Protokoll der Sitzung vom 23.06.2000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, daß wir in diesem Haus über die Fragen der EU-Osterweiterung und die Reform der Institutionen der EU debattieren. Gerade die neuen Länder können hierbei wichtige Aspekte in die Diskussion einbringen. Natürlich können sie, so auch Sachsen-Anhalt, die im SPD-Antrag beschriebene Brückenfunktion einnehmen.

Just in der letzten Woche hatte ich während einer Delegationsreise nach Polen die Möglichkeit, an einem Gespräch mit dem EU-Chefunterhändler der polnischen Republik Herrn Kulakowski teilzunehmen. Er hat die Beitrittsprobleme sehr deutlich skizziert. Das Hauptproblem besteht aus polnischer Sicht darin, daß sich die EU momentan nicht in der Lage sieht, einen klaren Beitrittstermin zu benennen, ob nun 2003, 2004 oder 2005.

Nur wenn dieser Termin feststeht, kann der Sejm einen Fahrplan für die Verhandlungen über die noch zu ändernden 189 Gesetze aufstellen. Klar ist auch: Wenn der Termin feststeht, ist natürlich auch ausreichend Motivation vorhanden, ihn einzuhalten. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle: Ein Hinauszögern kann letztlich auch in der Bevölkerung zum Rückgang der Zustimmung zum EU-Beitritt führen.

In den Verhandlungen kristallisieren sich insbesondere die Probleme der Landwirtschaft als ein Knackpunkt heraus. An dieser Stelle wird ein Grundkonflikt deutlich. Mir scheint, daß das Mißtrauen der Verhandlungspartner weitaus größer ist als bei früheren Beitrittsgesprächen. Ich bin der Auffassung, daß der EU-Beitritt bedeuten muß, daß die Beitrittsländer sowohl gleiche Pflichten als auch gleiche Rechte haben. Hinsichtlich der Landwirtschaft nenne ich insbesondere die Direktzahlungen an die polnischen Bauern, so wie das auch in der EU üblich ist. Es darf nicht Mitgliedsländer erster und zweiter Klasse geben. Dies alles muß in den Verhandlungen bedacht werden.

Ich möchte betonen: Die PDS-Fraktion spricht sich ohne Wenn und Aber für die zügige EU-Osterweiterung aus. Lassen Sie uns nicht zuerst die Risiken, sondern die damit verbundenen Chancen betrachten und dann auch nutzen. Dieser Prozeß sollte auch dafür genutzt werden, Brücken in Richtung Ukraine, Belorußland und Rußland zu bauen bzw. auszubauen. Auch hierbei kann das Land Sachsen-Anhalt eine wichtige Brückenfunktion einnehmen.

Nun noch einige Anmerkungen zur Frage der institutionellen Reform der EU und zur klaren Kompetenzordnung in Europa. Fast jeder Politiker und jede Politikerin beklagt seit Jahren die unheimliche Bürokratie in Europa, das Nichtvorhandensein von Transparenz und die unklare Kompetenzordnung in Europa - so auch ich und die PDS-Fraktion. Deshalb muß dort Bewegung hinein.

Ich will aber eines deutlich sagen - die Frau Ministerin hat bereits darauf hingewiesen -: Die institutionelle Reform darf kein Grund sein, um die Osterweiterung erst einmal auf Eis zu legen. Reform und Osterweiterung müssen gemeinsam geschehen.

Die wichtigsten Punkte zur institutionellen Reform sind meines Erachtens: erstens Stimmengewichtung und Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat, zweitens die Zusammensetzung der Europäischen Kommission, drittens die Fragen der verstärkten Zusammenarbeit einzelner EU-Mitgliedsländer, viertens die Konsolidierung der Verträge, fünftens die Reform des Europäischen Parlaments und sechstens die Frage der europäischen politischen Parteien.

Hierüber muß im einzelnen genau diskutiert werden. Die Meinungsvielfalt bei diesen Punkten ist außerordentlich groß und läßt sich an dieser Stelle nicht wiedergeben. Zudem sind die politischen Parteien, so auch die PDS, in diesem Zusammenhang in einem intensiven Meinungsbildungsprozeß.

