Protokoll der Sitzung vom 15.09.2006

(Herr Prof. Dr. Paqué, FDP: Ein guter Jurist!)

möchte ich Sie fragen, ob wir uns insoweit einig sind, dass Eingriffe in die Tarifautonomie im überwiegenden Gemeinwohlinteresse rechtlich zulässig sind.

Mich hat übrigens recht nachdenklich gemacht, dass die Frisöse in Aschersleben nach meinem letzten Haarschnitt

(Heiterkeit bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP - Unruhe)

nur noch 2,60 € haben wollte.

Herr Rothe, ich werde nicht Stellung beziehen zu dieser humorvollen Darstellung eines besonders interessanten Falles gelungener handwerklicher Arbeit,

(Heiterkeit bei der FDP und bei der CDU)

aber ich werde Stellung nehmen zum Gemeinwohl. In der Tat ist in dieser Generalklausel, wie ich sie als Nichtjurist nennen würde, ein Interpretationsspielraum - das ist völlig richtig und das wissen Sie und ich auch -, aber der wird mit Sicherheit nicht so weit gehen, dass der Müntefering-Plan zur Beseitigung der Marktwirtschaft in Deutschland

(Heiterkeit bei der FDP und bei der CDU)

abgesegnet würde von einem Verfassungsgericht, das den Geist der Verfassung verstanden hat. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie als guter Jurist, der Sie sind, wenn wir etwas länger darüber diskutierten, diese Meinung teilten.

Vielen Dank. - Frau Budde, Ihre Frage bitte.

Da Sie so angefangen haben zu moralisieren, Herr Professor Dr. Paqué: Was würden Sie denn Ihrer Frisörin antworten, der Sie eben gerade gesagt haben, Sie fänden ihren Lohn wirklich menschenwürdig, wenn sie Ihnen sagt, ja, das ist ja ganz nett, dass Sie das so sehen, aber davon kann ich weder meine Wohnung bezahlen noch in den Urlaub fahren noch in Restaurants essen gehen?

(Unruhe bei der FDP)

Ich will Ihnen das nur als Gegenfrage stellen; Sie müssen mir darauf auch gar nicht antworten. Ich weiß, das wird auch wieder nur so, wie die Debatte eben war. Diese Frage sollten Sie sich einmal ganz in Ruhe stellen und überlegen, ob Sie darauf eine Antwort finden.

Frau Budde, ich stelle mir diese Frage nicht in Ruhe, sondern vor diesem Podium. Sie haben mich gefragt und ich antworte Ihnen darauf: Genau diese Frage zeigt, wie differenziert die Welt ist. Viele - -

(Zuruf von Frau Bull, Linkspartei.PDS - Weitere Zurufe von der Linkspartei.PDS)

- Ach, lassen Sie mich doch einmal mein Argument bringen, liebe Kollegen.

Liebe Kollegen, lassen Sie doch den Redner einmal ausreden. Desto schneller fahren wir fort.

(Heiterkeit bei der CDU und bei der Linkspar- tei.PDS)

Wir haben in unserer Gesellschaft zunächst einmal eine ganze Reihe von Doppelverdienern, sodass die Frage, die Sie hier stellen, überhaupt nicht relevant ist, weil es einen zweiten Verdiener in der Lebensgemeinschaft gibt, der auch einen Beitrag leistet. Das gilt übrigens auch für die vielen Studenten, die zu niedrigen Löhnen in Gasthäusern und Kneipen jobben. Die sind nicht darauf angewiesen. Die fallen keineswegs unter eine Armutsgrenze.

(Frau Rogée, Linkspartei.PDS: Die nehmen an- deren die Arbeitsplätze weg!)

Durch Mindestlöhne reduzieren Sie die Möglichkeiten, sich ergänzend etwas zu verdienen. Man muss sehr konkret in den Einzelfall hineinsehen, wenn man Eingriffe in den Arbeitsmarkt aus sozialpolitischer Motivierung macht. Wir haben einen Sozialstaat, der einen Mindestlebensstandard garantiert. Der darf aber nicht durch Eingriffe in den Arbeitsmarkt hergestellt werden, sondern muss durch darüber hinausgehende soziale Unterstützung gewährleistet werden.

