Protokoll der Sitzung vom 30.01.2015

Danke schön. - Kollegin Görke.

Herr Präsident! Herr Minister, Sie kritisierten Frau Dirlichs Aussage, wonach Hartz IV bedeutet, dass Armut per Gesetz verordnet wird. Aber ist es nicht um ein Vielfaches zynischer, den namensgebenden Berater zu holen, der nicht einmal in die Nähe der Lebensverhältnisse derer kam, die er reformieren will? Ist es nicht sehr viel zynischer, über Menschen zu reden, deren Einkommensgrößen man als Beraterriege nicht einmal tangiert? Haben Sie sich einmal vorgestellt, wie sich die Leute dabei fühlen? - Noch heute sagen wir alle „Hartz IV“. Das empfinde ich als sehr viel zynischer.

(Unruhe bei der SPD)

Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, was zynischer ist. Ich glaube, auch wir Abgeordnete - und zwar aller Fraktionen, die hier sitzen - haben mit Menschen zu tun, die negative Erfahrungen mit dem Arbeitsamt gemacht haben - diejenigen, die positive Erfahrungen haben, beschweren sich nicht unbedingt -, die wir begleiten mussten. Denn manchmal sind die Menschen, die in den Agenturen arbeiten, ein Stück weit arrogant und behandeln die anderen komisch bzw. sehr eigenartig.

Das halte auch ich für ein Problem. Viele von Ihnen begleiten diese Menschen oder vermitteln ein bisschen, weil Abgeordnete eine andere Stellung haben. Dafür bedanke ich mich übrigens ausdrücklich. Das ist eine Riesenunterstützung.

Das ist auch eines der Probleme, das mich bedrückt, wenn nämlich der Umgang mit diesen Menschen nicht mehr der Menschenwürde entspricht. Das hängt oft von den Menschen ab, die vor Ort arbeiten. Darauf kann man nur vehement reagieren.

Ich gebe offen zu - das ist meine persönliche Meinung -, ich hätte den Namen Hartz IV nicht verwendet, schon gar nicht, wenn jemand aus der Wirtschaft kommt. Wahrscheinlich auch deswegen haben die Sozialdemokraten mit Schröder die letzten Jahre gehadert. Das haben Sie auch mitbekommen.

Ich denke, es war damals die Überzeugung auch des Bundeskanzlers, dem gute Beziehungen zur Wirtschaft nachgesagt wurden - Stichwort „Genosse der Bosse“ und Ähnliches -, dass man mit guten Beziehungen zur Wirtschaft - deshalb auch Peter Hartz - sehr viele Menschen vermitteln kann.

Das mag vielleicht im Westen hingekommen sein. Im Osten hatte das keine Grundlage. Daher ist es mit Sicherheit für manchen schwer zu ertragen, wenn es mit diesem Namen verbunden ist; er muss ja heute noch andere Dinge erleben und für sich regeln.

Mir geht es weniger um den Namen, sondern nur um die Struktur, die dahintersteht. Ich sage weder, es sei ein voller Erfolg gewesen, noch renne ich durch das Land und sage, es gebe nichts anderes. Aber für die Zeit danach und, so meine ich, auch für die heutige Zeit haben wir noch keine anderen durchgreifenden Ideen - jedenfalls wir nicht, vielleicht ist das bei der LINKEN anders -, wie wir das vermitteln und Menschen besser in Arbeit bringen können.

Ich sehe jetzt wirklich die Chance, das, was mit Hartz IV bzw. der Arbeitsmarktreform einmal gewollt wurde, besser, vehementer und zielgerichteter umzusetzen. Dazu müssen wir alle Kraft verwenden. Denn das dient den Menschen in unserem Lande und stärkt die Menschenwürde. Das gilt übrigens auch für alle Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen, wenn wir sie in Zukunft brauchen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Danke schön. Weitere Nachfragen sehe ich nicht. - Wir fahren in der Aussprache fort. Als nächster Redner spricht für die Fraktion der CDU Herr Abgeordneter Rotter.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn Jahre Hartz IV - Arbeitsmarktpolitik und gesellschaftlicher Umbruch. - Ich gebe es ehrlich zu, am Anfang habe ich mich etwas schwer damit getan, mich mit diesem Thema als Gegenstand einer Aktuellen Debatte anzufreunden. Was, bitte schön, soll an zehn Jahren ALG II - außer diesem Jubiläum - aktuell sein?

(Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)

- Warten Sie doch einmal! - Mittlerweile bin ich allerdings der beantragenden Fraktion fast dankbar, gibt sie mir doch die Gelegenheit, ein Thema in den Fokus zu rücken, das mir seit geraumer Zeit sprichwörtlich unter den Nägeln brennt. Dazu aber später mehr.

