Protokoll der Sitzung vom 11.11.2011

Die Regelbedarfsstufe 3 umfasst 80 % des vollen Regelsatzes, das entspricht 291 €. Eingeordnet werden in diese Regelbedarfsgruppe erwachsene Leistungsberechtigte, die keinen eigenen Haushalt führen, weil sie im Haushalt anderer Personen leben.

Während junge Erwachsene über 25 Jahre, die bei ihren Eltern leben, arbeitsfähig sind und ALG II erhalten, nach § 7 Absatz 3 SGB II nicht zur Bedarfsgemeinschaft zählen, quasi eine eigene Bedarfsgemeinschaft bilden und den vollen Regelsatz erhalten, werden die gleichen Leistungsberechtigten nach dem SGB XII in die neue Regelbedarfsstufe 3 eingeordnet und erhalten damit 73 € weniger als SGB-II-Leistungsberechtigte. Demzufolge wurden ihnen seit dem 1. Januar 2011 die Leistungen um 73 € gekürzt.

Betroffen von diesen Benachteiligungen sind nach Aussagen des Bundesbehindertenbeauftragten

Hubert Hüppe etwa 37 000 Menschen mit Behinderungen. Dabei handelt es sich zumeist um Menschen mit einem hohen Hilfebedarf. Diese Menschen mit hohem Hilfebedarf leben wegen ihrer Behinderung auch im Alter von über 25 Jahren sehr oft noch bei ihren Familien, weil sie auf die Hilfe ihrer Familien oder auf die Hilfe einer Wohngemeinschaft angewiesen sind.

Diese offensichtliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen durch den Gesetzgeber so kurz nach der Ratifizierung der UN-Behinder

tenrechtskonvention durch die Bundesrepublik war wohl den Koalitionsfraktionen und auch der SPD im Bundestag zunächst nicht aufgefallen. Trotz zahlreicher Proteste von Behinderten- und Sozialverbänden im Vorfeld der Gesetzgebung wurde keine Gleichstellung vorgenommen.

Auch im Vermittlungsverfahren des Bundesrates konnte man sich lediglich auf eine Protokollnotiz einigen, in der für irgendwann eine Prüfung des Regelsatzes versprochen wurde. Im Gesetz fand diese Prüfung jedoch keinen Niederschlag. Dass damit die Betroffenen nur vertröstet werden sollten, wurde in den letzten Monaten deutlich.

Wie ernst diese Protokollnotiz zu nehmen ist, zeigt die Antwort des Staatssekretärs Gerd Hoofe vom 15. Juli 2011 auf eine parlamentarische Anfrage der Bundestagsabgeordneten Katja Kipping. Staatssekretär Hoofe sieht keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass für erwachsene behinderte Menschen, die im Haushalt der Eltern leben müssen, weil ihr Hilfebedarf anderswo nicht gedeckt werden kann, der gleiche Regelsatz zur Anwendung kommen könnte wie bei Erwachsenen im Bereich des SGB II. Auch die angebliche Notwendigkeit neuer statistischer Erhebungen, die erst im Jahr 2013 abgeschlossen werden können, schiebt eine Angleichung der Verhältnisse auf die lange Bank.

Diese offensichtliche Ungleichbehandlung stößt nicht nur bei vielen Menschen auf Unverständnis, sondern sie benachteiligt vor allem die auf Assistenz angewiesenen Menschen und ihre Familien. Außerdem konterkariert diese Verfahrensweise alle Beteuerungen der Bundesregierung, die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention seien in der Bundesrepublik weitgehend umgesetzt.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Nationale Aktionsplan listet zahlreiche Maßnahmen auf, die angeblich zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention beitragen. Die Abstellung solcher Ungleichheiten ist darin nicht aufgeführt.

