Protokoll der Sitzung vom 17.09.2015

Nun hat DIE LINKE in ihrem Antrag formuliert, es gehe unter anderem darum, dass die Betroffenen ihr Wissen erweitern und vertiefen können. Genau das ist mir zu wenig. Ich bin jemand, der das Ergebnis gern in den Vordergrund stellt und der sagt: Wir wollen in eine Berufswelt integrieren. Dazu brauchen diejenigen einen Abschluss. Damit sie einen Abschluss bekommen können, brauchen sie Voraussetzungen. Der Weg dorthin muss nicht unnötig viele Stolperstellen haben.

Da wir wissen, dass die Jugendarbeitslosigkeit nicht nur in den Krisenländern ein riesiges Problem ist, sondern auch in Teilen unserer Europäischen Union, und da wir inzwischen gelernt haben, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Dänemark, in Österreich, in Südtirol und in Deutschland deshalb deutlich geringer ist, weil wir das System der dualen Berufsausbildung haben, sollten wir den Studierwilligen diese Erkenntnis nicht vorenthalten.

Wir sollten auch dafür werben, dass möglicherweise höhere, überdurchschnittliche Intelligenz, die eine Studienvoraussetzung ist, kombiniert mit guten sprachlichen Anfangsvoraussetzungen, auch dazu dienen kann, den Weg in die Arbeitswelt über eine Berufsausbildung im Handwerk zu finden, vielleicht auch mit einer späteren Selbständigkeit oder einem Studium; denn unser Bildungssystem ist recht durchlässig. Deshalb wünsche ich mir auch eine Berufsberatung in diesem Zusammenhang und nicht nur eine Studienberatung.

(Unruhe)

- Ich freue mich, dass ich die Gespräche angeregt habe. - Ich bitte um Ihre Zustimmung zu unserem Alternativantrag.

(Zustimmung bei der CDU)

Herr Kollege Lange schüttelt den Kopf - nicht über Herrn Harms, sondern das heißt, dass er nicht noch einmal reden will.

(Heiterkeit bei allen Fraktionen)

Damit treten wir jetzt in das Abstimmungsverfahren ein. Eine Überweisung der Anträge ist nicht beantragt worden. Wir stimmen zunächst über den Ursprungsantrag in der Drs. 6/4356 neu ab. Wer diesem zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Das sind die Oppositionsfraktionen. Wer ist dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Damit ist der Ursprungsantrag abgelehnt worden.

Wir stimmen jetzt über den Alternativantrag in der Drs. 6/4389 ab. Wer stimmt diesem zu? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer ist dagegen? - Niemand. Wer enthält sich der Stimme? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Damit ist der Alternativantrag angenommen worden und der Tagesordnungspunkt 6 ist erledigt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Zweite Beratung

Solidarität in Europa - Faire Chancen für Asylsuchende im „Dublin-Verfahren“ sichern

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 6/3182

Dublin-Übereinkommen überwinden

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 6/4191

Beschlussempfehlung Ausschuss für Inneres und Sport - Drs. 6/4251

Für die Berichterstattung aus dem Ausschuss hat nunmehr Herr Dr. Brachmann das Wort.

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Antrag der Fraktion DIE LINKE in der Drs. 6/3182 mit dem Titel „Solidarität in Europa - Faire Chancen für Asylsuchende im ‚DublinVerfahren‘ sichern“ hat der Landtag in der 68. Sitzung am 19. Juni 2014 zur Beratung und Beschlussfassung in den Ausschuss für Inneres und Sport überwiesen.

In dem Antrag bezieht sich die Fraktion auf die weltweit steigende Anzahl der Menschen - wie gesagt, der Antrag stammt aus dem Jahr 2014 -, die auf der Flucht vor Krieg und bewaffneten Konflikten sind und versuchen, über den gefährlichen Weg über das Mittelmeer Europa zu erreichen, um Sicherheit und Zuflucht zu finden. Die einbringende Fraktion hielt es für geboten, auf der Bundesebene wie auch aus den Bundesländern heraus konkrete Schritte hin zu einem gerechten Verantwortungsteilungssystem innerhalb des EU-Asylsystems zu gehen und allen Betroffenen faire Chancen in einem Asylverfahren zu sichern. - Das war, wie gesagt, im Jahr 2014.

