Protokoll der Sitzung vom 27.02.2014

Man muss eben auch eingestehen, dass mit zunehmendem Alter auch die Angehörigen an die Grenzen ihrer Kräfte und Möglichkeiten stoßen. Alle Leistungsträger und alle Leistungserbringer sind hierbei gefordert, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und flexible Angebote zu unterbreiten, die dem individuellen Hilfebedarf einerseits und dem Wunsch- und Wahlrecht andererseits gerecht werden können.

Insofern ist dieser Antrag ein berechtigtes Anliegen. Wir werden zügig daran arbeiten, dass wir das so regeln können, dass gerade diese Eltern in Ruhe und ohne Gewissensbisse ein Stückchen verdienten Ruhestand erleben können.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Danke sehr, Herr Minister. - Wir treten in eine Fünfminutendebatte ein. Als erste Rednerin spricht Frau Gorr für die CDU-Fraktion.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Antrag der Fraktion DIE LINKE wurde bereits ausführlich eingeführt. Minister Bischoff hat die Sichtweise des Ministeriums vorgetragen. Daher möchte ich zu dieser späten Stunde einige Aspekte benennen, die den Hintergrund des Antrags betreffen; denn das Thema ist uns durchaus nicht unbekannt.

Es geht um die Lebenslage und Betreuungssituation von schwerstmehrfachbehinderten Menschen. Was verbirgt sich im Einzelfall dahinter? - Teilhabe und Selbstbestimmung sollen und müssen laut UN-Behindertenrechtskonvention für jeden Menschen möglich sein, lautet die gesellschaftliche Forderung. Teilhabe bedeutet aber auch, selbstbestimmt und selbständig handeln zu können.

Ich möchte dem Hohen Hause von einem jungen Mann berichten. Nennen wir ihn Fabian. Er ist Mitte 30. Er lebt bei seinen Eltern. Er benötigt intensive Betreuung und Zuwendung jeden Tag in der Woche, jeden Tag im Jahr. Er besucht eine Fördergruppe der Lebenshilfe, in der er gut betreut wird und sich wohlfühlt. Von Gnade, Frau Zoschke,

kann hier keine Rede sein. Fabian benötigt eine klare Tagesstruktur, ihm vertraute Bezugspersonen und eine ihm vertraute Umgebung, in der er sich auskennt.

Seine Eltern, die die Betreuung ihres Sohnes im häuslichen Umfeld noch bewältigen können, sorgen sich um seine Zukunft, in der sie aus alters- oder gesundheitlichen Gründen mit der Betreuung ihres Sohnes im eigenen Heim vielleicht eines Tages überfordert sind.

Für einige schwerstmehrfachbehinderte Menschen, nicht nur natürlich in mittleren Jahren, die ihr Leben nicht allein bewältigen und oft auch ihren Anspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe nicht ohne Hilfe einfordern können, auch für ihre zum Teil betagten Eltern wäre es eine Erleichterung, wenn sie zum Beispiel in der Nähe des gewohnten Förderbereichs eine Wohnunterbringung oder eine andere Betreuungsform erhalten können - möglichst auch mit Gleichaltrigen.

Wir haben zunehmend schwerstmehrfachbehinderte Menschen in Fördergruppen, die noch bei den Eltern leben, denen wir eine Möglichkeit eröffnen müssen, zukünftig ohne Eltern und Familie, aber in einem weitestgehend selbstbestimmten Umfeld zu wohnen; das wurde schon erwähnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen uns in Sachsen-Anhalt dieses Problems mit konkreten, flexiblen und zukunftsfähigen Lösungsvorschlägen annehmen. Ich bin optimistisch, wie auch Minister Bischoff es gesagt hat, dass die Rahmenbedingungen für die betroffenen Menschen so gestaltet sein können, dass wir einerseits die notwendige Unterstützung im Bereich des Wohnens sichern und andererseits die Fortsetzung der Förderung in den Fördergruppen an Werkstätten für Menschen mit Behinderung gewährleisten können. Der im Antrag der Fraktion DIE LINKE genannte Erlass ist aus unserer Sicht nicht zwingend aufzuheben, um dieses zu erreichen.

Daher bitte ich um Zustimmung zum gemeinsamen Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und der SPD. Unser Änderungsantrag in der Drs. 6/2847 richtet die Bitte an die Landesregierung,

erstens im Ausschuss für Arbeit und Soziales über die Lebenslage und Betreuungssituation der schwerstmehrfachbehinderten Menschen zu berichten, die in Fördergruppen an Werkstätten für behinderte Menschen gefördert werden, und dabei insbesondere darzustellen, welche Unterstützungsmöglichkeiten im Bereich des Wohnens für diese Menschen bestehen, und

zweitens vor allen Dingen auch zu prüfen und dem Ausschuss für Arbeit und Soziales zu berichten, welche Rahmenbedingungen - zum Beispiel Verwaltungsvorschriften, vertragliche Vereinbarungen gemäß § 75 ff. SGB XII - geschaffen oder ver

ändert werden müssen, um für schwerstmehrfachbehinderte Menschen, die in Fördergruppen an Werkstätten für behinderte Menschen betreut werden, eine weitestgehende Flexibilität der Leistungserbringung insbesondere bezüglich der Betreuungsformen und -orte im Bereich des Wohnens zu ermöglichen.