Mit dieser Regelung werden auch Bestrebungen, Menschen mit Behinderungen ein Leben außerhalb stationärer Einrichtungen zu ermöglichen und ihre Selbstbestimmung zu fördern, erschwert bzw. verhindert. Denn die Argumentation, dass das Zusammenleben mehrerer Erwachsener im Haushalt eines anderen Erwachsenen die Regelbedarfsstufe 3 mit sich bringt, führt dazu, dass es auch selbstorganisierte Wohngemeinschaften nicht geben wird.

Oder glauben Sie, meine Damen und Herren, dass die Absenkung der zum Lebensunterhalt zur Verfügung stehenden Mittel um 73 € die betreffenden Menschen dazu motiviert, in Wohngemeinschaften zu ziehen? Ambulant vor stationär zu fördern, sieht meines Erachtens anders aus.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit dieser Meinung bin ich nicht allein. Diese Meinung wird auch von vielen Behindertenverbänden, darunter auch die Bundesvereinigung der Lebenshilfe, vertreten. Deren Vorsitzender Robert Antretter schreibt in einem Brief an verschiedene Bundestagsabgeordnete Folgendes:

„Diese Ungleichbehandlung wird durch die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung... mit dem Systemunterschied zwischen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe gerechtfertigt. Der Leistungsbezug des SGB II sei nur auf vorübergehende Unterstützung ausgelegt, wohingegen Leistungen der Sozialhilfe zumeist dauerhaft bezogen würden. Mithin handele es sich bei ersterem um ein dynamisches, bei letzterem um ein statisches System.

Diese Begründung ist nicht überzeugend und realitätsfern. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil klargestellt, dass nach Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums besteht. Bereits im Urteil vom 23. März 2010... hat das Bundessozialgericht ausgeführt, dass im Hinblick auf die identische sozialrechtliche Funktion beider Leistungen, nämlich die Sicherstellung des Existenzminimums, für eine unterschiedliche Behandlung der Personengruppen der

SGB-XII- und SGB-II-Leistungsempfänger keine sachlichen Gründe erkennbar seien und auch über 25-jährigen SGB-XII-Leistungsbeziehern der volle Regelsatz zustehe.

Der pauschale Abschlag von 20 % der Grundsicherungsleistung trifft Personen, die besonders auf die Unterstützung ihrer Familien und die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind. Gerade behinderte Menschen sind aufgrund ihrer Behinderung zumeist nicht in der Lage, aus eigener Kraft etwas an ihrer Einkommenssituation zu ändern.

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe bittet deshalb nachdrücklich darum, in der jetzt tagenden Bund-Länder-Arbeitsgruppe darauf hinzuwirken, dass es nicht zur Einführung dieser diskriminierenden Regelbedarfsstufe 3 kommt.“

Der Brief hatte keinen Erfolg. Diese Bitte verhallte im Februar 2011. Inzwischen haben sich verschiedene Initiativen von Betroffen an den Gesetzgeber gewandt. Eine Briefaktion der Lebenshilfe Wolfenbüttel ruft dazu auf, sich mit einem Protestschreiben an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu wenden. Sie begründen ihren Protest unter anderem mit dem Artikel 3 des Grundgesetzes. In Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benach

teiligt werden.“ - Mehr als Tausend dieser Schreiben sind bereits in Berlin angekommen.

Wir haben im Landtag schon oft über Integration und auch Inklusion diskutiert. Deswegen sollten auch wir uns dafür einsetzen, dass die gleichen Rechte der Menschen mit Behinderung nicht nur beschworen, sondern auch gewährleistet werden.

Stimmen Sie unserem Antrag zu, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und beauftragen Sie mit uns die Landesregierung, in dieser Angelegenheit aktiv zu werden. - Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Zoschke. - Für die Landesregierung hat nun Herr Minister Bischoff das Wort. Bitte schön, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Zoschke, ich teile zunächst einmal mit Ihnen die Auffassung, dass eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt ist. Ich glaube, diese Auffassung teilen viele im Land. Es gab in den letzten Monaten genügend Briefe von Landesministerinnen und Landesministern an die Bundesministerin.