Der Ausschuss für Inneres und Sport befasste sich in der 51. Sitzung am 2. Oktober 2014 erstmals mit dem überwiesenen Antrag. Die Fraktion DIE LINKE beantragte, eine Anhörung durchzuführen. Eine solche fand am 16. Februar 2015 statt, allerdings nicht mehr zu allen Punkten des ursprünglichen Antrages; einige hatten sich bereits erledigt. Zur Anhörung eingeladen waren sowohl die kommunalen Spitzenverbände als auch Vereine, Verbände und Institutionen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führte aus, dass das Dublin-System wie jedes andere System auch, das nach objektiven Kriterien Entscheidungen treffe, Vor- und Nachteile habe, aber, so die damalige Bewertung, alternativlos sei. Es

gab aber auch insbesondere von den Vereinen und Verbänden, die Integrationshilfe leisten, kritische Stimmen zum Dublin-Verfahren.

Nicht ohne Auswirkungen auf die weitere Behandlung der Problematik war sicher die Delegationsreise des Innenausschusses im Juni 2015 nach Sizilien, wo sich die Reiseteilnehmer vor Ort praktisch davon überzeugen konnten, dass die DublinRegelung, wonach das Land für das Asylverfahren zuständig ist, wo die EU betreten wird, angesichts der über das Mittelmeer ankommenden Flüchtlingsströme nicht mehr funktioniert. Der Innenminister ließ sich von Sizilien aus auch presseöffentlich mit dem Satz zitieren: „Die gesamten Dublin-Regelungen sind so nicht haltbar“.

Es musste deshalb auch nicht verwundern, dass die Fraktion DIE LINKE nachlegte. Sie brachte in der darauffolgenden Landtagssitzung am 2. Juli 2015 in der Drs. 6/4191 den Antrag „Dublin-Übereinkommen überwinden“ ein. Er wurde ebenfalls zur Beratung und Beschlussfassung in den Ausschuss für Inneres und Sport überwiesen. Der Antrag zielt darauf ab, den Minister für Inneres und Sport zu bitten, sich auf der Bundesebene und auf der europäischen Ebene für die Überwindung des Dublin-Übereinkommens sowie für ein neues, gegenüber den Asylsuchenden und Flüchtlingen gerechtes System einzusetzen, das auch binneneuropäisch auf eine gerechtere Verteilung gerichtet ist.

Mit beiden Anträgen befasste sich der Innenausschuss in der 65. Sitzung am 9. Juli 2015. Zur Beratung lag ein von den regierungstragenden Fraktionen zu beiden Anträgen erarbeiteter Beschlussvorschlag vor. In dem Beschlussvorschlag wurde unter anderem auf die derzeitige Rechtslage verwiesen, es wurde aber auch die Bitte an die Landesregierung geäußert, sich auf der Bundesebene und auf der europäischen Ebene für die Überprüfung des Dublin-Verfahrens einzusetzen.

Die Fraktion DIE LINKE sprach sich gegen die Erarbeitung einer Beschlussempfehlung zu beiden Anträgen aus. Der Beschlussvorschlag wurde dann von den regierungstragenden Fraktionen mit 6 : 5 : 0 Stimmen beschlossen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war, wie gesagt, am 9. Juli 2015. In der Beschlussempfehlung findet sich vieles, was auch angesichts der dramatischen Bilder und Geschehnisse der letzten Wochen erst recht richtig ist. Ich nenne nur die Stichworte: gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, gerechte Verteilung der Flüchtlinge.

Dort steht aber eben auch, die Landesregierung möge sich auf der Bundes- und der europäischen Ebene für eine Überprüfung des Dublin-Überein

kommens einsetzen. Dazu sind wir inzwischen wohl eines Besseren belehrt worden. Die Geschehnisse der letzten Tage haben das bisherige Dublin-Verfahren ad absurdum geführt. Dazu hat auch die Bundesregierung beigetragen. Ich gehe davon aus, dass das in den folgenden Redebeiträgen eine Rolle spielen wird.

Als Berichterstatter verbleibt mir nur die Aufgabe, um Zustimmung zu der Ihnen in der Drs. 6/4251 vorliegenden Beschlussempfehlung zu bitten. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der SPD)

Danke schön, Kollege Dr. Brachmann. - Eine Aussprache hierzu findet nicht - - Doch, Entschuldigung, natürlich findet sie statt. Dazu soll gesprochen werden. Für die Landesregierung spricht der Innenminister.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat bedarf es einer Diskussion darüber - diese haben wir vorhin sehr eindringlich geführt -, wie wir zukünftig gemeinsam Migration in Europa meistern.

