Protokoll der Sitzung vom 20.01.2005

Nach einer in der „Sächsischen Zeitung“ dokumentierten Aussage von Sylvia Herzog von der Sächsischen Regionaldirektion liegt die Ursache auch in der Umstrukturierung der Arbeitsvermittlung. Einen solchen Irrsinn muss man sich einmal vor Augen führen. Da müssen sich Millionen von Deutschen an eine durch Hartz IV verursachte Armut im Vertrauen auf das Versprechen einer besseren Arbeitsvermittlung gewöhnen und dann führt allein schon die Umsetzung dieser so genannten Reform zu einem wirklich drastischen Absturz in der Zahl der erfolgreichen Arbeitsvermittlungen von einem Drittel innerhalb nur eines Jahreszeitraums.

Hier liegt auch die große Augenwischerei, die die Etablierten im Zusammenhang mit Hartz IV betreiben. Wo, bitte schön, sollen denn die Stellen herkommen, in die ein Arbeitsloser in der Lausitz, im Erzgebirge, in Niederschlesien oder in der Sächsischen Schweiz vermittelt werden soll? Eine Wende auf dem Arbeitsmarkt ist trotz aller guten Worte, die Wolfgang Clement am 3. Januar vor einer Dresdner Arbeitsagentur verlor, nicht in Sicht. Von einem guten Start kann keine Rede sein, wenn die Stimmung im Lande am Boden ist.

Die Arbeitslosen in Sachsen fürchten sich nach wie vor vor dieser Reform, weil sie zwar wesentlich weniger Geld, aber keine Stellen sehen. Für Jugendliche soll es Pflichtpraktika geben, die sie mit der Wirtschaft zusammenbringen, aber eine Perspektive erwächst daraus kaum. Ohne diese Perspektive jedoch, meine Damen und Herren, bleibt Hartz IV nur eine Chiffre für einen neuen Armutsstandard in Deutschland.

Danke schön.

(Beifall bei der NPD)

Ich erteile der Fraktion der FDP das Wort. Herr Morlok, bitte.

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Wir haben als FDP bereits deutlich gemacht, welche Probleme wir mit der Hartz-IV-Gesetzgebung haben. Es ist so, dass zwar die Bedingungen verschärft wurden, aber durch Hartz IV nicht ein einziger neuer Arbeitsplatz geschaffen worden ist. Das ist das Problem dieses Gesetzes, und dieses Problem werden wir auch weiterhin haben. Wenn man seitens der Regierungsfraktion – Frau Nicolaus sagte es bereits – der Auffassung ist, dass wir wirtschaftlich gut dastehen, dann ist das ein weiterer Beleg dafür, dass die Staatsregierung hier in Sachsen unter einem gewissen Realitätsverlust leidet – zumindest die von ihr getragenen Fraktionen.

(Beifall bei der FDP)

Wie man angesichts von über 20 % Arbeitslosenquote von „wirtschaftlich gut dastehen“ sprechen kann, ist mir schleierhaft. Es ist eine Verhöhnung der Einzelschicksale der betroffenen Menschen.

(Beifall bei der FDP, der PDS und der NPD)

Es ist richtig, dass wir weit weniger Probleme mit der Einführung gehabt haben als ursprünglich befürchtet, und ich kann mich nur denen anschließen, die den Mitarbeitern in den Agenturen, aber auch in den Kommunen und Landkreisen, bereits dafür gedankt haben, die teilweise im Mehrschichtbetrieb die Erfassung der Daten vorgenommen haben. Ihnen ist zu verdanken, dass wir so wenige Probleme gehabt haben.

Es ist aber auch festzustellen, dass die eigentliche Aufgabe der Arbeitsvermittlung im Rahmen der Umsetzung von Hartz IV in den Hintergrund getreten ist. Genau das wollten wir gerade nicht erreichen. Wir wollten eine bessere Vermittlung durch die Gesetzgebung bewirken. Wir haben auch erhebliche finanzielle Aufwendungen für die bereits angesprochenen Überstunden. Außerdem haben wir aufgrund der Fehler, die vorgekommen sind, erhebliche Schadenersatzforderungen von Banken zu befürchten. Das heißt, auch die Kosteneinsparung, die eigentlich mit Hartz IV verbunden sein sollte, ist zumindest in der Anfangsphase von Hartz IV nicht eingetreten.

Wir mahnen nach wie vor an, im Freistaat entsprechende Regelungen zu schaffen, um arbeitswilligen Menschen besser unter die Arme greifen zu können. Das geht nicht durch Subventionen, und es geht nicht durch Förderprogramme. Was wir brauchen, sind bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen, eine Deregulierung und eine Entbürokratisierung. Wir müssen den Freistaat für die Zukunft fit machen, und in dem Maße, in dem wir ihn für die Zukunft fit machen, werden hier auch neue Arbeitsplätze entstehen.

