Protokoll der Sitzung vom 11.03.2005

Darf ich nicht erst einmal beginnen? Lassen Sie mich erst einmal anfangen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Oben drüber stand Textilkombinat Lautex, sozialistischer Großbetrieb, 11 000 Beschäftigte, beeindruckend.

Hinter den Kulissen sah es etwas anders aus. Als Schüler und Student habe ich dort oft gejobbt und gesehen, wie die Frauen unter schlecht isolierten Pappdächern standen. Im Sommer war das Klima manchmal kaum erträglich. Trotz Staub und Lärm wurde im Drei-Schicht-System um die Planerfüllung gerungen.

Ich habe dabei den Weberknoten beherrschen gelernt und war für jede erarbeitete Mark dankbar. Trotzdem gab es immer weniger einheimische Frauen, die bereit waren, diese schwere Arbeit zu tun. Externe Arbeitskräfte mussten her. Zuerst kamen Arbeiterinnen aus Mecklenburg, später aus Ungarn und zuletzt aus Kuba, Angola, Vietnam und Polen.

Natürlich haben sich über die Jahre die Arbeitsbedingungen auch verbessert. Aber so richtig wettbewerbsfähig konnten die Kombinatsbetriebe niemals werden. Das wurde spätestens in dem Moment deutlich, als nach dem Fall der Mauer die Löhne zu steigen begannen. Viele der Produktionsstätten wurden sofort geschlossen; allein in meiner Heimatstadt Neusalza-Spremberg zwei.

Die etwas moderneren, im speziellen Fall die in Neugersdorf und in Leutersdorf, sollten aber unter allen Umständen erhalten bleiben. Der Staat in Gestalt Sachsens und die Treuhandanstalt haben viel Geld angefasst, auch europäisches, um unbürokratisch zu helfen. Das Kleingedruckte bei den europäischen Förderbedingungen stand damals nicht im Mittelpunkt der Überlegungen. Ziel war es, durch Einsatz von Beihilfen, in dem speziellen Fall in Höhe von 199 Millionen DM, so rasch wie möglich einen seriösen Investor zu finden.

Aber Textilien wurden nicht nur in Ostdeutschland produziert. Die Textilfirmen in Westdeutschland und in Europa hatten damals bereits den enormen Druck aus Fernost auszuhalten. Sie blickten argwöhnisch bis neidisch auf die mit öffentlichen Mitteln gepäppelte Konkurrenz aus Sachsen. Abgeordnete aller Couleur wurden scharf gemacht, um für die Standorte in Süddeutschland und anderswo zu kämpfen. Jegliche tatsächliche oder vermutete Abweichung vom Beihilferegime wurde minutiös nach Brüssel gemeldet und mit Klage gedroht.

Mancher potenzielle Investor – und es gab welche – hat das gemerkt und ist vorsichtig geworden. So kam das, was keiner wollte: Nach Abschluss der umfangreichen Investitionstätigkeit hatten wir zwei relativ moderne Werke. Der monatelang, wenn nicht sogar jahrelang hofierte potenzielle Erwerber aber war im letzten Moment abgesprungen.

Als zu allem Überfluss die Europäische Kommission dann noch mit dem Hinweis auf Regelverstöße ihre Millionen zurückverlangte, gab es für die damalige ERBA LAUTEX GmbH nur noch den Weg in den Konkurs. Mit der Gründung der NEU ERBA LAUTEX sollte aber trotzdem die Privatisierung gelingen.

Ich habe mich damals als Wahlkreisabgeordneter intensiv dafür eingesetzt, dass die NEU ERBA LAUTEX neue staatliche Millionen bekam, insgesamt weitere 9 Millionen DM. Neue Kollektionen wurden vorgestellt, Märkte zurückerobert, Hoffnungen geweckt. Die Firma wurde im Auftrag der Treuhandnachfolger mehrfach weltweit zum Verkauf ausgeschrieben, letztlich vergebens.

