Statt ein umfassendes Programm zur Seenotrettung zu schaffen, sollen die Boote von sogenannten Schleppern zerstört werden, um Menschen in Zusammenarbeit mit denselben Regimen, die diese Menschen überhaupt erst zur Flucht zwingen, mittels sogenannter Auffangzentren vom Übertritt europäischer Grenzen abzuhalten. - Das ist die europäische Migrationsagenda. Die europäische Migrationsagenda ist die Fortsetzung des Scheiterns mit denselben erwiesenermaßen untauglichen Mitteln.
Meine Damen und Herren! Ich möchte auf eine Bemerkung des Innenministers eingehen, die er bei der Kabinettspressekonferenz in dieser Woche machte und auch vorhin bei der - man kann es so nennen - Generaldebatte zur Großen Anfrage im Zusammenhang mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen; denn diese Bemerkung hat mich, ehrlich gesagt, erschüttert, und zwar völlig fernab der Tatsache, dass wir naturgemäß und üblicherweise nicht denselben Standpunkt einnehmen, Herr Minister.
Sie sagten, ein Ergebnis der Grenzkontrollen sei, dass wir nun wüssten, dass von den 7 000 Menschen, die in den ersten Stunden an der deutschösterreichischen Grenze angekommen sind, etwa die Hälfte keine Ausweispapiere dabei habe und damit nach nationalem Recht abgewiesen werden müssten, nach EU-Richtlinien aber nicht, und dass man dann - auch das sagten Sie bei der Pressekonferenz - auch irgendwann überlegen müsse, ob man nicht die EU-Regeln, die das verhindern oder erschweren, aussetzen müsse.
Mich erschüttert das; denn das heißt nichts anderes, als die Menschen zurück ins Elend in Ungarn zu schicken, zurück auf den landminenverseuchten Weg durch Serbien und Kroatien, zurück in absolute Unsicherheit zu weisen. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Hälfte keinen Pass dabei gehabt haben mag. Nein, natürlich nicht. Diese Menschen haben ganz andere Sachen nicht dabei, zum Beispiel warme Kleidung, Medikamente. Sie haben über lange Zeit kein Essen und kein Trinken, keine lebenswichtige Versorgung. Ich wäre froh, das triebe den Innen
Dass Menschen, die zu einem großen Teil aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak fliehen mussten, keine Ausweispapiere dabeihaben könnten, kann doch niemanden ernsthaft überraschen. Es kann doch erst recht nicht dazu führen, dass ihnen die Schutzbedürftigkeit abgesprochen wird. Das ist eine Position, die in keiner Weise etwas daran ändern würde, dass verzweifelte Menschen versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Das ist eine Position, die die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nimmt. Das darf nicht die Position Sachsen-Anhalts sein.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist derzeit Zielland einer Völkerwanderung von Flüchtlingen aus dem Mittleren und Nahen Osten sowie aus vielen Ländern Afrikas, die in unserem Land Sicherheit vor Krieg, Verfolgung und Not oder einfach nur ein besseres Leben suchen.
Die große Hilfsbereitschaft Deutschlands für Flüchtlinge und Asylsuchende, die wirtschaftliche Stärke unseres Landes sowie die im europäischen Vergleich hohen Unterbringungsstandards und Sozialleistungen sind Gründe dafür, dass viele der Menschen, die derzeit die beschwerliche Route über den Balkan wählen, nach Deutschland wollen.
Es ist aber auch klar, dass Deutschland und Schweden diesen Zustrom nicht allein bewältigen können, sondern dass wir eine innereuropäische Solidarität und eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa brauchen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der enorme Andrang von Asylsuchenden und Flüchtlingen ist eine Herausforderung, die eben nur gemeinsam von der Europäischen Union bewältigt werden kann.
Deutschland steht zu seiner humanitären und europäischen Verpflichtung und muss dies auch von den Partnern in Europa verlangen dürfen. Dazu zählt eben auch die Einhaltung der Dublin-III-Verordnung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Im ersten Halbjahr wurden in der Europäischen Union mehr als 430 000 Asylanträge gestellt. Deutschland ist mit mehr als 171 000 Anträgen in der Bearbeitung der einsame Spitzenreiter. In Island waren es 80, in Slowenien 95 und in Estland 115.
