Protokoll der Sitzung vom 07.10.2010

Herr Abgeordneter Geisthardt, jetzt können Sie intervenieren.

Herr Präsident! Frau Kollegin Budde, nur der guten Ordnung halber: Die Chefin des Stabes des Sanitätsamtes in München hat eine lupenreine Ostbiografie. Das ist die Frau Generalärztin Dr. Franke.

(Frau Budde, SPD: Ich kenne sie nicht!)

Nur damit das klar ist. Wir haben es auch bis dahin geschafft.

(Frau Budde, SPD: Alles klar! Danke! - Unruhe)

Damit ist das auch richtig gestellt. - Jetzt kommt der Beitrag der FDP zur Regierungserklärung. Ich erteile dem Abgeordneten Herrn Wolpert das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Budde, ja, es ist wahr, meines Erachtens sind anteilig tatsächlich nicht genügend Ostdeutsche in Verantwortung. Aber Sie sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wir haben eine

Staatsministerin im Auswärtigen Amt, die aus SachsenAnhalt kommt.

(Frau Budde, SPD: Cornelia Pieper! - Herr Gal- lert, DIE LINKE: Ich weiß nicht, ob das Beispiel gut war! - Unruhe)

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie das in der SPD selbst ausschaut. Aber vielleicht können Sie Herrn Gabriel dazu überreden, dass er nach Sachsen-Anhalt zieht. Dann haben wir wenigstens wieder einen Ostdeutschen bei Ihnen.

(Zuruf von Herrn Dr. Brachmann, SPD)

Meine Rede hat einen anderen Schwerpunkt. Deswegen gehe ich vorab noch einmal auf die Diskussion ein, die auch Herr Gallert geführt hat, und zwar über die Frage, inwieweit man bei der Vereinigung Alternativen gehabt hätte und inwieweit diese anders gewirkt hätten.

Ich habe, glaube ich, den Ministerpräsidenten gehört, der gesagt hat: Bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir alles besser. - So oft werden wir dazu allerdings nicht Gelegenheit haben. Ich glaube, es ist ein Irrtum und geht auch ein wenig ins Märchenhafte, wenn man behauptet, es hätte Alternativen gegeben, die funktioniert hätten.

In Bezug auf die Sanierung der Chemieindustrie in Bitterfeld kann ich Ihnen nur sagen: Diese ist kläglich gescheitert. Von dem Chemiekombinat ist nichts übrig geblieben; vielmehr ist es komplett zerlegt worden und musste sich mühsam in Klein-Klein wieder hocharbeiten.

Wir haben dort wieder 15 000 Arbeitsplätze, aber das nach 20 Jahren und nach 15 Jahren Niedergang. Das hätte man wahrscheinlich bei einer sofortigen Privatisierung im Ergebnis etwas schneller erreichen können.

Ich glaube, es ist so, dass bei der Treuhandprivatisierung einiges zum Ärger gelaufen ist. Aber dass das insgesamt der falsche Ansatz war und dass er Alternativen gehabt hätte, glaube ich nicht. Das ist eine bloße Behauptung.

(Zustimmung bei der FDP)

Aber, meine Damen und Herren, Sie haben es vielleicht schon gesehen: Die Liberalen im Landtag tragen am Revers einen Pin. Er ist blau-gelb - das wird Sie nicht verwundern. Aber er zeigt auch etwas, nämlich Sachsen-Anhalt. Die Umrisse unseres Bundeslandes sind deutlich zu erkennen. Wir tragen diesen Pin nicht erst seit kurzem, nur zur 20-Jahr-Feier des Landes, sondern seit vielen Jahren.

Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, SachsenAnhalt überall hin mitzunehmen und zu zeigen, dass wir aus Sachsen-Anhalt sind. Wir tragen diesen Pin wie eine Lieblingsmarke, mit der man sich identifiziert. Andere heften sich ihre Orden ans Revers, wir tun es mit Sachsen-Anhalt.

Warum tun wir das? - Weil wir glauben, dass wir uns nicht verstecken müssen, weil in diesem Land viel erreicht wurde. Seit 1990 haben wir die Arbeitsproduktivität mehr als verdoppelt. Etliche Kilometer Straße wurden saniert und teilweise neu gebaut, die Binnenhäfen wurden modernisiert, Brücken und Krankenhäuser, Schulen und Universitäten wurden saniert und neu gebaut, unzählige Einfamilienhäuser wurden saniert, modernisiert und teilweise auch neu errichtet.