Ich bin der Auffassung - das habe ich schon damals in Palermo gesagt -, dass die Dublin-Vereinbarung nicht mehr zeitgemäß ist, weil wir nicht nur über Asyl sprechen, sondern letztlich auch mit einer Völkerwanderung zurechtkommen müssen. Aber die Umstellung von einem Dublin-Verfahren auf eine gerechtere Verteilung in Europa bedarf zunächst Regelungen. Eine einseitige Aufkündigung der Dublin-Vereinbarung ohne anderweitige Regelungen führt zu einem ungesteuerten Zustrom in ein ganz bestimmtes Mitgliedsland der Europäischen Union.

Wir können das im Moment sehr eindrucksvoll verfolgen. Durch die Zusage der Bundeskanzlerin gegenüber dem ungarischen Präsidenten hat sie faktisch die Dublin-Vereinbarung aufgehoben. Auch das gehört zur Lebenswahrheit. Welche Folgen dies hat, ohne eine Alternative zu haben, erleben wir im Augenblick.

Insofern sage ich: Alles, was getan werden muss, unterliegt gegebenenfalls auch der normativen Kraft des Faktischen, weil man so reagieren und handeln muss, wie es die Situation erfordert, aber der Rest ist mit Bedacht und behutsam zu machen. Denn ansonsten bekommt man das, was man umsetzt, am Ende nicht mehr gesteuert. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der CDU)

Danke schön, Herr Minister. - Es wurde eine Fünfminutendebatte vereinbart. Als Erste spricht Frau Quade für die Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beschlussempfehlung stellt zwar einerseits fest - in der Tat ist das für diese Koalition revolutionär -, dass die Dublin-Verordnung überprüft werden muss,

(Zustimmung von Herrn Czeke, DIE LINKE)

- danke, Harry - aber gleichzeitig wird in der Beschlussempfehlung auch festgestellt, dass die Eurodac-Verordnung für das Funktionieren des gemeinsamen europäischen Asylsystems grundlegend sei und deshalb konsequent angewendet werden müsse.

Unterm Strich heißt das: Wir wissen zwar, dass „Dublin“ nicht funktioniert, es soll aber konsequent angewendet werden. Das ist dann das europäische Asylsystem. - Ich bitte Sie! Welches europäische Asylsystem denn?

(Zustimmung von Herrn Czeke, DIE LINKE)

Das, was wir gerade in Ungarn sehen? Das, bei dem wir sehen, was passiert, wenn sich die Menschen, die in Europa zweifellos schutzberechtigt sind, zu Fuß auf eine Reise begeben müssen, die kreuzgefährlich ist, die sie auszehrt, die sie noch ärmer macht? Das europäische Asylsystem, bei dem wir sehen, was die Menschen erwartet, die mit Tränengas, Wasserwerfern und Schüssen von den europäischen Grenzen ferngehalten werden, die angeblich auch nicht geschlossen sind? Ist es das, was die Menschen, die in Italien oder Griechenland sind, erleben, die keine Unterkunft, keine Verpflegung, keine Versorgung, keine Chance auf ein faires rechtstaatliches Asylverfahren haben? Das soll das europäische Asylsystem sein, dessen Grundlagen nicht angerührt werden dürfen? - Nein. Ich sage Ihnen, das ist es nicht!

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist das europäische System der Abschottung. Das ist das System, das Menschen in die Arme von Schleusern treibt.

Die Überwindung von „Dublin“, die verbindliche Verständigung auf ein System der Verantwortungsteilung in Europa, die Schaffung legaler und sicherer Einreisewege, die europaweite Sicherstellung menschenwürdiger Unterbringung und Versorgung wären die Voraussetzungen für ein europäisches Asylsystem, was wir in der Tat nicht im Landtag von Sachsen-Anhalt zu entscheiden haben - Gott sei Dank nicht. Aber es brauchte eben eine Positionierung auch aus den Ländern.

Genau das tut die vorliegende Beschlussempfehlung nicht wirklich. Sie will - im Gegenteil - auch noch die Maßnahmen der europäischen Migrationsagenda begrüßen.

Nun bin ich wahrlich keine Anhängerin des Systems der Verteilung nach entsprechend festgelegten Quoten. Aber nicht einmal dafür sind die Regelungen der europäischen Migrationsagenda verbindlich vorgesehen.

Statt ein umfassendes Programm zur Seenotrettung zu schaffen, sollen die Boote von sogenannten Schleppern zerstört werden, um Menschen in Zusammenarbeit mit denselben Regimen, die diese Menschen überhaupt erst zur Flucht zwingen, mittels sogenannter Auffangzentren vom Übertritt europäischer Grenzen abzuhalten. - Das ist die europäische Migrationsagenda. Die europäische Migrationsagenda ist die Fortsetzung des Scheiterns mit denselben erwiesenermaßen untauglichen Mitteln.