Auf der europäischen Ebene müssen schnellstmöglich Lösungen gefunden werden. Wir brauchen eine solidarische und faire Verteilung und Aufnahme schutzbedürftiger Flüchtlinge durch die EU-Mitgliedstaaten. Die Weiterreise muss vermieden werden. Die von Deutschland und Österreich getroffene Ausnahmeentscheidung zur Entlastung von Ungarn muss eine einmalige Ausnahme bleiben.
Wir brauchen eine gemeinsame EU-Liste sicherer Herkunftsländer und eine grundlegende Reform der EU-Asylpolitik mit dem Ziel eines einheitlichen EU-Asylrechts. Wir brauchen eine wirksame Bekämpfung der Schleuserkriminalität, finanzielle Unterstützung für aktuell besonders belastete EUStaaten und, meine Damen und Herren, ein stärkeres Engagement Europas bei der Bekämpfung der Fluchtursachen in den hauptsächlichen Herkunftsländern.
In Deutschland müssen wir aufgrund der aktuellen Prognose folgende Sofortmaßnahmen auf den Weg bringen: Asylverfahren müssen durch zusätzliche Entscheidungskapazitäten beschleunigt werden. Der Kosovo, Albanien und Montenegro müssen als sichere Herkunftsländer bestimmt werden. Die Höchstdauer des Aufenthalts in der Erstaufnahme-Einrichtung muss bis auf sechs Monate verlängert werden.
Für Asylsuchende aus sicheren Herkunftsländern muss sich der Aufenthalt in der ErstaufnahmeEinrichtung bis zum Ende des Verfahrens und der in der Regel darauf folgenden Rückführung verlängern. Wieder eingereiste Folgeantragsteller müssen in der Erstaufnahme-Einrichtung verbleiben. Bargeldbedarf muss in den ErstaufnahmeEinrichtungen so weit wie möglich durch Sachleistungen ersetzt werden. Die Höchstdauer zur Aussetzung der Abschiebung muss von sechs auf drei Monate reduziert werden. Die Sozialleistungen für vollziehbar Ausreisepflichtige müssen reduziert werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der aktuellen Situation sprechen wir nicht mehr über die Herausforderungen der Asyl- und Flüchtlingspolitik, sondern über die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 in Europa, die größte Herausforderung, vor der die EU jemals gestanden hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der LINKEN! Sie wollen durch Ihre Landtagsanträge und durch einen Paradigmenwechsel diese Krise wie folgt lösen: Ein Bleiberecht für alle, Freizügigkeit für Asylsuchende in der Europäischen Union, also freie Wohnortwahl, und die Nichteinstufung der Balkanländer als sichere Herkunftsländer. Dies, meine Damen und Herren, ist kein Krisenmanagement, sondern Utopie.
Das Gebot der Stunde heißt jetzt das Finden von europäischen Lösungen, die Beschleunigung der Asylverfahren einschließlich Rückführungen und
die Beseitigung von Fehlanreizen. All das werden wir auf den Weg bringen. Ich erinnere hierbei insbesondere an die Verständigung der Koalitionsspitzen im Bundestag Anfang September 2015. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön, Kollege Kolze. - Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht nun der Abgeordnete Herr Herbst.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Beitrag von Herrn Kolze wäre ich fast so weit, wieder in die vorherige Debatte einzusteigen. Ich tue es nicht; denn Sie haben zum Schluss einige der Punkte aufgewärmt, die eigentlich in die Debatte vorhin hineingehört hätten, bei denen ich der Meinung bin, dass Sie nicht wirklich verstanden haben, worum es geht, wenn es darum geht, die Chancen, die diese Einwanderungsdebatte, diese Einwanderung im Moment mit sich bringt, richtig zu nutzen.