Ich will hier und jetzt nicht versuchen, die Reform der Arbeitsmarktförderung der damaligen rotgrünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder in allen Einzelheiten zu erläutern. Ich denke, das würde auch den Rahmen meines Redebeitrags sprengen. Ich will auch nicht, versuchen, eine tiefgründige Bewertung der Agenda 2010 und hier ganz speziell der sogenannten Hartz-IV-Reform vorzunehmen. Das mögen andere tun. Das ist sicherlich auch schon getan worden.

Ich möchte hier nur feststellen: So zahlreich wie die unterschiedlichen Gruppen der Betroffenen dieser Reform sind, genauso zahlreich sind die

unterschiedlichen Bewertungen der Auswirkungen dieses Reformprozesses.

Gestatten Sie mir jedoch die Bemerkung: Ich halte den damals gegangenen Schritt, die Arbeitslosenhilfe mit maßgeblichen Teilen der Sozialhilfe zum sogenannten Arbeitslosengeld II zusammenzulegen, für richtig. Meine Damen und Herren! „Fördern und fordern“ - das war damals der richtige Ansatz und ist es auch heute noch.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Bei allen handwerklichen Fehlern, die dieses Reformvorhaben von Anfang an begleitet haben und die zum Teil in der Folgezeit korrigiert werden mussten, war sie richtig und auch erfolgreich. Arbeitsmarktstatistiken belegen dies.

(Zustimmung von Herrn Schröder, CDU)

Sicherlich sieht das nicht jeder so. Der Redebeitrag der Kollegin Dirlich war dafür, so möchte ich sagen, fast ein Paradebeispiel. Aber es ist eigentlich schade, dass Sie, liebe Kollegin Dirlich, die von Herrn Minister Bischoff dargelegten Zahlen, die sicherlich auch Ihnen bekannt sind, vollkommen ausgeblendet haben. Aus meiner Sicht haben Sie sie sogar nicht bloß ausgeblendet, sondern fehlinterpretiert. Denn Sie haben unerwähnt gelassen, dass in den letzten dreieinhalb Jahren die Zahl der ALG-II-Bezieher hier bei uns um 38 000 Menschen zurückgegangen ist. Ich denke, diese Zahl kann sich sehen lassen.

(Beifall bei der CDU)

Liebe Kollegen von der Linksfraktion, fragen Sie doch einfach einmal bei unseren europäischen Nachbarn nach, wie dort die Hartz-IV-Reform beurteilt wird. Minister Bischoff ist vorhin darauf eingegangen. Viele wären froh, die Ergebnisse zu verzeichnen, die wir hier bei uns verzeichnen konnten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einen nicht unwesentlichen Teil der gestrigen Regierungserklärung des Sozialministers nahm der Aspekt der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ein, also folgerichtig auch der Teilhabe an Arbeit. Auch der kürzlich vorgelegte Sozialbericht für unser Bundesland befasst sich damit.

Mit der Einführung des ALG II vor nunmehr zehn Jahren ist die Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Leistungsberechtigte geschaffen worden. Grundgedanke und Ziel sind, den Leistungsberechtigten ein Leben zu gewährleisten, das der Würde des Menschen gerecht wird. Menschenwürdig zu leben, das bedeutet aber auch, Arbeit zu haben und von ihr leben zu können. Darum ist es aus meiner Sicht erforderlich, auch gering Qualifizierten und Langzeitarbeitslosen neue Chancen zu erschließen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit belegen eines ganz deutlich: Der Arbeitsmarkt ist momentan aufnahmefähig wie selten zuvor. Das eröffnet uns ganz neue Chancen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit. Personen, die seit vielen Jahren arbeitslos waren, fanden bisher nur schlecht Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Nicht selten sind persönliche Vermittlungshemmnisse der Grund dafür.

Umso nötiger ist es, gering Qualifizierten und Langzeitarbeitslosen durch passgenaue Qualifizierung und Begleitung Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Wenn uns dies nicht gelingt, besteht die große Gefahr, dass sich Langzeitarbeitslosigkeit weiter verstetigt und Hartz IV zur dauerhaften Existenzgrundlage und zur Normalität für viele wird. Die Abhängigkeit von der staatlichen Grundsicherung wird dann zur alltäglichen persönlichen Lebenserfahrung. Ganze Familien und ganz speziell Kinder werden von dieser Erfahrung geprägt. Arbeitslosigkeit und Hilfebedürftigkeit werden so als ganz normale, gewöhnliche Lebenslage angesehen.

Meine Damen und Herren! Unser besonderes Augenmerk muss daher der Personengruppe langzeitarbeitsloser Menschen gelten, ganz besonders der Gruppe, die nur mit massiver Unterstützung Teilhabe und Integration am Arbeitsmarkt erfahren kann. Darum ist es aus meiner Sicht auch zukünftig absolut erforderlich, einen sogenannten zweiten oder sozialen Arbeitsmarkt zu etablieren.

