Protokoll der Sitzung vom 11.10.2001

Im Gegenteil. Die Heimatvertriebenen wurden zu Revanchisten, zu Kriegstreibern erklärt, verketzert, oft verfolgt und hart bestraft. Umso größer war dann, nach 1989, der Drang, der Wunsch der jahrzehntelang zum Schweigen verdammten, verurteilten Heimatvertriebenen in den neuen Bundesländern, das Schweigen zu brechen und sich offen zu dieser Charta zu bekennen.

Meine Damen und Herren! Es stimmt schon nachdenklich, wenn man Graffiti-Sprüche liest, die keineswegs über Nacht beseitigt werden, sondern die Jahre überdauern, zum Beispiel „Heimatland, Vaterland, Feindesland, Deutschland verrecke“. Da rührt sich kein Verein Miteinander e. V. oder sucht die Gespräche mit jenen Wirrköpfen, die derartigen Hass öffentlich bekunden.

Es erinnert mich auch an jene Worte, die in der „Welt“ am 2. Oktober über den Jahrestag der deutschen Einheit geschrieben standen. Ich darf wiederum zitieren:

„Morgen feiern wir also den 11. Jahrestag und wissen nicht, was wir noch feiern wollen. Ganz anders die Trauerveranstaltungen zum 11. September in Amerika. Dort hat die amerikanische Nation ihrer Opfer gedacht, mehr noch, sie hat sich ihrer eigenen Werte, ihrer eigenen Kraft besonnen. Eine Nation, die sich selbst nicht liebt, weiß nicht, wofür sie kämpfen soll. Eine solche Nation hat nichts zu feiern, nicht einmal ihren Nationalfeiertag.“

Meine Damen und Herren! Ich erinnere an die unsäglichen Diskussionen in Sachsen-Anhalt um die angeordnete Beflaggung von öffentlichen Gebäuden am 1. September, zum Tag der Heimat. Wenn die Landtagsabgeordneten der PDS Gebhardt und der SPD Steckel sich gegen die Beflaggung aussprachen, den Landrat aufforderten, nicht zu beflaggen, mit dem Hinweis auf revanchistische Tendenzen des Dachverbandes der Vertriebenen, sollte das zu denken geben, weil das genau in das Bild der DDR von Revanchisten und Kriegstreibern passt.

Der Innenminister ordnete die Beflaggung an. Seine geplanten Koalitionäre verweigern dies. Welch absurdes Spiel! Der Abgeordnete Steckel erhielt bereits seine Watschen und muss sich im kommenden Jahr den Wählern nicht wieder stellen.

(Zurufe von Frau Fischer, Leuna, SPD, und von Frau Lindemann, SPD)

Beiden Abgeordneten, aber nicht nur ihnen, empfehle ich - Frau Lindemann, Ihnen auch -, die Charta der Heimatvertriebenen einfach einmal zu lesen, damit Sie hoffentlich die Einsicht und die Erkenntnis erlangen, dass ein nationaler Gedenktag für die deutschen Opfer von Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit auch ein Beitrag gegen die Vertreibung und die Deportationen in dieser Zeit ist. - Danke sehr.

(Beifall bei der FDVP)

Danke für die Einbringung. - Meine Damen und Herren! Es ist eine Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion in der Reihenfolge DVU, CDU, SPD, PDS und FDVPFraktion vereinbart worden.

Herr Montag von der DVU-Fraktion hat gebeten, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Würde das Widerspruch finden? - Ich sehe das nicht. Damit kann Kollege Montag seine Rede zu Protokoll geben.

(Zu Protokoll:)

Die Fraktion der Deutschen Volksunion unterstützt die schon längst fällige Forderung eines Gedenktages für die deutschen Opfer von Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit.

Es ist wohl ohne Zweifel eine sehr späte Ehrung für über 18 Millionen Deutsche, die nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges entgegen jedem Recht und unter unsäglichen Bedingungen und Verlusten ihre angestammte Heimat verlassen mussten.

Auch sollte man nicht vergessen, welchen hohen Preis die deutsche Bevölkerung zahlte. Erinnert sei hier zum Beispiel an die so genannten Benes-Dekrete. So wie wir Deutschen auch immer wieder das Büßerhemd anziehen mussten, aber unsere früheren Kriegsgegner es bis heute nicht nötig hatten, sich für das von ihnen begangene Unrecht an der deutschen Bevölkerung zu entschuldigen.

Aber mit dem Blick auf die Zukunft eines friedlichen und geeinten Europas bleibt es trotzdem unsere Aufgabe, die Erinnerung an Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit wachzuhalten.