Die PDS-Fraktion begrüßt den Antrag der SPD-Fraktion und wird ihm zustimmen. Auch der Antrag der CDUFraktion geht grundsätzlich in die richtige Richtung. Allerdings läßt dieser Antrag offen, in welche Richtung die institutionelle Reform der EU gehen soll. Der Antrag macht aber deutlich, daß der Meinungsbildungsprozeß auch hier nicht abgeschlossen ist. Dem Änderungsantrag der SPD-Fraktion werden wir folgen, um dann

diesen Antrag gemeinsam zu verabschieden. - Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS und bei der SPD)

Vielen Dank. - Für die FDVP-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Wolf. Bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mitgliedsstaaten der EU umfassen derzeit eine Gesamtfläche von 3,2 Millionen km2, sie haben eine Bevölkerung von 372 Millionen Bürgern und ca. 150 Millionen Beschäftigte. Das Bruttoinlandsprodukt erreichte im Jahre 1999 6 700 Milliarden Euro.

Der EU-Erweiterungsprozeß wurde im Jahre 1998 eingeleitet. Derzeit finden Verhandlungen mit folgenden Ländern statt: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn und Zypern. Diese Beitritte würden die Fläche der EU um 58 %, die Einwohnerzahl um 45 % und das Bruttoinlandsprodukt um lediglich 7 % erhöhen.

In der EU-Bürokratie sind zur Zeit knapp 20 000 Mitarbeiter beschäftigt. Sie haben schon einiges bewegt: Viele Konzerne verlagern ihre Produktion in Nicht-EULänder, um nicht nachvollziehbaren dirigistischen Eingriffen zu entgehen. Deutsche Unternehmen entgehen der Belastung durch die EU-Reglementierung durch verstärkte Rationalisierung im Inland und gleichzeitige Verlagerung von Investitionen in EU-freies Ausland. Das peitscht die Arbeitslosigkeit, besonders in den mitteldeutschen Ländern, auf ein Rekordhoch von schlappen 20 %. Der Sozialstaat Deutschland ist sehr hoch verschuldet und schon jetzt überfordert.

Bedingt durch die Reglementierung der EU ist Europa eben kein guter Wirtschaftsstandort. 22 Millionen Arbeitslose belegen das. Derartige Zustände werden mittelfristig zu handfesten politischen Krisen führen. Durch die EU verlieren immer mehr nationale Instanzen ihre Regulierungs- und Eingriffsmöglichkeiten. Die Finanzierung aller Sozialmodelle wird in Frage gestellt. Der einzelne Nationalstaat kann wegen der Übergriffe der EU immer weniger seinen angestammten Aufgaben und Pflichten nachkommen. Grenzüberschreitende Kriminalität, Schwarzarbeit, Menschenhandel, Prostitution usw. können sich zunehmend ungehindert entfalten.

Das Wunschdenken, man könne auf dem EU-Markt erst Innovationen ausprobieren und dann auf den Weltmarkt gehen, hat sich bei den flotten Technologiezyklen als Illusion herausgestellt. Auch die EU unterliegt der Beurteilung der Geld- und Kapitalmärkte, wie man an der Euro-Bewertung gemerkt hat.

Durch die absolute Reglementierung in den Bereichen Handel, Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Wettbewerb, Sozialpolitik, Beschäftigung, Energie, Gesundheit, Kultur, Bildung und Verbraucherpolitik kommt es zu dem erwähnten Arbeitsplatzabbau. Immer wieder wird auch in diesem Haus über die EU-Hemmnisse debattiert. Es existieren bereits mehrere hunderttausend Verordnungen.

Meine Damen und Herren! Wir nähren eine Geschwulst von Bürokratie. Deutschland und die EU werden schon jetzt nicht mit den Problemen der neuen Bundesländer fertig. Das sind nur 16 Millionen Einwohner auf einer

Fläche von nur 86 000 km2. Die Osterweiterung der EU wird den Blutspender Deutschland weit überfordern.

Meine Damen und Herren! Es gibt kaum einen Satz, in dem nicht das Subsidiaritätsprinzip beschworen wird. Aber wie steht es damit in der EU? Wie steht es mit der Demokratie in der EU und mit der Anerkennung von Ergebnissen demokratischer Wahlen, wie immer sie auch ausgehen? Die Rechte der Bundesrepublik und der einzelnen Bundesländer brauchen Wiederbelebung und Stärkung. Die EU muß sich einfach demokratisieren.