76 500 Hochschulabsolventen haben seit 1990 ihren Abschluss an den Hochschulen Sachsen-Anhalts erworben. Etliche Touristen haben das Land angesehen. Rund 750 000 Menschen haben Sachsen-Anhalt als Lebensort gewählt und sind hierher gezogen; meine Frau und ich zum Beispiel. Ich kenne noch eine ganze Reihe von Menschen, die ebenso wie wir hierher gezogen sind und hier geblieben sind, Menschen, für die SachsenAnhalt ein wunderbarer Ort zum Leben ist, weil Land und Leute Chancen bieten, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

330 000 kleine Menschen sind in Sachsen-Anhalt, so wie wir es nunmehr seit 20 Jahren kennen, geboren worden. Für diese jungen Leute wird Sachsen-Anhalt immer selbstverständlich sein. Doch es sind längst nicht mehr so viele wie 1990. Wir haben hier schon oft darüber diskutiert und auch heute wurde es schon erwähnt: Sachsen-Anhalt wird älter. Doch Sachsen-Anhalt wird nicht nur deswegen älter, weil es weniger Babys gibt.

Mehr als eine Million Menschen haben das Land seit 1990 verlassen, nicht alle in Richtung Westen, aber sehr viele. Sie haben außerhalb Sachsen-Anhalts ihren Ausbildungs- oder Studienplatz gefunden, sie haben dorthin geheiratet, dort Wurzeln geschlagen und sie haben - das dürfte am häufigsten der Grund gewesen sein - dort Arbeit gefunden.

Nun war der Arbeitplatz schon immer die häufigste Motivation, den Wohnort zu wechseln. Das ist nicht spezifisch für Sachsen-Anhalt. Das gab und gibt es überall auf der ganzen Welt. Zu jeder Zeit sind Menschen dem Arbeitsplatz hinterhergezogen. Aber SachsenAnhalt hat diese Entwicklung besonders hart getroffen, weil viele Junge und gut Ausgebildete unter ihnen waren. Die ersten Folgen haben uns in Form des Fachkräftemangels bereits eingeholt. Die Folgen hinsichtlich der Rentenentwicklung hat der Ministerpräsident schon genannt.

Meine Damen und Herren! Es gab 1990 viel zu tun. 40 Jahre sozialistische Planwirtschaft hatten ihre Spuren hinterlassen. Aber es gab viele Menschen, die positiv in die Zukunft blickten. Ideen wurden geboren, Pläne wurden gemacht, Konzepte wurden geschrieben und Kredite wurden aufgenommen. Fördermittel und Spatenstiche folgten.

Doch nicht alle Blütenträume reiften. So manches Gewerbegebiet blieb leer und so manches Bürogebäude auch. Nicht jede Unternehmung glückte. Trotzdem ziehe ich meinen Hut vor jedem, der versucht hat,

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU und von Frau Budde, SPD)

auf eigenen Füßen zu stehen, seine Freiheit zu nutzen und Verantwortung für sich, für seine Familie und für andere zu übernehmen.

In den letzten 20 Jahren vermeldeten die Gewerbeämter des Landes mehr als 500 000 Gewerbeanmeldungen. Das heißt, 500 000 mal haben Menschen eine Geschäftsidee gehabt und versucht, sie umzusetzen. Ohne diese Menschen hätte Sachsen-Anhalt heute nicht 77 000 Unternehmen. Ohne diese Menschen gäbe es die hiesige Wirtschaftsstruktur nicht.

Unser Respekt sollte den Menschen in unserem Land gelten, die ihre ganze Kraft und nicht selten auch ihr Hab und Gut eingebracht haben, um ein Unternehmen zu

gründen, Handel zu treiben, Dinge herzustellen oder Dienstleistungen zu erbringen.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Gerade die kleinen Unternehmen mit wenigen Mitarbeitern sind es, die Sachsen-Anhalts Wirtschaftsstruktur ausmachen, in denen von früh bis spät gearbeitet wird, in denen Familienmitglieder mithelfen und in denen manchmal jahrelang auf Urlaub verzichtet wird, in denen Existenzängste ausgestanden und Risiken in Kauf genommen werden, obwohl der wirtschaftliche Erfolg die ganz großen Sprünge meist gar nicht zulässt.

(Herr Gürth, CDU: Genau so ist es!)

