Protokoll der Sitzung vom 20.02.2009

Als dann Willy Brandt das Tor auch zum Osten aufstieß und Versöhnung in Richtung Polen und in Richtung der osteuropäischen Nachbarn praktizierte, habe ich noch mehr von Europa geträumt. Ich dachte, das könnte eine Vision sein, in der wir uns als Deutsche wieder zurechtzufinden, sodass wir sagen könnten: Wir haben eine bestimmte Stellung und eine Verantwortung in Europa.

Woran liegt es, dass die Bürger 30 Jahre nach den ersten Direktwahlen das Interesse und die Begeisterung für Europa verloren haben, obwohl die Deutschen die Zukunft der Europäischen Union ja durchaus positiv sehen? - Sie wünschen sich eine Union, die mit starker Stimme spricht, eine Solidargemeinschaft mit einer starken Identität und einheitlichen Regeln und Gesetzen. Und sie wünschen sich, dass Europa nicht ein bloßer Wirtschafts- oder Währungsraum ist, sondern natürlich auch - darin gebe ich Ihnen Recht, Herr Czeke - ein soziales Projekt - da hakt es ordentlich.

(Zustimmung von Herrn Czeke, DIE LINKE)

Aber das, was uns verbindet, ist nicht der Nutzen, sondern das sind Frieden, Demokratie, Wohlstand, Gerechtigkeit und Solidarität.

Meine Damen und Herren! Am 7. Juni 2009 sind zum siebten Mal Wahlen zum Europäischen Parlament. 375 Millionen Wählerinnen und Wähler sind aufgefordert zu wählen. Die Rumänen und Bulgaren sind zum ersten

Mal dabei. Es gibt 4,3 Millionen Erstwähler und zwei Millionen Wähler in unserem schönen Bundesland.

Allein vor diesem Hintergrund müssen europäische Themen natürlich mehr Raum in den Parlamenten und in der Öffentlichkeit einnehmen. Dabei macht es mir wirklich zu schaffen, dass zwei Drittel der Bundesbürger noch nicht einmal wissen, dass in diesem Jahr Europawahlen sind, obwohl Europa unser Leben tagtäglich prägt, nicht nur wenn man auf die Etiketten der Lebensmittel sieht - Gott sei Dank auch eine Vereinheitlichung, die mehr und mehr voranschreitet.

Wir sind in vielen positiven Dingen miteinander verwoben, die wir einfach zur Kenntnis nehmen. Dass die Grenzen offen sind, ist zur Normalität geworden. Dass es eine Währung gibt, die stabil ist - gerade in dieser schwierigen Zeit, in der uns die Krisen überschatten -, nehmen die Leute als selbstverständlich hin. Es gibt viele Dinge, die wirkliche Krisen waren, wie BSE, Vogelgrippe und vieles andere mehr, in denen Europa versucht hat, einheitlich zu reagieren.

Man könnte eine Unmenge von Beispielen nehmen, von denen man sagen könnte, Europa ist eigentlich eine Geschichte, in der wir in Sicherheit und ein Stück weit auch in sozialer Sicherheit leben können.

Aber ein Anteil von 52 % der Deutschen gibt an, eigentlich kein Interesse an der Europawahl zu haben. Diese ernüchternde Zahl zeigt, dass wir die Augen nicht davor verschließen dürfen, dass Europa tatsächlich sehr weit weg ist, dass Bürgerinnen und Bürger zu wenig Vertrauen in die europäischen Institutionen haben.

Daraus ergibt sich in viel größerem Maße als bisher die Aufgabe, die Bürger Sachsen-Anhalts von der europäischen Idee zu begeistern und sie - das habe ich bei den Schulbesuchen mitbekommen; ich war nicht in Europaschulen - über die Bedeutung und die Funktionsweise der EU aufzuklären, und zwar nicht allein die Schülerinnen und Schüler, Herr Kultusminister, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer. Denn ich habe festgestellt, dass die Unwissenheit bei diesen ähnlich groß ist, unabhängig davon, dass sich, wie ich bei der gestrigen Besprechung mitbekommen habe, viel zu wenige Schulen zurückgemeldet haben.