Irgendeinen Vorteil muß man aber doch dem Bürger vorgaukeln können. Mit dem Euro funktioniert es nicht mehr so richtig. Diese Verdummung klappt nicht mehr. Na ja, jetzt muß der Frieden her. Den liebt jeder. Jeder will ihn haben. Also sagt man jetzt: Der Frieden ist das Ding! Nur Frieden durch Osterweiterung!

Meine Damen und Herren! Das hat der Frieden, das hohe Gut, nicht verdient. Er gehört nicht als Köder an die Angel. Durch die Osterweiterung der EU den Frieden sichern zu wollen ist ein übles Betrugsgeschäft. Der EUBeitritt macht den Frieden nicht sicherer, auch der NATO-Beitritt nicht. Führten Griechenland und die Türkei nicht schon einmal Krieg?

Meine Damen und Herren! Fast zehn Millionen Menschen sind in den beitrittswilligen Ländern in der Landwirtschaft tätig. In der EU sind es acht Millionen. Ohne eine Agrarreform steuert die EU an dieser Stelle direkt in die Pleite.

Die EU muß also grundlegend reformiert werden. Erst müssen die jeweiligen Mitgliedsstaaten der EU einen einheitlichen Standard aufweisen, um dann eine Osterweiterung überhaupt ins Auge fassen zu können. Das nennt man schlicht und einfach Synchronisation.

Wir wollen jedoch keine Synchronisation durch Abschwung auf Niedrigniveau, damit die Frequenz stimmt. Die EU kann deshalb nicht beliebig weitere Mitglieder aufnehmen, ohne gewaltige Spannungen zu schaffen. Das wäre genau das Gegenteil von Frieden.

Damit ist es gesagt: Zur gegenwärtigen Zeit - ich betone, zur gegenwärtigen Zeit - werden wir eine Osterweiterung der EU nicht befürworten.

(Beifall bei der FDVP)

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Tögel.

Herr Präsident, ich will tatsächlich versuchen, es kurz zu machen.

Ich denke, über die Frage der Daseinsvorsorge sollten wir tatsächlich noch einmal im Wirtschaftsausschuß diskutieren. Dazu gibt es sicher verschiedene Sichtweisen. Wir sollten uns im September mit dem aktuellen Stand der Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern vertraut machen.

Ich möchte Sie, Herr Sobetzko, nur noch einmal auf folgendes hinweisen: Es nützt doch überhaupt nichts, wenn wir als Tiger springen und als Bettvorleger landen.

(Herr Dr. Daehre, CDU: Sie haben das schon ge- übt!)

- Sie können ja üben. - Ich denke, wir sollten uns lieber in Realitätssinn üben und uns tatsächlich die Ministerpräsidenten zum Vorbild nehmen, die sich darauf geeinigt haben, daß in der nächsten Regierungskonferenz die Frage der Kompetenzabgrenzung geregelt werden soll und nicht in dieser.

Deswegen bleibe ich bei unserem Änderungsantrag. Wir sollten nicht irgendwelche Dinge vorgaukeln, die letztlich nicht durchzusetzen sind. Die Osterweiterung - das habe ich Ihrem Beitrag entnommen - wollen auch Sie damit nicht verhindern.

Ich bedanke mich und bitte noch einmal um Zustimmung zu unserem Änderungsantrag.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Vielen Dank. - Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Dr. Bergner. Bitte.

Zunächst einmal, Herr Präsident, meine Damen und Herren, möchte ich kurz auf die Gemeinsamkeiten hinweisen: Wir werden dem Antrag der SPD zustimmen, auch wenn die Formulierung in Nummer 2 ein bißchen Huldigungscharakter trägt und man sich aus der Perspektive einer Oppositionspartei andere Formulierungen vorstellen kann; aber in der Sache sind wir uns einig.

Der zweite Punkt: Ich begrüße es ausdrücklich, daß auch die Landesregierung den Regelungsbedarf in den von uns angemahnten Punkten der inneren Reform sieht und offenkundig auch die Gefahr der Verbürokratisierung und Zentralisierung innerhalb der EU ernst nehmen möchte.

