Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich halten wir, ebenso wie es in der Antragsbegründung anklingt, das Instrument des Wiederholens einer Klassenstufe für denkbar ungeeignet und dessen pädagogischen Erfolg für sehr zweifelhaft.
Ungeeignet ist das Instrument nicht nur aus dem Grund, dass der Schüler bzw. die Schülerin ein Jahr später ihre Ausbildung beginnen können, sondern weil das Wiederholen einer Klassenstufe in der Mehrzahl der Fälle für die persönliche Entwicklung des einzelnen jungen Menschen wenig bringt oder sogar den gegenteiligen Effekt hat.
Was passiert mit dem einzelnen Schüler? Er wird aus seinem unmittelbaren Umfeld herausgerissen, wird als
Sitzenbleiber stigmatisiert und ist der Verlierer. Er muss ein ganzes Schuljahr wiederholen, auch wenn er nur in einem Fach leistungsdefinierte Defizite aufweist. Frustrationen sind vorprogrammiert. Ob diese Frustrationen die Lernmotivation steigern, ist sehr fraglich.
Insofern ist dem Anliegen der FDP eine gewisse Sympathie entgegenzubringen, das das Instrument des Klassenwiederholens ablehnt und eine individuelle Förderung hervorhebt. An dieser Stelle ist jedoch zu hinterfragen, warum ein junger Mensch den sogenannten schulischen Anforderungen nicht gerecht wird. Für ein erfolgreiches Lernen sind die eigene Motivation, das Interesse und die Berücksichtigung des eigenen Lerntempos wichtig. Das Problem der Klassenwiederholer zeigt klar die Grenzen unserer Schulkultur. Ein Blick in die skandinavischen Länder verdeutlicht, dass es auch anders geht.
Unsere heutige Schule ist auf die Erfüllung von Lehrplänen in einer Klasse ausgerichtet. Die Vermittlung von Wissen steht im Vordergrund. Die Ausbildung von individuellen und sozialen Kompetenzen wird fast unberücksichtigt gelassen. Der klassische Unterricht richtet sich weniger an den einzelnen Lerner bzw. die einzelne Lernerin, als vielmehr an eine Lerngruppe. Im Rahmen dieser auf den Frontalunterricht ausgerichteten Pädagogik muss die einzelne Lehrkraft damit überfordert sein, für jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin Diagnosen zu erstellen, Pläne zu entwerfen und deren Erfüllung einzuschätzen.
Wie viele Schülerinnen und Schüler hat denn ein Fachlehrer im Schuljahr zu unterrichten? Unterrichtet er im folgenden Schuljahr noch die gleichen Schüler? Kompensieren ließe sich das nur durch einen bedeutend höheren Personaleinsatz oder
durch eine andere Lern- und Schulkultur – das wird Sie jetzt nicht wundern, wenn ich das sage –, die Lernprozesse anders strukturiert und den einzelnen jungen Menschen und nicht das Kollektiv im Blick hat, die damit die Schülerin bzw. den Schüler selbst in eine aktive Rolle bringt, den Spaß an der Entdeckung von Erkenntnis und Wissen fördert und damit den Schüler bzw. die Schülerin befähigt, Verantwortung für ihre eigene Entwicklung zu übernehmen, und so die Möglichkeit einer individuellen Bildungsbiografie eröffnet.
Dies setzt voraus, dass Schulen Spielräume erhalten, um Lernprozesse neu zu organisieren und klassische Unterrichtsformen zu verlassen. Die Konzepte der nunmehr bewilligten Gemeinschaftsschule sind hierfür gute und richtige Ansätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion wird diesen Antrag ablehnen. Zwar verweist der Antrag auf ein zentrales Problem, nämlich dass der Bildungsprozess viel zu wenig auf den Bildungserfolg des einzelnen jungen
Menschen ausgerichtet ist. Die Intention des Antrages bleibt allerdings im traditionellen Verständnis der Schule.
Das Hervorheben eines individuell abgestimmten Förderunterrichtes ist eine kurzfristige Lösung, die unter den gegebenen Umständen zwar zu begrüßen ist, das eigentliche Problem aber nicht löst. Wenn wir zu einer anderen Schul- und Lernkultur finden, dann werden wir auch das Problem der Klassenwiederholung lösen. Mit den Gemeinschaftsschulen haben wir den Weg hin zu einer anderen Lernkultur geöffnet – unterstützen Sie bitte diesen Weg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Klassenwiederholung ist pädagogisch fragwürdig. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen deshalb das Sitzenbleiben aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ab.