Ich kann Sie nur alle aufrufen, sich bei den anstehenden Debatten über verschiedene Gesetze von diesen Überlegungen leiten zu lassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort. Herr Weichert, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Apfel, gibt es ein deutsches Wort für „Kollateralschäden“?

(Allgemeine Heiterkeit – Beifall bei der SPD – Holger Apfel, NPD: Da lachen Sie aber zu spät, merken Sie das?)

Zunächst einmal gebührt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kommunen und Arbeitsagenturen ein großes Dankeschön für ihre Arbeit und ihren Einsatz bei der Vorbereitung und Umstellung auf Hartz IV. Hartz IV, meine Damen und Herren, ist ein erster wichtiger Schritt in den Einstieg in die steuerfinanzierte Grundsicherung, eine langjährige Forderung bündnisgrüner Sozialpolitik.

(Widerspruch der Abg. Dr. Barbara Höll, PDS)

Ja, ganz genau. – „Die Bescheide sind richtig gerechnet und richtig entschieden worden.“ Das behauptete die Bundesagentur Ende November in einer Pressemitteilung. Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Die vorliegenden Bescheide und die Berichte der Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort beraten, zeigen: Viele Bescheide sind fehlerhaft und rechtswidrig. Die Praxis zeigt auch in Sachsen: Das System hat viele Tücken. Viele Probleme zeigen sich aber erst in der Praxis. Erfahrungswerte gibt es vorher nicht. Aber die meisten Probleme sind lösbar oder zumindest reduzierbar, wenn die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung und die Fallmanager sowie alle am praktischen Prozess Beteiligten mit Reformfreudigkeit und Willigkeit an diese Aufgabe gehen.

Mit einer ständigen Evaluation der Probleme und deren schneller Behebung wäre allen geholfen. Alle sind aufgerufen, dort mitzutun. Die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen zum Beispiel sucht hier die Unterstützung der Betroffenen. Sie ist daran interessiert, fehlerhafte Bescheide zu sammeln, und erarbeitet zurzeit konkrete Hilfen und Mustertexte für Widersprüche zu den Bescheiden.

(Heinz Eggert, CDU: Alle sind aufgerufen!)

Meine Damen und Herren! Wir haben es hier nicht mit Vorgängen, sondern vor allem mit Menschen zu tun. Bürgerfreundlichkeit, Schnelligkeit und Beratungsbereitschaft sind nötig. Dazu gehört auch eine ausreichende Qualifikation der Berater und Betreuer, damit sie wirklich beraten und betreuen können. Wenn es nämlich einfacher ist, ALG II abzulehnen – zum Beispiel wegen einer bestehenden Lebensversicherung, die aber eigentlich gar nicht zur Disposition steht –, statt einem Antragsteller die Chance der Warteschleife zu geben, um noch nötige Bescheide einzubringen, dann ist etwas im System falsch.

Fakt ist: Hartz IV läuft. Es ist nach der kurzen Zeit aber noch viel zu früh, Bilanz zu ziehen. Wichtig ist jedoch, eine so grundlegende Umgestaltung der Arbeitsmarktund Sozialpolitik immer sorgfältig auszuwerten und mit Augenmaß zu begleiten. Wichtige Themen für die Begleitung dieser Reform im laufenden Jahr sind für uns Bündnisgrüne drei Beispiele:

Erstens. Zuverdienstmöglichkeiten unter 400 Euro sind mit 15 % sehr eng gestrickt. Die Union hat diese Position im Vermittlungsausschuss durchgesetzt. Wir dagegen haben immer gesagt: Jeder zweite Euro bis 400 Euro muss anrechnungsfrei sein; also lieber Brücken zum ersten Arbeitsmarkt bauen, anstatt Transferempfänger von öffentlicher Fürsorge abhängig machen. Eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt wird mit verbesserter Zuverdienstregelung deutlich attraktiver als öffentlich angebotene Zusatzjobs.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Karl Nolle, SPD)

Zweitens. Die Höhe der Leistungssätze wird im Jahr 2005 auf der Grundlage der neuen Einkommens- und Verbraucherstichprobe bewertet werden. Ich gehe davon aus, dass sich die Lebenshaltungskosten in Ost und West angeglichen haben und eine unterschiedliche Leistungshöhe nicht mehr gerechtfertigt ist; denn, meine Damen und Herren, wenn ein Papenburger für sein Geld mehr als ein Münchener bekommt – wovon ich einmal ausgehe –, warum hat er dann nicht auch weniger Arbeitslosengeld II als die Menschen im Osten? Das ist nicht vermittelbar.

(Heinz Eggert, CDU: Sie sitzen doch in der Regierung!)

Also: Dieses Ost-West-Schema funktioniert nicht.

Drittens. Wir werden Hartz IV intensiv begleiten. Mit dem Aufbau eines Informationsnetzwerkes zur kommunalen Umsetzung erreichen uns viele Beispiele einer gelungenen Umsetzung vor Ort, die die Gestaltungsfreiräume im Gesetz für eine effiziente und zielgerichtete lokale Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose nutzen.