(Beifall bei der FDP)

Herzlichen Dank, Herr Professor Paqué, für den lebhaften Beitrag. - Jetzt hat als letzter Debattenredner Herr Gürth das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will gleich zu Beginn sagen, wir, die CDU-Fraktion, sind dankbar dafür, dass die PDS das Thema heute zum Gegenstand der Aktuellen Debatte gemacht hat,

(Herr Gallert, Linkspartei.PDS: Jetzt biegen sich aber die Balken!)

weil sie Gelegenheit gibt, eine Debatte, die zum Teil unsachlich, zum Teil populistisch geführt wird, aber dennoch wichtig ist, gerade in dieser Zeit, in die Mitte der Gesellschaft, in die Mitte dieses Parlaments zu rücken und somit auch zur Versachlichung beizutragen.

Ich will mit einer Analyse beginnen und auch mit einer Analyse begründen, warum gerade wir in der Union es uns nicht leicht machen in der Debatte über Mindestlöhne und warum ich sehr froh darüber bin, dass wir diese Debatte hier führen.

Das Erste ist: Wir haben bereits einen Mindestlohn. Wenn man über Mindestlöhne streitet und dies öffentlich macht, wie das manchmal sehr verkürzt geschieht, dann muss man sagen, dass es auch in Deutschland einen Mindestlohn gibt. Es gibt Staaten, die haben einen gesetzlichen Mindestlohn, und es gibt Staaten in der OECD und in Europa, die haben einen tarifvertraglichen, also einen kollektivvertraglichen Mindestlohn. Zu Letzteren gehört Deutschland. Diese kollektivvertraglich geregelten Mindestlöhne sind bei uns auf der Basis der Tarifautonomie grundgesetzlich geschützt und waren über viele, viele Jahrzehnte ein gutes und wirksames Instrument für Wohlstand, Wachstum und angemessene Teilhabe auch der Arbeitnehmer an dem, was erwirtschaftet wurde. Wo stehen wir heute?

Wir haben außerdem gesetzliche und untergesetzliche Regelungen, die es darüber hinaus ermöglichen, in Freiraumbereichen Mindestlöhne festzusetzen, ob das das Entsendegesetz ist, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes oder anderes mehr.

Aber wir haben heute, im Jahr 2006, festzustellen, dass wir in Deutschland 3,4 Millionen Menschen haben, die in Vollzeit arbeiten und weniger als 1 500 € verdienen. 2,6 Millionen Menschen verdienen weniger als 1 300 € im Monat. Rund 1,3 Millionen Menschen in Deutschland gehen Vollzeit arbeiten und verdienen weniger als 1 000 € im Monat.

Dies könnte man im Einzelfall noch begründen. Man muss auch berücksichtigen, was für Einkommensver

hältnisse und was für Tätigkeiten dazugehören. Aber das Entscheidende ist für mich, dass vor diesem Hintergrund weitere Argumente mit in die Debatte einfließen müssen, auch in der Union.

Erstens ist festzustellen, dass wir in Deutschland schon seit Jahren eine Stagnation bei den Nettoeinkommen haben, trotz kleiner tariflicher Sprünge, die zwar bescheiden, aber in den letzten Jahren dennoch vorhanden waren. Das heißt, wenn man das internationale Ranking nach Kaufkraftparametern nimmt - da gibt es einen Kaufkraftdollar als Maßstab -, dann muss man feststellen, dass Deutschland in den letzten 15 Jahren abgerutscht ist.

Zweitens. Es gibt Löhne, die gezahlt werden. Ich bin nicht so vermessen zu sagen, dass der Tarifvertrag, der mit Gewerkschaften abgeschlossen worden ist, im viel zitierten Frisörhandwerk oder in anderen Bereichen, in denen die Löhne um 4,80 € liegen, sittenwidrig ist. Aber es gibt Löhne, die zum Teil darunter liegen oder die sich dicht an dieser Untergrenze orientieren. Die sind für die Tätigkeiten, für die Arbeit, die dort geleistet, wirklich an der Grenze der Sittenwidrigkeit. Deswegen muss auch darüber gesprochen. Das machen wir in der Union. Das ist unstrittig.

(Zustimmung von Frau Budde, SPD, und von Herrn Scharf, CDU)

Die Analysen, diese Feststellungen, trennen uns gar nicht. Nur, die Frage ist, wie bewertet man die Ursachen und welche Lösungsinstrumente schlägt man vor, um von dieser Situation wegzukommen. Da unterscheiden wir uns maßgeblich, insbesondere von der Linkspartei und große Teile bei uns in der Union auch von Teilen der Forderungen dieses Bündnisses für Mindestlohn.

