wie viele ehemalige Nationalsozialisten nach dem Krieg Mitglieder des Parlaments gewesen sind? Ich könnte Ihnen jetzt eine Liste aufzählen, welche und wie viele Abgeordnete es bei welchen Parteien waren. Aber das alles kann man nachlesen; ich muss Sie nicht belehren.
Aber die folgenden Fragen müssen untersucht werden: Welche Mechanismen haben eigentlich bei Kandidatenaufstellungen gewirkt? War das eine unterstützende oder eine schwierige Situation? Gab es Netzwerke? Welche Fragen sind gestellt worden? Gab es Probleme dabei? Hat es die Menschen eher zum Hinschauen bewegt? Waren es nützliche Hintergründe?
Das wissen wir alles nicht, erst recht nicht bei den Kommunalparlamenten. Wir können Köpfe aufzählen und sagen, wer vorher was war. Aber wie das funktioniert hat, wissen wir nicht. Man könnte sicherlich aus allen Parteien Beispiele finden. In Schleswig-Holstein sind die Dinge relativ einschlägig. Sie müssen entsprechend untersucht werden.
Auch zur Gründungsphase möchte ich noch einige Ausführungen machen. Die Frage ist nicht, wofür die CDU stand. Um sie zu beantworten, kann man alte Parteiprogramme lesen oder die gemachte Politik untersuchen. Das wissen wir; diese Informationen liegen vor. Man muss nach den Mechanismen fragen. Diese Frage kann man für die FDP viel schärfer als für die CDU beantworten, weil die FDP in Schleswig-Holstein viel früher und viel schärfer als die CDU auf Anti-Entnazifizierungskurs gegangen ist; das sage ich in einem Nebensatz. Aber die Frage bleibt, welche Kräfte sich wie durchgesetzt haben. Warum wurde ein renommierter Nazi-Gegner wie Theodor Steltzer in der Partei relativ schnell kaltgestellt? Er war erster Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, CDU-Mitglied und entstammte einer Bewegung, über die Sie gesagt haben, sie sei aus der Gegnerschaft zu den Nazis entstanden und habe versucht, diesen Bereich der CDU nach vorn zu bringen. Welche Mechanismen haben da gewirkt?
Das kann man auch in anderen Bereichen untersuchen. Das ist doch interessant; das wissen wir nicht. Es reicht nicht aus zu sagen: „Das war so einer, und das war so einer“, sondern wir wollen die Ursachen erforschen. Das will diese Studie.