Der vorerst letzte Anlauf war im vergangen Jahr der Versuch eines Management-buy-out. Leider scheiterte auch der, weil das Konsortium aus Banken und Beteiligungsgesellschaften letztlich nicht bereit war, den Neustart in der Struktur Weberei plus Veredlung zu finanzieren.

Herr Lehmann, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?

Wenn es etwas nützt.

Dann versuchen wir es. Bitte.

Herr Kollege Lehmann, geben Sie mir Recht, dass potenzielle Investoren vor allem deswegen abgeschreckt sind, weil eben diese möglichen Rückforderungen wie ein Damoklesschwert über diesem Betrieb hängen, und dass, wenn dies nicht wäre, dann auch Investoren zu finden wären?

Ich gebe Ihnen nicht Recht, weil das, was Sie sagen, nicht die Wahrheit ist. Es geht vor allen Dingen – wie bei jeder wirtschaftlichen Unternehmung – um ein tragfähiges Firmenkonzept, so dass die Banken bereit sind, zur Finanzierung beizusteuern, und das ist das, was eigentlich fehlt. Aber dazu komme ich noch. Die Frage der Europäischen Union, die Sie als „Gespenst“ hinstellen wollen, ist daneben. Ich sage Ihnen das so freundlich. Wenn Sie zuhören, werden Sie das noch mitbekommen.

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage oder eine Nachfrage?

Bitte schön.

Wissen Sie auch, dass auch Banken – nach unseren neuesten Recherchen – dort investieren, wenn diese Sicherheit da wäre? Die Rückforderung der 4,5 Millionen Euro bricht dem Unternehmen das Genick. Wenn diese nicht wäre, würde dieses Unternehmen, das sich doch recht gut am Markt etabliert hat, seine Chance haben.

Herr Dr. Müller, Sie befassen sich vielleicht seit sechs Wochen mit diesem Thema. Das merkt man auch an Ihrem Antrag. Sie benutzen das Schicksal der Belegschaft der ERBA LAUTEX, um für Ihre Sicht, für Ihre Ablehnung eines vereinten Europas zu werben.

(Beifall bei der CDU und der SPD – Uwe Leichsenring, NPD: Das ist aber billig, Herr Lehmann! – Weitere Zurufe von der NPD)

Wir kommen darauf noch zurück. Wenn Sie zuhören, werden Sie das noch mitbekommen.

Das vorläufige Ergebnis dieser Geschichte sind zwei funktionierende, jedoch erneut in Konkurs gegangene Werke und 200 gekündigte Mitarbeiter und Lehrlinge. Es ist nun die Zeit der Schuldzuweisungen. Sie wissen, der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg ist eine Waise. Das war nie anders. Was ich aber unerträglich finde – und jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Dr. Müller, und Ihrem Antrag –, ist das Verhalten der NPD, die das vorläufige Schicksal von 200 Menschen zum Anlass nimmt und in unverschämter und verfälschender Weise gegen das vereinte Europa polemisiert. Gerade in Sachsen haben viele Firmen von den Hilfen aus Brüssel profitiert und tun dies noch heute.

(Beifall bei der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Mit der Inanspruchnahme dieser Mittel sind für die Zuwendungsempfänger auch Förderkonditionen verbunden, die man akzeptiert, auch die bei Verstößen drohenden Pönale. Die EU für das bisherige Schicksal der NEL allein verantwortlich zu machen ist unredlich. Die Diffamierung der europäischen Förderpolitik als ausländisches Diktat ist anmaßend. Ihre ideologischen Ziehväter wollten ein vereinigtes Europa von der Bretagne bis zur Krim unter dem Hakenkreuz. Gott sei Dank ist es ihnen

nicht gelungen. Es hat Millionen Menschen Tod, Not und Vertreibung gebracht.

(Klaus Baier, NPD: Was hat das mit Hakenkreuz zu tun?)

Ich beziehe mich auf Ihren Antrag. – Unser vereintes Europa sichert Frieden, Kooperation und Prosperität. Daran ändert auch die unbefriedigende Situation bei der NEU ERBA LAUTEX nichts. Noch ist die Hoffnung nicht gestorben!