Die Antwort auf die Anfrage Ihrer Abgeordneten im Bundestag haben Sie bereits angesprochen. Diese liegt auch den Landesministerinnen und Landesministern vor. Die Bundesministerin sagt, sie will das erst im Jahr 2013 überprüfen lassen. Sie hat unterdessen ein Gutachten in Auftrag gegeben, das das überprüfen soll.

Nun kann man gegen ein Gutachten erst einmal nichts sagen. Uns ging es hauptsächlich darum, dass die Überprüfung, die in der Protokollnotiz genannt ist, möglichst zügig durchgeführt wird. Darauf drängen wir. Mit dieser Antwort muss man sich nicht begnügen. Aber ich kann auch schlecht kritisieren, dass diese Überprüfung mit validen Daten unterlegt sein muss; denn ansonsten scheitert man an dieser Stelle. Alles andere sehe ich ähnlich.

Zur unterschiedlichen Behandlung von nicht erwerbstätigen Personen nach dem SGB XII, also von Menschen mit Behinderungen, und Erwerbsuchenden - das ist die Auseinandersetzung - hat das Bundessozialgericht klargestellt, dass es diese Ungleichbehandlung nicht geben soll. Daraufhin ist im März 2011 ein Gesetz verabschiedet worden, nach dem die Regelbedarfsstufen rückwirkend zum 1. Januar 2011 eingeführt wurden und nach dem die Regelbedarfsstufe 3 mit dieser Unterschiedlichkeit eingeführt worden ist. Diese soll noch einmal überprüft werden.

Sie haben eine Begründung genannt, die ich noch nicht kannte. Bisher wurde es damit begründet,

dass die Personen, die Leistungen nach dem SGB II und nach dem SGB XII erhalten, nicht gleichbehandelt werden sollten, weil davon ausgegangen wird, dass die arbeitsuchenden Menschen mehr Aufwendungen hätten - sie müssen sich bewerben usw. - und die anderen diese Aufwendungen nicht hätten. Das war eine Begründung.

Die zweite Begründung war, dass es nach dem SGB XII keine Altersbegrenzung von 25 Jahren gab und diese erst mit dem SGB II eingeführt wurde. Vorher gab es eine Regelung hinsichtlich des Anteils von 80 %.

Ich persönlich halte diese Ungleichbehandlung für nicht gerechtfertigt. Ich sehe es so, wie es das Bundessozialgericht ausführte, weil von Vornherein dargelegt wurde, dass das SGB XII das Referenzgesetzbuch für das SGB II sei und sich danach alles richte. Erst durch die Gesetzgebung in diesem Jahr wird diese Ungleichbehandlung bzw. die Begründung, es nicht gleich zu behandeln, angeführt. Ich glaube, das sollte überprüft werden.

Deshalb finde ich den Änderungsantrag der regierungstragenden Fraktionen gut. Mit dem Schritt, der bislang gegangen wurde, werden wir nichts erreichen. Das werden wir nicht zügig fortschreiben können. Die Antworten liegen vor. Es lässt sich auch schwer etwas damit anfangen, wenn jemand sagt, er richte eine Arbeitsgruppe ein oder gebe ein Gutachten in Auftrag und mit dem Gutachten sollten valide Daten vorgestellt werden.

Deshalb schlagen die regierungstragenden Fraktionen vor - da kann ich mitgehen -, dass bei der Novellierung des SGB XII, die nächstes Jahr ansteht, bei der es ohnehin geregelt werden muss - denn an diese Stelle gehört es -, diese Frage maßgeblich geregelt wird und die Forderung aufgestellt wird, dass eine Gleichbehandlung geschieht, wie es das Bundessozialgericht auch sieht.

Ich glaube, unser aller Ansicht ist, dass das nicht ungleich behandelt werden soll. Denn diejenigen, die ein Leben lang aufgrund von Behinderungen nicht erwerbsfähig sein können, sollten nicht dadurch zurückgestellt werden, dass man sagt, andere sind zeitweise arbeitsuchend und müssen deshalb mehr bekommen. Ich glaube, das ist hinlänglich bekannt.