Das lässt einen doch nach den Ursachen fragen: Haben die Schüler kein Interesse oder haben die Lehrerinnen und Lehrer das Interesse nicht geweckt? - Auch das ist eine unserer Aufgaben und eine Aufgabe der Landesregierung, darauf hinzuwirken, dass sich Schulen für diesen Europatag melden. Ich bin überzeugt davon, dass alle hier sitzenden Abgeordneten hingehen würden, wenn sich Schulen in ihrem Wahlbereich melden. Es gibt also noch allerhand zu tun.

(Beifall bei der SPD)

Sorge macht mir und wahrscheinlich auch Ihnen als Demokratinnen und Demokraten die Wahlbeteiligung. Sie lag in Sachsen-Anhalt beim letzten Mal bei 42 %. Damit lag Sachsen-Anhalt noch nicht einmal im Bundesdurchschnitt.

Das Europäische Parlament würde durch den Reformvertrag von Lissabon meines Erachtens eine erhebliche Stärkung seiner Kompetenzen erfahren. Es würde mit seinen Kompetenzen zum gleichberechtigten Partner und somit mehr in die Gesetzgebung eingebunden werden.

Auch wenn das Europäische Parlament seit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 erheblich gestärkt wurde, ist die Entwicklung, die Sie hier sehen, aus unserer Sicht keinesfalls abgeschlossen. Es wird noch ein langer Prozess sein. Ich habe es erst kürzlich gesagt: Wahrscheinlich werden viele die Vision, wie es in 50 oder in 100 Jahren in Europa aussehen könnte und welche Form Europa dann annehmen wird, gar nicht mehr erleben.

Die neuen Bundesländer befinden sich nach wie vor in einem schwierigen Strukturwandel. Sachsen-Anhalt hat im Vergleich zum EU- und Bundesdurchschnitt noch immer einen deutlichen Nachholbedarf. Deshalb dienen die Fonds dem Ziel, die Lebensverhältnisse denen der Europäischen Union anzugleichen. Ich könnte die konkreten Zahlen dazu liefern.

Es gibt auch einen Rückgang in den Strukturfondsmitteln. Es sind 18 % weniger gegenüber der Förderperiode 2000 bis 2006. Aber es ist trotzdem noch ein großer Nutzen, der für uns und für die Verflechtung, die gerade Sachsen-Anhalt in der außenwirtschaftlichen Lage mit anderen EU-Mitgliedstaaten hat, wichtig ist. Ich habe nachgelesen: Von den Beitrittsländern sind für uns Polen und Tschechien mit einem Exportanteil von 11,7 % die Hauptexportländer. Das ist nicht wenig.

Die großen Herausforderungen, vor denen wir derzeit stehen, können wir nicht allein auf nationaler Ebene lösen. Wir brauchen dazu ein starkes und einiges Europa. Das sichert der Vertrag von Lissabon. Es ist wichtig, dass Europa mit einer Stimme spricht, um sich in der Welt behaupten zu können.

Angesichts dieser Wirtschafts- und Finanzkrise wünschen sich 61 % der Befragten einen größeren Einfluss der EU als heute, um in zehn Jahren wirtschaftlich und politisch besser dazustehen. Zu diesem Schluss kommt zumindest die Bertelsmann-Stiftung. Damit die Europäische Union allerdings auch präventiv auf derartige Krisen reagieren kann, brauchen wir entsprechende vertragliche Grundlagen.

Wir als Sozialdemokraten begrüßen es sehr, dass ein erneuter Versuch unternommen wird, den Vertrag von Lissabon in Kraft zu setzen, denn er schafft eine handlungsfähige Institution, sinnvolle Instrumente und klare Zuständigkeiten.

Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen. Am letzten Dienstag hat vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Verhandlung zum EU-Vertrag begonnen. Dabei macht mir diese Verbindung Bauchschmerzen: sowohl DIE LINKE als auch andere, etwa Herr Gauweiler von der CSU, bringen ihre Argumente vor, wenngleich diese beileibe nicht deckungsgleich sind.

Bei den eingegangenen Beschwerden geht es um zwei fundamentale Kritikpunkte, die durchaus begründet sind und die wir auch teilen: die schleichende Zentralisierung und das europäische Demokratiedefizit. Für diese Kritik ist, finde ich, Lissabon der falsche Adressat; denn der Lissabonner Vertrag nimmt genau in dieser Frage, ob es zu zentralistisch ist, Korrekturen vor.

Sollte das Gericht letztlich inhaltliche Änderungen am Reformvertrag fordern oder ihn sogar zu Fall bringen, wäre das ein herber Rückschlag für die Europäische Union. Dann wären wir zurückgeworfen auf die Situation des Vertrages von Nizza und der Vertrag von Nizza ist deutlich schlechter als der Vertrag von Lissabon.

Der Vorwurf der Entmachtung des deutschen Gesetzgebers verkennt den Charakter und den Inhalt des Lissabonner Vertrags vollständig. Auch nach seinem Inkrafttreten wird die Europäische Union keinesfalls eine umfassende Kompetenz besitzen. Die Gemeinschaftsorgane werden weiterhin nur das regeln dürfen, was die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ausdrücklich im Vertrag zur Regelung überlassen. Es kommt durch den Vertrag von Lissabon nicht zu einem europäischen Superstaat. Eine derartige Panikmache hat mit der Realität wenig zu tun.

Ich freue mich immer wieder, wenn Sie unseren Europaabgeordneten Schulz zitieren. Wenn man - ich habe es jetzt nicht dabei - Frau Kaufmann oder André Brie liest, dann sieht man, dass es - ich denke, das ist auch bei Ihnen so - Europabegeisterte gibt.

(Herr Scharf, CDU: Die schmeißen sie jetzt alle raus!)

- Hoffentlich bekommen sie noch Unterstützung, um Sachsen-Anhalt weiterhin in Europa vertreten zu können. Ich weiß noch nicht, wie es dort ausgeht. Vielleicht haben sie doch eine Chance, im Europäischen Parlament zu sein.

(Herr Höhn, DIE LINKE: Wir arbeiten daran! - Zu- ruf von Herrn Franke, FDP)

- Das ist gut. Ich glaube, dass DIE LINKE in SachsenAnhalt in dieser Frage hinter den beiden steht. Ich hoffe es jedenfalls.

Der Vertrag von Lissabon weitet die parlamentarischen Rechte des Europäischen Parlamentes sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei der Bestellung der Kommission massiv aus und stärkt gleichzeitig die Rechte des Deutschen Bundestages. In keinem anderen Vertrag waren die Rechte der nationalen Parlamente so stark ausgeprägt wie im Vertrag von Lissabon.

Ich komme zurück zu dem, was ich am Anfang gesagt habe. Der Reformvertrag stärkt auch die soziale Dimension der Europäischen Union. Ich weiß, dass es noch eine riesige Aufgabe ist. Diese Auffassung teile ich mit Ihnen, aber ich teile nicht die kritische Betrachtung.

Die sozialen Standards, die wir in Deutschland haben und die wir manchmal als nicht ausreichend kritisieren, dürfen durch die europäische Entwicklung nicht reduziert werden; sondern die anderen europäischen Länder müssen sich an diesen und noch höheren Standards messen lassen.