Ich bin sicher, dass wir einen Weg finden werden, dieses umzusetzen. - Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Danke sehr, Frau Gorr. - Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht die Abgeordnete Frau Lüddemann. Bitte sehr.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Der demografische Wandel stellt uns vor vielfältige Herausforderungen. Eine bedauerliche greift die Fraktion DIE LINKE mit ihrem Antrag auf. Es geht um die Frage: Was passiert, wenn pflegende Eltern selbst pflegebedürftig werden, wenn sie die Pflege und Betreuung ihrer längst erwachsenen, oft mehrfachbehinderten Kinder nicht mehr selbst leisten können?

Im Grunde sind es zwei wesentliche Themen, die in dem Antrag angesprochen werden: zum einen die Problematik der pflegenden Angehörigen, die in vielen Fällen nicht geklärt ist, zum anderen die Frage der Situation von Mitarbeitenden in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, die auf der einen Seite direkt in der Werkstatt sind und auf der anderen Seite in angeschlossenen Fördergruppen. Denn auch für diejenigen, die in der Werkstatt direkt tätig sind, stellt sich das Problem, dass sie, wenn sie diesen Status verlieren, nicht mehr in der angeschlossenen Wohngruppe leben können und stationär untergebracht werden müssen.

Auch das ist eine Frage, die wir nicht im Rahmen dieser Debatte und im Rahmen dieses Antrages klären können, der wir uns aber dringend widmen müssen. Denn es ist auch ein quantitatives Problem, das hier in Größenordnungen auf uns zukommt.

In dem Antrag widmet sich die Fraktion DIE LINKE - aus unserer Sicht zu Recht - nun erst einmal der Frage der Fördergruppen.

Diese sind in unter dem sogenannten verlängertem Dach der Werkstätten untergebracht. Das ist schon ausgeführt worden. Der Erlass aus dem Jahr 1993, der hier in Rede steht, ist von Herrn Minister auch schon zitiert worden.

Dafür, dass dieser Erlass geändert werden muss, spricht auch, dass wir diesen Erlass nicht einmal

online finden konnten. Ich kann mich nur bei der Fraktion DIE LINKE bedanken, die über ein gutes Archiv verfügt und uns freundlicherweise eine eingescannte Fassung zur Verfügung gestellt hat. Allein das zeigt, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt.

Sie werden sich daran erinnern, dass wir gefordert hatten, dass dieser Aktionsplan auch inhaltlich im Parlament debattiert werden müsste, was die Koalition abgelehnt hat. Nun hätte man meinen können, dass im Rahmen der Erarbeitung auch Erlasse und Rahmenrichtlinien, die in diesem Land gelten, einer Konformitätsprüfung unterzogen werden. Das ist offenbar nicht passiert; denn sonst könnte ein solcher Erlass nicht mehr gültig sein.

Dieser Erlass steht auch nicht nur für sich, sondern er hat es auch - sicherlich der Historie geschuldet - in den Rahmenvertrag geschafft. Deswegen ist es jetzt auch so schwierig, Änderungen zu vollziehen.

Die Situation, worum es im Einzelfall geht, ist schon geschildert worden. Wenn die Eltern die Pflege nicht mehr leisten können, müssen die Kinder, die dann bereits erwachsen sind, stationär untergebracht werden, weil sie kein Anrecht auf einen Wohnheimplatz haben.

Ich selbst habe erlebt - ich bin Mitglied in einer Besuchskommission -, wie schwierig es ist, den Leistungstyp 2 a überhaupt zu beantragen. Das sind Verfahren, womit wir nonstop bis übermorgen beschäftigt wären, um das darstellen zu können. Wir sehen also dringenden Handlungsbedarf.

Ich will noch einmal einen Satz zitieren, auch gewandt an die Kolleginnen und Kollegen der CDUFraktion, der verdeutlicht, warum dieser Erlass geändert werden muss. In dem Erlass findet sich zum Beispiel der Satz:

„Die Fördergruppe soll denjenigen Behinderten offenstehen, die nach Art und Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen.“

Das mag in dem Duktus vom Anfang der 90er-Jahre noch irgendwie Bestand gehabt haben. Aber ich glaube - so habe ich auch den Minister verstanden -, das entspricht nicht mehr dem heutigen Stand der Forschung, das entspricht nicht der UNBehindertenrechtskonvention. Ich glaube, wir sollten Menschen nicht nach ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit beurteilen.

Der individuelle Hilfebedarf muss im Vordergrund stehen. Wir müssen auch an dieser Stelle wegkommen von einer Defizitorientierung hin zu einer Kompetenzorientierung. Es zeigt sich, dass die Behindertenrechtskonvention auch dann, wenn es Landesaktionspläne gibt, noch lange nicht das tatsächliche Leben ändert, dass man immer wieder

dranbleiben muss, um einen wirklichen Perspektivwechsel zu erreichen und dass wir uns dringend der Problematik der Leistungstypen widmen müssen.