Wir haben in unserem Parlament genügend entsprechende Beispiele gehabt. Ich erinnere nur an den Führerschein für Feuerwehrfahrzeuge, wobei den Mitgliedern einer Freiwilligen Feuerwehr in unserem Lande nicht zu erklären ist, daß eine zentrale Entscheidung in Brüssel Vorschriften setzt, die bei uns vor Ort beträchtliche Auswirkungen haben.

So könnten wir noch andere Beispiele anführen, die deutlich machen: Wir brauchen das Subsidiaritätsprinzip. Entscheidungen, die in der kleinen Einheit getroffen werden können - das ist etwas anderes als Dezentralisierung -, müssen auch in der kleinen Einheit getroffen werden.

Das ist der Sinn unseres Antrages. Am Zielpunkt sollte ein Verfassungsvertrag stehen, in dem sich die Länder, die ja ein unterschiedliches Staatsgefüge haben, in der EU auf die Respektierung genau dieses Prinzips verständigen.

Daß das nicht in der laufenden Regierungskonferenz geschehen kann, Herr Tögel, - so verstehe ich den Antrag der Ministerpräsidentenkonferenz - ist für mich völlig klar. Aber trotzdem möchte ich die Frage der Zustimmung nicht zur Osterweiterung, sondern zu den Reformentscheidungen, die jetzt anstehen, nicht leichtfertig als Instrument aus der Hand geben. Es wird eine Ratifikation im Bundesrat geben, und wenn die Stimme der Länder gebraucht wird, dann sollten Sie auch sagen, unter welchen Bedingungen Sie eine Zustimmung verweigern würden. Insofern sehe ich uns nicht im Widerspruch zu den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz, auf die Sie verwiesen haben.

Ich möchte die Dramatik nur noch einmal an einem einzigen Beispiel deutlich machen. Ich war selbst überrascht zu erfahren, daß es 400 beschließende Beamtenausschüsse in Brüssel gibt. Sie treffen unter Umständen Entscheidungen, die von weitreichender Bedeutung sind, und berufen sich auf irgendwelche abstrakten Klauseln. An dieser Stelle entscheidet sich die Frage der Akzeptanz der europäischen Einigung beim Bürger, wenn er sich von solchen Instrumentarien im Einzelfall bevormundet fühlt.

Ich komme zu den Änderungsanträgen, die wir in beiden Punkten ablehnen werden. Zum einen - das habe ich bereits gesagt - möchten wir, daß die Frage der Ratifikation der Regierungskonferenz offenbleibt und daß sie als Instrument zur Durchsetzung der Länderinteressen eine Rolle spielt. Wenn Sie mit Ihrem Antrag eine Mehrheit bekommen, was zu erwarten ist, werden wir unter Umständen im Herbst, wenn die Ergebnisse vorliegen, im Parlament noch einmal eine Diskussion und einen Antrag der CDU haben.

Der zweite Punkt: Uns ist die Frage - die wir hier gar nicht ausführlich diskutieren können - der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Eingriffe durch das EU-Wettbewerbsrecht so wichtig, daß wir als Diskussionsgrundlage schon gern einen schriftlichen Bericht über die Verhandlungsposition der Landesregierung haben wollen. Das schließt nicht aus, daß anschließend auf der Basis eines solchen Berichts in den Ausschüssen diskutiert wird.

Auch hier können Sie mit Ihrer Mehrheit Ihre Formulierungen durchsetzen. Das nimmt uns allerdings nicht das Recht, über eine parlamentarische Anfrage eben diese schriftliche Stellungnahme einzuholen. Ich würde jetzt schon ankündigen, daß wir für den Fall, daß wir an diesem Punkt unterliegen, von dem Instrument der parlamentarischen Anfrage Gebrauch machen; denn die Sache ist wichtig. Es beginnt bei der Theaterförderung und endet bei Sparkassen und Wohlfahrtsverbänden, für die die Frage der Gültigkeit des EU-Wettbewerbsrechts von existentieller Bedeutung auch für die Organisation unseres Gemeinwesens ist. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDVP)

Vielen Dank. - Wenn keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, ist die Debatte, so wie sie vereinbart war, abgeschlossen. Wir kommen zum Abstimmungsverfahren.