Wir wollen die Anzahl der Sitzenbleiber nicht nur verringern, sondern wir wollen das Sitzenbleiben abschaffen.
(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion.PDS und der FDP – Dr. Martin Gillo, CDU: Die Zensuren auch? – Rolf Seidel, CDU: Sie denkt wahrscheinlich an ihr eigenes Leben zurück! – Heiterkeit)
Meine Herren von der CDU, schauen Sie mal: Dort vorn gibt es Saalmikrofone – auch Herr Seidel darf sich dort gern hinbemühen und mir eine Zwischenfrage stellen; ich würde sie auch beantworten.
Dem schwachen Schüler wird nämlich durch das Sitzenbleiben nicht geholfen, indem man ihn aus der Klassengemeinschaft herausreißt und ihm das Stigma des Scheiterns anheftet. Kaum ein anderes Schulsystem produziert so viele Wiederholer wie das deutsche. Statistisch gesehen soll jeder vierte Schüler bis zur 10. Klasse einmal hängen geblieben sein. Das heißt, auch hier im Saal müsste es Leute geben, die auf eigene Erfahrungen zurückblicken können. – Ich nicht!
(Heiterkeit bei der CDU – Dr. Fritz Hähle, CDU: Ich glaube, auch Einstein! – Heiterkeit des Staatsministers Steffen Flath)
Weitere 10 % werden vor ihrer Einschulung ein Jahr zurückgestellt. – Der Heiterkeitsausbruch des Ministers zeigt ja, dass es doch eine gewisse Sicht auf Menschen
Jeder vierte Schüler bleibt also sitzen, 10 % werden vor der Einschulung zurückgestellt. Das heißt, es gibt in Deutschland eine Kultur des Sitzenbleibens vor der Einschulung. Trost spenden kann dieser Umstand allein nicht, denn eine lange Praxis von Sitzenbleibern zeigt uns doch, dass hier etwas grundlegend am System falsch ist. Nicht immer sind es diejenigen, die nichts können, sondern manchmal sind es welche, die hochbegabt sind, die nicht in das System Schule hineinpassen, vielleicht auch lästig geworden sind. Prominente Sitzenbleiber sind Thomas Mann, Edmund Stoiber oder Guido Westerwelle – es sagt also nichts über die Fähigkeiten eines Menschen aus.
Es gibt Untersuchungen zur Zurückstellung am Schulanfang – sozusagen ein Sitzenbleiben vor Schulbeginn –: Von den Kindern, die nach entsprechenden Tests als nicht schulreif eingestuft wurden, blieben bis zum 9. Schuljahr 13 % sitzen, und von denen, die trotz einer fehlenden Einschulungsreife eingeschult wurden, sind bis zur 9. Klasse 28 % einmal sitzen geblieben – also mehr als doppelt so viele.
Die andere Seite der Medaille ist doch: Mit 72 % schafft die große Mehrheit die Pflichtschulzeit ohne Wiederholung einer Klasse, wenn sie entgegen der Testempfehlung eingeschult wird. Der Schulreifetest scheint also kein ordentliches Mittel zu sein, um die Fähigkeiten zu prognostizieren, und kann damit eigentlich abgeschafft werden.
Wie aber wirkt sich das Sitzenbleiben auf die betroffenen Kinder aus? Die Beweislast ist eindeutig: Eine soziale Diskriminierung, die das Sitzenbleiben für Wiederholer(innen) bedeutet, ist nur zu rechtfertigen, wenn kognitiv, emotional und sozial positive Wirkungen der Klassenwiederholungen nachweisbar sind. Genau das Gegenteil ist der Fall: Untersuchungen verweisen darauf, dass die Klassenwiederholung außer einer unnötigen Verlängerung der Schulzeit wenig bringt. In den Fächern, in denen der Schüler gescheitert ist, verbessert er sich meist höchstens kurzfristig; in den anderen Disziplinen langweilt er sich und schaltet ab. Warum soll er auch Mathematik lernen, wenn er eine schlechte Note in Deutsch hatte?