(Zustimmung von Herrn Czeke, DIE LINKE)

Das ist ein weiter Weg, wenn man weiß, dass es sowohl in osteuropäischen, aber auch in südeuropäischen Ländern völlig andere Strukturen hinsichtlich des Gesundheitssystems und der Versorgung gibt. Diesbezüglich müssen wir noch viel tun. Aber es ist eine Chance, dass wir nicht allein auf unseren Standards beharren, sondern dass wir die anderen mitnehmen.

Damit komme ich zu meinem allerwichtigsten Punkt. Für mich schafft Europa - auch bei Ihrer Kritik, dass militaristische Tendenzen vorhanden sind - - Ich glaube, dass der Friedensaspekt dadurch, dass Länder in der Wirtschafts-, in der Finanz- und in der Sozialunion zusammenhalten, viel größer ist, und dass das Frieden schafft in einer viel fundamentaleren Dimension, als wenn wir sie nicht hätten.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Wir müssen aufpassen, dass die Kontrolle da ist, was in Fragen der Verteidigung und Ähnlichem mehr geschieht. Das ist unbestritten. Aber zu sagen, wir verzichten auf Europa und denken nationalstaatlich, oder selbst der Versuch würde uns meilenweit zurückwerfen und die Gefahr von gewaltsamen Auseinandersetzungen erhöhen. Für mich ist es diesbezüglich wichtig zu sagen, dass Europa Wohlstand, Frieden und Freiheit für viele Völker sichert. Das ist der eigentliche Wert.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Bischoff. Es gibt zwei Nachfragen, zum einen vom Abgeordneten Herrn Czeke und zum anderen von Herrn Gallert. Wollen Sie die beantworten?

Bitte, Herr Czeke. Danach Herr Gallert.

Herr Kollege, ich verlängere Ihre Redezeit liebend gern. Herr Tögel hat mich in diesem Haus schon einmal als EU-kritischen Fundamentalisten bezeichnet. Er hat Ihnen für Ihre Rede wahrscheinlich einen Punkt aufgeschrieben, zu dem er meinte, dass ich darauf eingehen würde: militärisch. Ich habe das Wort „militärisch“ heute überhaupt nicht erwähnt. Trotzdem deuten Sie an, dass ich in meiner Rede diesbezüglich Probleme vorgebracht hätte.

(Zurufe von der SPD)

Ich habe zwei konkrete Fragen: Erstens. Halten Sie es für demokratisch, wenn nach den neuen vertraglichen Vereinbarungen die Stimmenwichtung anders sein wird und die Bundesrepublik Deutschland dann mit dem Gewicht ihrer Stimmen kleinere Nachbarstaaten überstimmen kann?

Zweitens. Wie halten Sie es mit dem europäischen Mindestlohn? Die Bundesrepublik Deutschland braucht ihn.

Auch eine Fachfrage kann ich Ihnen nicht ersparen. Sie haben das europäische Handeln bei der Bewältigung der BSE-Krise genannt. Da werde ich natürlich ganz munter. Wissen Sie denn, wie die unterschiedlichen Nationen in Europa das bewerkstelligt haben?

Ich habe in Mützel darauf gewartet, als die gekeulte Herde von Mücheln angeliefert wurde. Die Bundesrepublik hat es wirklich im Verhältnis 1 : 1 umgesetzt. Es gibt aber Nationen, da wird eigenartigerweise kein Rind älter als 16 oder 17 Monate, weil das ein Schwellenwert ist. Es wird einfach geschlachtet, und zwar ohne die Entnahme von Proben. Wie ist das mit einem einheitlichen harmonischen Umgang in Europa in Übereinstimmung zu bringen?

Gleich zu der ersten Bemerkung. Tilman Tögel hat mir von sich aus nichts aufgeschrieben. Das hat unsere Praktikantin gemacht, die da oben auf der Zuschauertribüne sitzt,

(Zuruf von Herrn Gallert, DIE LINKE - Beifall bei der LINKEN)

Sie hat mir ein bisschen zugearbeitet. Darin kommt das Wort „militaristisch“ gar nicht vor.