Diese kleinen Firmen machen 90 % der Unternehmen in Sachsen-Anhalt aus. Deshalb werbe ich hier um Anerkennung für diejenigen, die sich täglich den Herausforderungen einer selbständigen Existenz stellen. Ich werbe aber auch um Anerkennung für diejenigen, deren Idee nicht zum Erfolg führte, deren manchmal jahrelanges Bemühen vergebens war.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Ich möchte auch auf das Geld zu sprechen kommen, auf das Geld, das den neuen Bundesländern zur Verfügung gestellt wurde, um die marode Wirtschaft in eine moderne Wirtschaft zu verwandeln. Wir nehmen dankbar an, was uns die alten Bundesländer an Solidaritätsmitteln zukommen lassen. Wir werden diese Solidarität auch zukünftig brauchen.

Meine Damen und Herren! Wir müssen nicht mit gesenktem Haupt durch die Bundesrepublik ziehen. Ja, wir sind ein Nehmerland und wir haben in den letzten 20 Jahren viel bekommen. Aber, meine Damen und Herren, wir sind auch ein Geberland; denn wir geben unsere Ideen, wir geben unsere Identität, wir geben unsere Kraft und wir bereichern damit die Bundesrepublik.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine kleine Anmerkung am Rande. Wie Sie wissen, habe ich mein Leben bis 1990 in Bayern verbracht. Bis 1987 - 37 Jahre lang - war Bayern ein Nehmerland. Ich habe übrigens in der Zeit, in der ich dort lebte, nie mitbekommen, dass es eine Debatte darüber gegeben hätte, Hamburg, das dieselben 37 Jahre lang ein Geberland gewesen ist, eine Dankesadresse zu schicken. Sie wurde von Hamburg auch nie verlangt. Es gab diese Erwartungshaltung nicht.

Meine Damen und Herren! Solidarität ist eine gemeinsame Anstrengung und die Wiedervereinigung bedeutet auch ein gemeinsames Teilen.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Nun ist es nicht so, dass der Aufbau und der Umbau unseres Landes abgeschlossen sind. Unsere Schulden sind zu hoch, die Steuerkraft ist zu niedrig. Die Abwanderung ist zu hoch. Wir haben zu viele Schulabbrecher. Der Niedriglohnsektor ist zu groß. Der Industrialisierungsgrad der Wirtschaft ist zu gering und das Armutsrisiko ist zu hoch.

Auch wenn die Beschäftigtenzahlen trotz Abwanderung seit zehn Jahren gleich geblieben sind und die hiesige

Erwerbsquote ähnlich der im Westen ist, so ist doch noch einiges zu tun. Sachsen-Anhalt muss weiter wachsen. Wir brauchen eine sich selbst tragende Wirtschaft, eine robustere Wirtschaftsstruktur. Wir wollen unsere Steuermittel aus eigener Leistung erwirtschaften und ein Umfeld bieten, das aus Innovationen gut bezahlte Arbeitsplätze entstehen lässt.

Wir müssen unsere Schulden in den Griff bekommen, sparen und gleichzeitig unsere Wirtschaftskraft durch eine intelligente Wirtschaftspolitik erhöhen. Wir müssen die Qualität im Bildungssystem verbessern. Wir müssen attraktive Lebensräume schaffen und Zuwanderung organisieren.

Meine Damen und Herren! In den verschiedenen Statistiken, die überall zitiert werden, war zu lesen, dass der Grad der Identifizierung der Menschen mit ihrem Land in Sachsen-Anhalt in den letzten 20 Jahren gestiegen ist. Das halte ich für absolut nachvollziehbar, weil wir ein Land der Ideen sind und sich die Menschen dessen bewusst werden.

Hier wurde das Prinzip der Luftpumpe entdeckt. Der erste Farbfilm kam aus Sachsen-Anhalt, die Homöopathie, die ersten Kuchenbackmischungen und das Würstchen in der Dose.

(Herr Gürth, CDU: Das erste Ganzmetallflugzeug!)

Sachsen-Anhalt ist das Land mit der größten Anzahl an Weltkulturerbestätten. Wir sind das Land Luthers, Ottos I., Waldemar Cierpinskis, der Himmelsscheibe, HansDietrich Genschers, des Bördebodens, Bismarcks, der Gruppe „Tokio Hotel“, Händels, des Baumkuchens, Täve Schurs, Telemanns und nicht zuletzt Jürgen Sparwassers.

Lassen Sie mich selbstbewusst sagen: Wir schauen zuversichtlich in die Zukunft und mit Stolz zurück. Das Land hat einen Wandel gemeistert, auf den es stolz sein kann. Für uns Liberale ist das Glas halb voll und nicht halb leer. Deshalb tragen wir diesen Pin mit Stolz. - Ich danke Ihnen.