Eine europäische Studie kommt deshalb zu dem Schluss, dass die negativen Folgen des Sitzenbleibens gegenüber den zu erwartenden Vorteilen bei Weitem überwiegen. Die Quote der Nichtversetzungen schwankt erheblich – regional wie auch auf die einzelne Schule bezogen. Institutionelle Bedingungen wie zum Beispiel die Klas
sengröße erklären ungefähr 30 bis 40 % der Streuung. Ob ein Kind versetzt wird oder nicht, hängt also nicht nur von seinem Leistungsstand, sondern auch von der Lehr- und Lernorganisation und dem Unterrichtsstil der Lehrerinnen und Lehrer ab.
Zwei Jahre Entwicklungsunterschied zum Beispiel bei der Einschulung lassen es sinnvoll erscheinen – so wie es in Sachsen bereits praktiziert wird –, eine zweijährige Schuleingangsphase durchzuführen, um die Entwicklungsunterschiede auszugleichen. Dann wird das Sitzenbleiben überflüssig; in der Grundschule geht das ja offenbar auch. Erste Versuche haben gezeigt, dass es funktioniert. Flexibilität ist also gefragt und den individuellen Besonderheiten der Kinder muss Rechnung getragen werden.
Der FDP-Antrag unternimmt den lobenswerten Versuch, im bestehenden starren Korsett des sächsischen Schulsystems die Spielräume auszunutzen. Tatsächlich müssen wir aber noch viel weitergehen und über jahrgangsübergreifendes Lernen und längeres gemeinsames Lernen in leistungsgemischten Gruppen sprechen. Die Idee der Alters- und Leistungsmischung ist nicht neu und hat sich in vielen Reformen schon als äußerst produktiv erwiesen. Im Kindergarten und in der Hochschule ist sie selbstverständlich – warum also nicht auch in der Zeit dazwischen, nämlich in der Schulzeit?
Es gibt seit ungefähr 20 Jahren Schulversuche zur Integration Lernbehinderter. Das nicht überraschende Ergebnis ist: Ihre Leistungen sind deutlich besser, als wenn sie eine Sonderschule besuchen, deren Unterricht auf sie persönlich besser zugeschnitten sein soll. Die Vorteile der schwachen Schülerinnen und Schüler gehen eben nicht zulasten der Leistungsstarken. Allerdings setzt das voraus, dass im Unterricht die Illusion der Alters- und Leistungsgleichheit aufgegeben wird. Deshalb halten wir die schrittweise Abschaffung von Förderschulen, die im Endeffekt nichts anderes als eine Fortsetzung des Sitzenbleibens mit anderen Mitteln bedeuten, für zwingend notwendig.
Wenn aber die vielen Befürworter des Sitzenbleibens Gründe einwenden, warum die Schule Sitzenbleiben als Instrument beibehalten soll, so beziehen sie sich meist darauf, dass das Leben ja auch hart sein wird und dass mit Erfolg und Misserfolg umgegangen werden muss; dass Leistung im Wettbewerb zählt. Aber: Japan, England, Schweden und Finnland sind auch Leistungsgesellschaften, und dort ist das Problem des Sitzenbleibens deutlich kleiner als in Deutschland und auch in Sachsen. In internationalen Vergleichen schneiden alle diese Länder besser ab als wir.
Hinter der deutschen Leidenschaft für das Aussortieren in der Schule steckt ein besonderes Verhältnis von Lernen und Unterrichten. Nicht aus Neugier lernt man, sondern allein für die nächste Klassenarbeit und für die Note auf dem Zeugnis. Warum sollte sich ein Schüler anstrengen,
wenn kein Sitzenbleiben mehr droht?, warnen die Befürworter des Sitzenbleibens. Nimmt man zur Wiederholerquote noch die Zehntausenden von Schulaussteigern hinzu, die nach den Ferien in eine niedrigere Schulstufe wechseln – der umgekehrte Weg ist eher selten –, vervollständigt sich das Bild einer Schule, die auf das Scheitern setzt. Hier sind Reformen dringend notwendig.
Solange Schulen ihren Lernschwachen das Gefühl geben, du gehörst hier nicht hin, wird sich in deutschen Klassenzimmern nicht grundsätzlich etwas zum Besseren ändern.
Deshalb stimmen wir dem Antrag der FDP zu – allerdings in der festen Überzeugung, dass nur eine Überwindung des gegliederten Schulsystems eine wirkliche Lösung darstellt.