Ich bin in der CDU. Ich bin sehr dankbar, dass meine Partei, die CDU, diese Debatte sehr sachlich und sehr ernst führt, weil wir eben nicht Klientelpartei sind wie PDS oder FDP und diesen Spagat zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen immer aushalten mussten.

(Zurufe von der Linkspartei.PDS)

Das zeichnet die CDU aus. Deswegen bin ich auch stolz, gerade in dieser Partei Mitglied zu sein.

(Beifall bei der CDU)

Ich möchte auf Argumente eingehen, die insbesondere vom Bündnis und von der PDS zu dieser Debatte gebracht wurden.

Erstens geht es um den Verweis auf andere Länder und auf andere Nationen, die gesetzliche Mindestlöhne haben. Ich warne vor diesem Vergleich, weil es ein Äpfelmit-Birnen-Vergleichen ist. Herr Staatssekretär - - Herr Minister Dr. Haseloff hat völlig zu Recht

(Heiterkeit)

darauf hingewiesen, dass man nicht, so wie es hier gemacht wurde, Äpfel mit - pardon, Herr Minister - Birnen vergleichen kann; denn die Brutto- oder die Nettolöhne sagen recht wenig darüber aus, welcher Lohn gerecht ist und welches System geeignet ist.

Weil Sie sogar die USA zitieren: Natürlich kenne ich auch diesen Act aus dem Jahr 1933 von Roosevelt und alles, was danach kam. Aber ich will das jetzt ein bisschen näher beleuchten. Dabei will ich nicht nur auf das

eingehen, was schon gesagt wurde. Sie müssen einmal sehen, welche Kaufkraft dahinter steckt und welche sonstigen Dinge im Umfeld zu berücksichtigen sind, ob das der Kündigungsschutz ist, der genannt worden ist, ob das sonstige Arbeitnehmerrechte sind oder ob das die Bürokratie ist, die Kosten verursacht und es vielen Menschen verwehrt, wieder schneller in einen Job zu kommen.

Sie müssen in Deutschland, wenn Sie ein Einzelhandelsgeschäft aufmachen und auch Leute beschäftigen wollen - dann hoffentlich ordentlich bezahlt -, 250 Gesetze anwenden. Ein Verstoß gegen jedes einzelne dieser 250 Gesetze kann zur Versagung des Gewerbes führen. Sie haben darüber hinaus die meisten Urlaubstage tarifvertraglich geregelt und außerdem die meisten gesetzlichen Feiertage. Wenn Sie alles zusammenrechnen und sich zwischen diesem und einem gesetzlichen Mindestlohn gemäß dem System in Großbritannien oder den USA entscheiden wollen, dann bin ich für das kollektivvertragliche Modell in Deutschland. Ich würde eher sagen, wir müssen daran arbeiten, dass das besser wird, anstatt das, was wir in Großbritannien oder in den USA haben, bei uns einzuführen.

(Beifall bei der CDU)

In den USA gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn von 5,15 $. Ich will sagen, dabei besteht auch die Gefahr einer Politisierung der Lohnpolitik. Das halte ich für falsch. Ich warne davor, zu glauben, dass Regierungen oder Politiker die geeigneteren Menschen sind oder dass dies das geeignetere System ist, um festzulegen, welcher Lohn mindestens zu zahlen ist. Ich baue mehr auf den Sachverstand der Gewerkschaften. Das sage ich Ihnen ganz klar. Ich halte es für falsch. Senator Ted Kennedy versprach im Wahlkampf im Jahr 2004 die Anhebung der Mindestlöhne von 5,15 $ auf 7 $ in zwei Schritten. Das hat ihm nichts genützt. Es war sehr knapp, aber immerhin.

Aber wie sieht es konkret aus? Die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer machen sich abhängig von Regierungen und Politikern in Bezug auf den Zeitpunkt, wann ein Mindestlohn angepasst wird. Sie haben es jetzt im Rahmen der Tarifautonomie selbst in der Hand. In den USA gab es im Zeitraum von 1981 bis 1989 keine Anhebung. In den 90er-Jahren gab es ganze zwei und seit dem Jahr 1997 wieder keine Anhebung.