Als Mahnung für die Zukunft und in der Anteilnahme an den Opfern fordern wir die Bundesregierung auf, alljährlich einen Tag im Jahr und insbesondere den 5. August, den Tag der Verkündigung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen, in der der Verzicht auf „Rache und Vergeltung“ festgeschrieben wurde, zu einem nationalen Gedenktag zu erheben und der Opfer von Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit zu gedenken. Denn das Schicksal der Heimatvertriebenen ist nicht nur Sache der Beteiligten, sondern auch Teil und Verantwortung für das gesamte Deutschland.

Für die CDU-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Herr Schomburg.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer sich die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ansieht, wird erkennen, dass sie wie von einem roten Faden begleitet ist von Vertreibung, von Deportation und von Zwangsarbeit. Wohl kaum ein Volk in Europa ist von dieser Geißel verschont geblieben. Wir Deutsche waren insbesondere während und nach dem Zweiten Weltkrieg betroffen, sowohl als Verursacher als auch als Betroffene.

Die Geschichte der Mittel Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit zur Durchsetzung politischer Ziele ist aber älter und leider auch in der Gegenwart noch präsent und Wirklichkeit. Dabei ist immer noch nicht klar, dass das Heimatrecht ein Menschenrecht ist und kein Staatsrecht, über das Regierungen und Politiker frei verfügen können.

(Zustimmung bei der CDU)

Aber das Thema des heutigen Tages sollte uns über dieses Schicksal der deutschen Vertriebenen, Deportierten und Zwangsarbeiter hinausführen. Deshalb sah sich die CDU-Fraktion veranlasst, einen Änderungsantrag zu stellen. Weil dieses Schicksal, das auch uns Deutsche ereilt hat, uns verbindet mit unseren Nachbarvölkern und auch mit weiter entfernt wohnenden Völkern, hielten wir es für notwendig, dieses zu einem europäischen Thema zu machen.

Die Vertriebenen mahnen uns wieder und wieder, dass sie mit der Erinnerung an ihr Schicksal nicht nur das von ihnen erlittene Unrecht im Bewusstsein der deutschen und europäischen Völkergemeinschaft halten wollen, sondern dass es einer neuen europäischen, ja Weltordnung bedarf, die das Recht auf Heimat als unmittelbares Menschenrecht nicht in die Verfügungsgewalt von Politik und Politikern stellt.

Um dies zu verdeutlichen, wäre ein Gedenktag und wäre auch das Zentrum gegen Vertreibung, mit dem sich bekanntlich der Innenausschuss noch federführend beschäftigt, ein geeignetes Mittel.

Der 5. August erscheint auch uns als ein geeignetes Datum, weil die deutschen Heimatvertriebenen an diesem Tag bereits 1950 mit der Charta der Vertriebenen die Überwindung von Vertreibung und Völkerhass im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gefordert haben. Deshalb meine Damen und Herren, legen wir Ihnen den Änderungsantrag vor und bitten um Unterstützung dafür. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Bevor ich Kollegen Dr. Fikentscher das Wort erteile, begrüße ich auf der Zuschauertribüne rechts vom Präsidium Bürgerinnen und Bürger aus der Verwaltungsgemeinschaft Falkenstein/ Harz. Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Dr. Fikentscher, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 5. August 1950 und nicht erst 1959, wie die FDVP offensichtlich vermutet,

(Widerspruch von Frau Wiechmann, FDVP, und von Herrn Wolf, FDVP)

ist die Charta der Heimatvertriebenen verkündet worden. Diese Charta ist ein wichtiges Dokument der Versöhnung und eine der Grundlagen für die Bildung eines vereinten Europas. Deshalb kann ich an dieser Stelle das unterstreichen, was Bundesinnenminister Otto Schily anlässlich des 50. Jahrestages der Verkündung der Charta im vergangenen Jahr erklärte, dass die Charta von weitreichender Bedeutung war, weil sie radikalen Bestrebungen den Boden entzog und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung unter Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitete.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die deutschen Heimatvertriebenen vor dem historischen Hintergrund in erster Linie Opfer der verbrecherischen Politik der Nationalsozialisten und des Hitler‘schen Aggressionskrieges waren. Sie hatten dafür zu zahlen, ohne dass sie jedenfalls ganz überwiegend - persönliche Schuld auf sich geladen hatten. Das ist und bleibt schweres Unrecht.