Insofern werde ich mich bei der Novellierung des SGB XII dafür einsetzen. Wir haben demnächst eine Fachministerkonferenz, bei der ich das auch ansprechen werde. Das kann man dann auch im Protokoll nachlesen, um zu wissen, ob die Landesregierung etwas tut. Aber ich halte dies für den erfolgversprechenderen Weg, als noch einmal Briefe zu schreiben oder ähnliche Dinge zu machen; denn das hat keinen Erfolg.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister Bischoff. - Wir treten nun in eine Fünfminutendebatte ein mit der folgenden Redereihenfolge: CDU, GRÜNE, SPD, DIE LINKE. Für die CDU-Fraktion hat zunächst Frau Gorr das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann meinen Redebeitrag zum Antrag der LINKEN mit dem Titel „Regelbedarfsstufe 3 unverzüglich abschaffen“ kurz halten. Wie ich selbst aus Gesprächen im Landesbehindertenbeirat weiß, besteht in der Tat Handlungsbedarf für Menschen mit Behinderungen ab dem 25. Lebensjahr, die insbesondere vor dem Hintergrund der Behindertenrechtskonvention nicht benachteiligt werden sollten und dürfen.

Daher bittet die CDU-SPD-Koalition in ihrem Änderungsantrag die Landesregierung, darauf hinzuwirken, dass eine Überprüfung der Regelbedarfsstufe 3 durch die Bundesregierung zeitnah, also bereits im Zusammenhang mit der für das Jahr 2012 angekündigten Novellierung des SGB XII, erfolgen soll.

Wir sehen in der unverzüglichen Überprüfung eine realistische Möglichkeit, die Interessen der betroffenen Menschen und ihrer Familien angemessen zu vertreten. Ich bitte daher um die Zustimmung zu unserem Änderungsantrag, obwohl es nach den Worten des Ministers eigentlich nicht einer Aufforderung an die Landesregierung bedarf. - Danke.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Gorr. - Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht jetzt die Kollegin Frau Lüddemann. Bitte schön

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Man sollte meinen, die Bundesregierung hätte aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Berechnung der Regelsätze für Kinder gelernt. Darin wurde eindeutig festgestellt, dass pauschale Abstaffelungen verfassungswidrig sind.

Aber was muss man erleben? - Seit dem Frühjahr 2011 finden für Menschen mit Behinderungen, die älter als 25 Jahre sind und zu Hause leben, genau dieselben Verfassungswidrigkeiten statt, und das obwohl - das ist heute schon mehrfach erwähnt worden - das Bundessozialgericht bereits im Jahr 2009 festgestellt hat, dass die volle Bedarfsstufe anzuerkennen ist. Das ist noch nicht so lange her, dass man es vergessen könnte.

Dazu fällt mir eigentlich nichts mehr ein. Wenn der ohnehin niedrige Regelsatz um 20 % abgestaffelt

wird, geht weder die Existenzsicherung noch die soziale Teilhabe. Das ist aber das, was die Bundesregierung mit der Anerkennung der Behindertenrechtskonvention versprochen hat.

Die Gesetzesbegründung gibt dazu auch nicht viel her. Sie ist sehr schwammig und geht von der Annahme aus - ich zitiere -, „dass jeweils individuelle Bedarfe sinken, wenn mehrere erwachsene Personen zusammenleben.“ Warum diese Argumentation ausgerechnet bei den Menschen mit Behinderungen greift, erschließt sich mir überhaupt nicht: Im Gegenteil: Diese besonderen Bedarfslagen, die in Rede stehen, verursachen Mehrkosten.

Ich denke, die Regelbedarfstufe 3 ist eine Ungleichbehandlung per Gesetz und sollte abgeschafft werden.