Meine Damen und Herren! Am Ende muss daraus eine Förderlandschaft entstehen, die nicht mehr auf bundeseinheitliche Detailregelungen setzt, sondern den individuellen und regionalen Besonderheiten – auch und vor allem denen in Sachsen – gerecht wird. Lassen Sie uns das gemeinsam voranbringen!

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Karl Nolle, SPD)

Ich erteile der Fraktion der PDS das Wort. Frau Lay, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Nicolaus, es geht nicht um das Einzelbeispiel. Aber jedes Gesetz muss sich ja wohl in der Praxis beweisen. Gemessen an dem, was wir bislang in der Praxis erleben, erweist sich Hartz IV in jeglicher Hinsicht als Flop. interjection: (Beifall bei der PDS)

An erster Stelle geht es doch darum, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. In der Realität erleben wir das glatte Gegenteil. Hartz IV schafft keine neuen Arbeitsplätze – nein, es vernichtet reguläre Beschäftigung. Das ist doch keine Chance! Das ist eine dauerhafte Deklassierung der davon Betroffenen. Wer sich jetzt wie Sie, Herr Jurk, empört, dass auch die Privatwirtschaft Ein-Euro-Jobs an

bieten will, hat offenbar nicht begriffen, worum es in Wirklichkeit geht.

Es geht doch genau um die Schaffung eines Niedriglohnsektors. Es geht um die Senkung aller Löhne.

(Staatsminister Thomas Jurk: Gemeinnützige Tätigkeit!)

Das ist der eigentliche Kern des Gesetzes, und es ist scheinheilig, sich jetzt darüber aufzuregen.

(Beifall bei der PDS)

Eine bessere Vermittlung der Arbeitssuchenden wollte man erreichen. Tatsächlich sind die Agenturen durch 75 000 Widersprüche lahm gelegt. Zu ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich in Arbeit zu vermitteln, wird hier monatelang kein Mensch mehr kommen. Die Kommunen sollten finanziell entlastet werden. Stattdessen bleiben sie zumindest im Osten noch stärker belastet. Und so ist es nur folgerichtig, dass jetzt einige sächsische Landkreise den Klageweg beschreiten.

Schön sparen wollte man durch Hartz IV. Das ist die Wahrheit. Aber noch nicht einmal das will so richtig funktionieren. In Wirklichkeit wird es auch für den Bund teurer, so dass wir jetzt auch einen Nachtragshaushalt für die Bundesagentur fordern müssen. Dann wollte man auch irgendwie modern sein. Aber modern sind an diesem Gesetz wirklich nur die Begriffe. Hartz IV ist nicht nur ein Verarmungsprogramm, sondern es ist auch ein großes Umbenennungsprogramm. Der Hilfeempfänger wurde zum „Kunden“, das Amt zur „Agentur“, der Zwang zur „Aktivierung“, die Entrechtung zur „Eigenverantwortung“, Raider heißt jetzt „Twix“ und die Versorgungsehe „Bedarfsgemeinschaft“.

(Beifall bei der PDS und der NPD)

Nein, meine Damen und Herren, modern ist an diesem Gesetz gar nichts. Es ist ein Rückfall in das 19. Jahrhundert. Dahinter steht ein reaktionäres Menschenbild, nämlich das vom faulen Arbeitslosen, der selber an seiner Arbeitslosigkeit schuld ist. Was wir erleben, ist doch ein Paradigmenwechsel. Bis vor kurzem galt: Von Arbeit muss man leben können. Es galt auch, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Rechte haben: auf freie Berufswahl, auf Tariflohn, auf Urlaub, auf Sozialversicherung und auf Mitbestimmung. Das alles gilt bei einem Ein-Euro-Job nicht. Der moderne Ein-Euro-Jobber ist ein entrechteter Tagelöhner und sonst gar nichts.

(Beifall bei der PDS und der NPD)

Was wir hier erleben, das ist doch nicht nur das Verschwinden der Sozialdemokratie in Sachsen, das ist auch das Verschwinden sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik. Die kann ich hier einfach nicht erkennen. Was wir auch erleben, Herr Kollege, das ist der Wandel der GRÜNEN von einer links-emanzipatorischen zu einer bürgerlich-liberalen Partei.

(Beifall bei der PDS – Widerspruch bei der FDP)

Meine Kollegen von der FDP, Sie haben immerhin erkannt, dass Freiheit und Gleichheit zusammengehören. Deshalb haben Sie sich zu Recht auch gegen das HartzIV-Gesetz gewehrt. Die GRÜNEN hingegen plakatieren: „Frauen machen Arbeit.“ Ja, dann seien Sie doch ehrlich, stehen Sie doch zu dem, was Sie auf Bundesebene tun, und plakatieren Sie beim nächsten Mal: „Hurra, endlich Hausfrau!“

(Heiterkeit und Beifall bei der PDS und der FDP)