Sie sprechen von Fehlanreizen. Sie haben ein ganz komisches Wording in der ganzen Debatte, dass alles sozusagen auf Abgrenzung, auf mehr Härte usw. ausgelegt ist. Das zeigt mir, dass Sie nicht wirklich verstanden haben, wo eigentlich die Krux bei der ganzen Sache liegt, was Teil des momentanen Problems ist. Auch der Antrag der Linksfraktion - er nimmt „Dublin“ in den Fokus - ist eben Teil des Problems. Wir sehen nicht erst seit Ungarn, dass es nicht funktioniert.
- dazu komme ich gleich, Herr Schröder -: Okay, dann können wir jetzt nicht mehr nach „Dublin“ abschieben. Das ist völlig richtig; denn es geht tatsächlich nicht. Aber das zeigt doch, dass dieses Grundprinzip nicht tragfähig ist, seit Jahren nicht tragfähig ist. In der Vergangenheit haben Gerichte, etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und Verfassungsgerichte von europäischen Staaten, immer wieder Abschiebungen nach „Dublin“ gekippt, weil sie gesagt haben, das funktioniert so nicht, der Menschenrechtsschutz ist nicht gewährleistet.
Wir wissen das alles, trotzdem halten Sie daran fest. Wenn man Ihre Beschlussempfehlung liest, ist das nicht nur sozusagen das Negieren des Antrages der LINKEN, es ist sozusagen noch eine Portion Zynismus dabei und mehr Härte, indem
Sie neue restriktive Maßnahmen vorschlagen. Deswegen können wir uns diese Beschlussempfehlung auch nicht zu eigen machen, meine Damen und Herren.
Natürlich brauchen wir - ich habe versucht, das in der vorherigen Debatte aufzuzeigen, Herr Schröder -, orientiert an unseren Werten, die uns unsere Verfassung der Bundesrepublik Deutschland vorschreibt, und auch an den Werten, die uns die Europäische Union vorschreibt, einen gemeinsamen Schutzraum, wo wir uns solidarisch, aber entschlossen aufmachen, die Problematik der zu uns fliehenden Menschen in der Größenordnung von Millionen wirklich anzugehen. Ich bin fest davon überzeugt,
dass wir als Europa das schaffen werden. Wenn Sie sich einmal anschauen, was die Länder leisten, die im Moment die größte Bürde tragen - das muss man so sagen; denn das sind arme Länder -, der Libanon und die Türkei, wo Millionen Menschen untergebracht werden, dann kommen Sie zu der Erkenntnis, dass es selbst dann, wenn all diese Menschen hierher - ich meine, nach Europa - kommen würden, doch für das Europa der 28 und für weitere Länder auf dem europäischen Kontinent zu leisten ist.
- Nein, das habe ich nicht gesagt, Herr Schröder. Ich habe, damit Sie einmal die Zahlenrelationen in das Denken einbeziehen, gesagt: Selbst wenn die vier Millionen aus dem Libanon und die sechs Millionen aus der Türkei hierher kommen würden, wäre das eine Herausforderung, die Europa leisten könnte.
- Natürlich Millionen. Diese Länder, die Türkei und der Libanon, müssen doch auch mit den Millionen zurechtkommen. Und die führen nicht solche Debatten, Herr Schröder.
Wir sind eine der reichsten Industrienationen der Welt, die ihren Anteil daran hat, dass die Lage auf der Welt so ist, wie sie ist, dass die Menschen zum Fliehen gezwungen werden.
Deswegen müssen wir auch unserer Verantwortung nachkommen. Sperren Sie sich doch nicht immer dagegen. Deswegen ist diese Debatte zynisch.
(Zuruf von Herrn Lange, DIE LINKE - Herr Kolze, CDU: Das liegt zwar in unserer Ver- antwortung, aber wir können das doch nicht alles leisten!)
- Deswegen, Herr Kolze, leisten Sie das, wozu Sie hier im Land gewählt sind. Leisten Sie doch wenigstens diesen Beitrag.
(Herr Kolze, CDU: Nein! Dann kommen Sie einmal in unseren Wahlkreis! - Weitere Zu- rufe von der CDU)