Eigentümer, Konkursverwalter, Politik und die gekündigte Belegschaft sollten alles tun, um die drohende Zerschlagung und Verramschung der Werke zu verhindern. Es liegt nicht im Interesse der Europäischen Union, die hoch geförderten Ausrüstungen nun für ein Trinkgeld nach Ägypten oder in die Türkei zu verkaufen.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der Staatsregierung)

Ziel muss es sein, den zweifellos leistungsfähigen Kern als Einheit zu privatisieren. Darauf sollten sich unsere Anstrengungen konzentrieren. Mindestens ein Bewerber hat bereits sein Gebot abgegeben. Ich bitte die Staatsregierung, gemeinsam mit den handelnden Personen um jeden Job in der Oberlausitz zu kämpfen. Jeder erhaltene Arbeitsplatz ist wichtig. Den scheinheiligen und demagogischen Antrag der NPD hingegen bitte ich abzulehnen.

(Beifall bei der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der Staatsregierung – Uwe Leichsenring, NPD: Pfui Teufel!)

Für die PDS-Fraktion spricht Frau Abg. Simon.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sehr interessant, über die unterschiedliche Sicht auf bestimmte Vorkommnisse zu hören. Gestatten Sie mir deshalb, dass ich etwas in die Tiefe gehe. 1990 hatte die LAUTEX knapp 11 000 Mitarbeiter, neun Spinnereien, 32 Webereien, sechs Veredlungsbetriebe, sieben industrielle Kraftwerksanlagen sowie mehrere Druckereien. 2005 gibt es noch eine Weberei, eine Veredelung, einen Geschäftsführer und 220 verzweifelt um ihre Arbeitsplätze kämpfende Mitarbeiter, vor denen ich nur meinen Hut ziehen kann.

(Beifall bei der PDS, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Dazwischen liegen nicht nur 15 Jahre Zeit, sondern auch 15 Jahre Aufbau Ost und 15 Jahre Tätigkeiten von Treuhandanstalt, Beteiligungs- und Managementgesellschaft Berlin, BvS, Investorensuchen über KPMG und Insolvenzverwalter, Konkurse in den Jahren 1996 und 1999, eine inzwischen angeordnete Liquidierung und Rückforderungen – auch der EU – in Millionenhöhe.

In der LAUTEX-GmbH-Zeit, also der Zeit des Wirkens der Treuhand und ihrer Nachfolgegesellschaften – und jetzt hören Sie gut zu –, probierten zehn Geschäftsführer 32 Konzepte aus, strukturierten den Betrieb auf Massen

produktion mit geringem Veredelungsanteil um, was zu Riesenverlusten führte, schafften Maschinen an, die eigentlich überhaupt niemand richtig brauchte, setzten mit Hilfe extra dafür angeworbener externer Berater auf Produkte, die schon lange im Ausland zu einem Bruchteil der Kosten produziert wurden, und stellten fast gänzlich die Buntgewebeproduktion mit eigener Garnfärberei ein, die bis dahin noch gut funktioniert hatte.

Ab 1995 agierte einer als Geschäftsführer, der vorher gerade in Berlin eine wunderbare Pleite hingelegt hatte. Er stellte den Betrieb mehr auf Regeneratfasern und Synthetik um – wieder in den unteren bis mittleren Qualitäten –, obwohl jeder wusste, dass auch diese Produktion in Deutschland nicht rentabel sein kann. Ab 1996/1997 kristallisierte sich ein Markt im Bereich der buntgewebten Hemdenstoffe heraus. Die Maschinenanlagen für die Herstellung derselben waren noch vorhanden. Hoffnung keimte auf und ein Licht am Ende des Tunnels blinkte.