(Beifall bei der CDU)

Aus meiner Sicht muss es möglich sein, ausreichend viele Stellen zu schaffen, die, ohne in Konkurrenz zu bestehenden Arbeitsplätzen zu treten, eine für die Allgemeinheit sinnvolle und für die Beschäftigten Sinn stiftende Tätigkeit anbieten. Die Bürgerarbeit war der Beweis dafür, dass so etwas möglich ist.

(Beifall bei der CDU)

Aus diesem Grunde will ich meine schon mehrfach geäußerte Forderung nach Fortführung dieses Beschäftigungsmodells an dieser Stelle nochmals ausdrücklich betonen. Deswegen vorhin mein Dank: Die heutige Aktuelle Debatte gibt mir die Gelegenheit dazu.

Meine Damen und Herren! An dieser Stelle möchte ich deshalb nochmals den ausdrücklichen Appell an die Bundesministerin für Arbeit und Soziales richten, schnellstmöglich entsprechende Regelungen zu schaffen. Der Minister hat in seiner Rede auf mögliche weitere wichtige Maßnahmen ansatzweise hingewiesen.

Wenn Sie, Herr Minister, und die Bundesministerin bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen für

die Förderung öffentlich geförderter Beschäftigung, die es ermöglichen soll, passive Mittel für Lohnersatzleistungen in aktive Mittel zur Finanzierung von zumindest befristeter Arbeit umzuwandeln, an etwas Ähnliches wie die Bürgerarbeit denken, so haben Sie uns - ich spreche hier auch für viele meiner Kollegen aus den CDU-Fraktionen anderer Bundesländer - an Ihrer Seite.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin davon überzeugt, dass es weiterhin wichtig ist, Menschen, die kaum eine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben, eine Perspektive zu geben. Es ist allemal besser, aktiv zu sein, als zu Hause zu sitzen und auf ein Jobangebot zu warten. Die Koalitionsverträge sowohl im Land als auch im Bund geben uns die Möglichkeit, den Menschen Perspektiven auf dem ersten und auf einem geförderten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Nutzen wir dies! - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Danke, Kollege Rotter. Von der Kollegin Dirlich gibt es eine Anfrage. Möchten Sie sie beantworten? - Er sagt nicht Ja, aber es sieht so aus. Kollegin Dirlich, bitte.

Ich werde es versuchen.

Die Körpersprache war deutlich. - Jetzt ist es an mir, dankbar zu sein, Herr Rotter. Denn Sie geben mir die Gelegenheit, nachzufragen, an welcher Stelle Sie den sogenannten sozialen Arbeitsmarkt anlegen wollen.

Soweit ich es bisher verstanden habe - diesbezüglich bitte ich um Aufklärung -, wollen Sie in den ersten Arbeitsmarkt fördern, also in Wirtschaftsunternehmen. Wenn das so ist, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt ist, weshalb der sogenannte Beschäftigungszuschuss aus dem SGB II wieder gestrichen wurde. In dieser Fördermaßnahme konnten nämlich Langzeitarbeitslose einen Zuschuss von 75 % oder sogar noch mehr bekommen, wenn sie in Wirtschaftsunternehmen Arbeit bekommen haben. Dieser Beschäftigungszuschuss ist gestrichen worden. Das hat Ihre Regierung getan. Mich würde interessieren, wieso er gestrichen wurde.

Frau Kollegin Dirlich, Sie haben mich nach Rezepten gefragt, wie man meiner Forderung nach Integration in Arbeit und ganz speziell - -

Sie haben den Vorschlag ja entwickelt.

Ja, sicher. Ich bin noch immer der Meinung, dass ein zweiter, sozial geförderter Arbeitsmarkt durchaus richtig ist. Hier ist, wie gesagt, das Modell der Bürgerarbeit aus meiner Sicht ein Erfolgsmodell gewesen, das es verdient, neu aufgelegt zu werden, in welcher Form auch immer. Denn auch Ihnen, Frau Kollegin Dirlich - wir kommen aus ziemlich derselben Region -, dürften doch die Erfolge der Bürgerarbeit bekannt sein. Sie sind an vielen Orten bei uns im Land deutlich sichtbar und vernehmbar. Wenn Sie mit Menschen gesprochen haben, die in Bürgerarbeit eine sinnvolle Arbeit über einen relativ langen Zeitraum hatten, dann werden Sie feststellen, dass sich diese Menschen nach dieser oder einer ähnlich gelagerten Arbeit zurücksehnen.

Ich denke, daran sollten wir intensiv arbeiten. Ich weiß, dass seitens der Bundesregierung bzw. des Bundesministeriums an solchen Modellen gearbeitet wird. Mein Appell heute war dahingehend zu verstehen, dass ich mir wünsche, dass diese Arbeiten schnellstmöglich zu einem greifbaren Ergebnis gerade für die Menschen bei uns, in unserer Region führen. - Danke schön.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Entschuldigung, Herr Kollege Rotter, das ist akustisch, meine ich, schwer bis gar nicht mehr wahrzunehmen.

Entschuldigung.