Der Bund und die Länder stehen in der Verpflichtung, das Kulturgut der Vertreibungsgebiete im Bewusstsein der Vertrieben aufrechtzuerhalten und zu fördern und damit zugleich an das Vertreibungsschicksal zu mahnen und zu erinnern. Das geschieht auch. Das Gedenken kommt in vielfältiger Art und Weise auf Bundes- und Landesebene zum Ausdruck. So ist der Tag der Heimat nicht nur ein Tag des Wiedersehens und des Erinnerns, sondern auch ein Tag des Gedenkens an die Tragödie von Flucht, Vertreibung und Deportation von Millionen Deutschen.

Zu dem Vorschlag, den 5. August zum nationalen Gedenktag zu erheben, hat sich die Bundesregierung bereits in einer Antwort vom 29. Juni 2001 auf eine ent

sprechende Anfrage hin eindeutig geäußert und dazu festgestellt, dass sie einen solchen Anlass nicht sieht. Als Gründe dafür führt sie an:

Erstens. Der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft wird am Volkstrauertag unter Beteiligung des Bundespräsidenten gedacht.

Zweitens. Die zentrale Mahn- und Gedenkstätte des Bundes in der Neuen Wache in Berlin dient auch dem Andenken der deutschen Vertriebenen.

Drittens. Darüber hinaus beteiligt sich der Bund finanziell am Mahnmal der Vertriebenen in Berlin.

Diese Gründe sind für uns überzeugend. Wir schließen uns der Auffassung der Bundesregierung an und lehnen der Antrag der FDVP-Fraktion ab. Das gilt auch für den Änderungsantrag der CDU-Fraktion. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU, es wirklich wollten, dann hätten Sie einen eigenen Antrag einbringen müssen. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Herr Schomburg, CDU: Das nächste Mal!)

Für die PDS-Fraktion erhält jetzt die Abgeordnete Frau Dirlich das Wort. - Sie verzichtet. Dann spricht für die FDVP-Fraktion noch einmal die Abgeordnete Frau Wiechmann.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Fikentscher, es kommt nicht so gut an, mit einer Lüge zu beginnen. Wenn Sie mir zugehört hätten - es scheint in der SPD-Fraktion um sich zu greifen, entweder nicht zuzuhören oder nicht zu verstehen -, dann hätten Sie gehört, dass ich von 1950 gesprochen habe.

Ich darf noch einmal daran erinnern: Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 - ich hoffe, es ist jetzt angekommen - endet mit den Worten:

„Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.“

Die vergangenen Jahrzehnte haben bewiesen, dass diese Worte Wirklichkeit wurden. Aber es geht eben nicht nur um materielle Verbesserungen, obgleich auch diesbezüglich die in den neuen Bundesländern wohnenden Heimatvertriebenen um Jahrzehnte verzögert eine mehr symbolische Wiedergutmachung erhielten.

Was Menschen aber ärgert, ist, dass man ihnen unterstellt, sie seien bereit - ich sage es jetzt etwas überzogen -, sich mit Scheckbuchdiplomatie als Ausgleich für all das erlittene Leid und auch für die Opfer abzufinden. Ein entsprechender Gedenktag würde auch im öffentlichen Bewusstsein mehr bewirken, als allein durch individuelle Wiedergutmachung möglich ist.

Vielleicht ist bereits in Vergessenheit geraten, dass die Grußworte der Ministerpräsidenten - ich betone: der Ministerpräsidenten aller 16 Bundesländer - zum 50. Jahrestag die Charta der deutschen Heimatvertriebenen würdigten. Aber es ist eben ein Unterschied, meine Damen und Herren, und es spricht nicht für die Glaubwürdigkeit der Politik des Ministerpräsidenten Dr. Höppner,

wenn er mit Lippenbekenntnissen Grußworte verbreitet, aber hier im Landtag gegen einen Gedenktag votiert. In der 43. Sitzung im September des vorigen Jahres verweigerte sich die SPD-Fraktion einer Debatte zur Ächtung von Vertreibung und Entrechtung, die aus Anlass des Tages der Heimat geführt werden sollte. All das steht allerdings nicht in den Grußworten des Herrn Dr. Höppner.

Meine Damen und Herren! Der vorliegende Änderungsantrag der Fraktion der CDU verrät uns, dass es die CDU, wie sich heute bereits schon einmal zeigte, offensichtlich nicht ertragen kann, dass sie unseren Anträgen hinterherhinkt. Nichtsdestotrotz ist zuzustimmen, wenn unter Punkt 1 erneut jede Art von Vertreibung und Deportation verurteilt wird.

Man muss kein Prophet sein, um das heutige Abstimmungsergebnis vorherzusagen. Rot-Rot sieht dabei mal wieder nur rot. Auch das wird im nächsten Grußwort des Herrn Dr. Höppner nicht zu lesen sein.