Insofern stimmen wir ganz eindeutig dem Antrag der Fraktion DIE LINKE zu. Ich bedanke mich auch persönlich dafür, dass Sie dieses Problem zur Sprache gebracht haben, weil ich eben auch in der Besuchskommission viele Fälle erlebt habe, die in dieser Hinsicht hoch problematisch sind. - Danke.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Danke sehr, Frau Kollegin Lüddemann. - Für die SPD-Fraktion spricht die Abgeordnete Frau Dr. Späthe.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! dieser Antrag der Fraktion DIE LINKE ist in der Tat speziell. Es ist auch eine schwierige Materie. Herr Minister Bischoff hat es schon gesagt, er ist auch schwierig formuliert.

Wie ist die Sachlage? - Anfang der 90er-Jahre - das ist bereits gesagt worden - wurden extra, um Menschen mit erhöhtem Hilfebedarf, die von ihren Eltern oder von Verwandten gepflegt werden, eine Tagesstruktur zu ermöglichen, eben diese Fördergruppen geschaffen. Dazu gab es diesen Erlass.

In dem Erlass steht auch, dass er für Menschen mit Hilfebedarf gelte, die zu Hause bei ihren Eltern wohnten. Darauf bezieht man sich heute misslicherweise heute vielfach. Das ist genau die Situation, die Sie beschrieben haben.

Ich war gestern in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Alle Besucher der Fördergruppe in dieser Werkstatt leben in der eigenen Häuslichkeit, gepflegt von Eltern oder Verwandten. Sie haben alle einen hohen bis sehr hohen Hilfebedarf.

Sie sind bereits über einen langen Zeitraum in der Fördergruppe und es ist auch nicht absehbar, dass sie in irgendeiner Form in den Arbeitsbereich der Werkstatt eintreten könnten. Das bedeutet, alle Wohnangebote an die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen kommen für Menschen mit einem höheren Hilfebedarf und nach den Buchstaben der Rahmenvereinbarung explizit nicht in Betracht.

Es häufen sich die Wortmeldungen besorgter Eltern; das ist übereinstimmend von allen Vertretern gesagt worden. Die Eltern fragen, was geschieht, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu pflegen. Das heißt, die Begründung des Antrages der Fraktion DIE LINKE ist eine reale Zustandsbeschreibung.

Die Aufhebung des Erlasses in Gänze ist für uns nicht notwendig. Aber der Erlass ist dringend zu überarbeiten. Die Beschreibung der Fördergruppe muss erhalten bleiben. Wir haben uns mit dem Änderungsantrag erst einmal auf die Fördergruppen konzentriert. Aber auch das hat Kollegin Lüddemann schon gesagt: Früher oder später trifft es ja für alle Menschen mit Behinderung zu, die in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten und noch in der eigenen Häuslichkeit betreut werden.

Wie ist die Situation? - Wir wissen es nicht genau. Einige Träger im Land haben bereits mit der Sozialagentur verhandelt. Wie ich gehört habe, ist es in Quedlinburg gelungen, ein ambulant betreutes Wohnen mit einem höheren als dem bisher üblichen Tagessatz zu vereinbaren. Es gibt in der Zwischenzeit auch intensiv betreutes Wohnen. Das heißt, einige Angebote gibt es schon. Dort, wo das noch nicht verfügbar ist, sind tatsächlich nur die Wohnheime verfügbar und nur der Leistungstyp 2 a. Das bedeutet, die Betroffenen müssen die Fördergruppe verlassen. Genau das ist die missliche Situation.

Deshalb soll man uns im Ausschuss einmal berichten, warum es nicht möglich ist, an den Werkstätten in den Wohnheimen einige Plätze mit einer speziellen Leistungsvereinbarung und einem entsprechenden Entgelt einzurichten; denn dann hätte man die befürchtete Doppelförderung ausgeschlossen, weil die Tagesstruktur analog zur Werkstatt in der Fördergruppe erfolgt und nur das Wohnen im Wohnheim.

Das heißt also, wir haben einen Bericht gefordert, wie sich die Situation landesweit darstellt. Sie ist sehr differenziert, aber genau weiß das niemand. Wir haben mit dem Änderungsantrag auch gefordert darzulegen, welche Verwaltungsvorschriften außer dem Erlass aus dem Jahr 1993 noch überarbeitet werden müssen, damit die Träger - die Forderung ist uralt - überhaupt in die Lage versetzt werden, Wohnangebote im ambulanten Bereich, und sei es in Form von Wohngruppen, vorzuhalten.

Herr Minister Bischoff, ich habe es sehr wohl gehört und es kommt sicherlich auch in das Protokoll. Sie haben gesagt, dass der Erlass zeitnah überarbeitet wird. Sie haben weiterhin gesagt, dass es jetzt endlich eine Offensive geben wird, ambulant betreute Wohnformen für Menschen mit erhöhtem Förderbedarf einzurichten. Daran werden wir Sie permanent erinnern. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der SPD und von Frau Bull, DIE LINKE)

Danke sehr, Frau Dr. Späthe. - Frau Kollegin Zoschke, Sie können erwidern.