Ende 1997 konnte ein Investor gefunden werden mit einem zweisäuligen Konzept, bestehend aus der Produktion von reinem Hemden- und Blusenstoff im modischen bis hochmodischen Bereich innerhalb der Saison und von Rohgeweben für die Weiterverarbeitung als Berufsbekleidung außerhalb der Saison. Der Investor beteiligte sich in Größenordnungen selbst, brachte Wirtschaftsgüter, Auftragsbestände und einen dazugehörigen Kundenstamm ein, so dass die dann ERBA LAUTEX heißende Firma 1998 einen Umsatz von 57 Millionen Euro erzielte. Die Produktionsanlagen waren voll ausgelastet.

In all dieser Zeit hing als Bedrohung immer die ungeklärte Frage der EU-Genehmigung von Fördergeldern über dem Betrieb. Aus heutiger Sicht muss eingeschätzt werden, dass nie – nie! – eine saubere Trennung zwischen treuhandverwaltetem Betrieb und privatisierter Einrichtung erfolgte, um das Wirken eines privaten Investors überhaupt zu ermöglichen.

Mit Schreiben vom August 1998 setzte die Europäische Kommission die Bundesrepublik Deutschland über die Entscheidung in Kenntnis, wie das Verfahren zum neuen Beihilfepaket, das heißt, inklusive der gewährten Summen für die Privatisierung, anderthalb Jahre nach Antragstellung ausgehen wird.

An diesem Punkt setzt die NPD an, um unter Missbrauch der vielleicht tragischen Entwicklung der Textilindustrie der Oberlausitz ihr europafeindliches Süppchen zu kochen. Da ist die Rede von Machtansprüchen der vom deutschen Volk nicht demokratisch legitimierten EU-Kommission, vom Primat der rigoros fremdgesteuerten Globalisierung und der erzwungenen Gleichschaltung der Märkte, was immer das auch sein soll.

Dass Sie so wütend gegen die EU hetzen, macht mir die EU – bei allen Problemen, die es gibt – fast richtig sympathisch.

(Beifall bei der PDS und den GRÜNEN – Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Schließlich entstand sie auch aus den Lehren eines von Hitlerdeutschland angezettelten Zweiten Weltkriegs, aus der Überwindung der Feindschaft der europäischen Völker. Mit der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsrahmens verbindet sich die Chance zur inne

ren Friedenserhaltung, zur gemeinsamen Bewältigung schwieriger Bedingungen.

Durch europäische Wirtschaftsverflechtungen und gemeinsame Währung ist eine erneute Unterstützung der deutschen Industrie für nationalistisches und nationalsozialistisches Gedankengut hoffentlich ausgeschlossen – zum Glück, finde ich. Pech für Sie!

(Beifall bei der PDS)

Zurück zum Hintergrund der Rückforderungen der EUKommission, denn auch dort täuschen Sie sich als Antragsteller gewaltig. So einfach ist das Leben eben nicht, wie Sie es darstellen, dass die böse EU an allem schuld ist und der deutschen Wirtschaft nur schaden will. Immerhin hat die Kommission im Jahre 1999 auf 30 Seiten ihre Entscheidung begründet und darin kommen eben die deutschen Behörden gar nicht gut weg.

Wer Gelder beantragt – als Treuhand oder deren Nachfolger, mit Unterstützung der Bundesregierung oder in deren Auftrag –, der muss logischerweise auch stichhaltige Konzepte und exakte Zahlen nachweisen. Doch wenn zehn Geschäftsführer 32 sich teils widersprechende Konzepte erstellen, ist deren finanzielle und fördertechnische Untersetzung sicherlich sehr kompliziert.

Logischerweise stellte dann die Kommission fest, dass die Gesamtkosten für die Umstrukturierung nicht bekannt waren, Fristverlängerungen beantragt und nicht eingehalten wurden, Informationen sich widersprachen, Unterlagen nicht weitergereicht wurden, mal von Überkapazitäten gesprochen wurde, was vier Wochen später wieder dementiert wurde, im Jahr 1998 Tabellen aus dem Jahr 1992 mit angeblich aktuellen Werten eingereicht wurden usw. usf.